Was ist (k)eine „vorübergehende Überlassung“ von arbeitenden Menschen? Der Europäische Gerichtshof fällt ein „erfreuliches“ bzw. „enttäuschendes“ Urteil zur Leiharbeit

Die Zahl der Leiharbeiter in Deutschland ist in den vergangenen Jahren bis kurz vor Beginn der Corona-Pandemie gestiegen. Nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit gab es 2013 rund 865.000 Menschen in Leiharbeit, im Jahresschnitt 2018 waren es schon mehr als eine Million. 2020 – im ersten Jahr der Pandemie – sank die Zahl zwischenzeitlich auf gut 740.000, lag aber Mitte 2021 wieder bei mehr als 830.000. Aktuellere Zahlen der Bundesagentur liegen derzeit nicht vor, aus der Branche werden aber weiter steigende Zahlen seit dem Sommer des vergangenen Jahres berichtet.

Bekanntlich ist die Leiharbeit (zuweilen auch als Zeitarbeit bezeichnet oder als Arbeitnehmerüberlassung) seit vielen Jahren in Deutschland immer wieder Gegenstand kontroverser Debatten, die von einem Lobgesang auf diese „flexible“ Beschäftigungsform bis hin zu dem Vorwurf reichen, es handele sich bei Leiharbeit um eine moderne Form des „Sklavenhandels“. Besonders „belastet“ ist diese Form der „Personaldienstleistung“ durch die jahrelangen Auseinandersetzungen über ihre Instrumentalisierung zum Zwecke des Lohndumping und dass sich entleihende Unternehmen über den Entleih ihren eigentlichen Arbeitgeberpflichten entziehen.

Dabei könnte es eigentlich sehr einfach sein: Wenn man nicht grundsätzlich jede Form der Leiharbeit ablehnt, dann wird man sicher Verständnis finden für die Argumentation, dass es durchaus zahlreiche betriebliche Konstellationen geben kann, bei denen ein befristetes Einspringen externer Arbeitskräfte nachvollziehbar ist, um den temporären Ausfall in der Stammbelegschaft zu überbrücken. Oder wenn in einem produzierenden Unternehmen eine absehbar einmalige Auftragsspitze anfällt. Wesensmerkmal einer so verstandenen besonderen Form der befristeten Beschäftigung ist dabei der vorübergehende Charakter der Leiharbeit. Einen Hinweis darauf findet man in der einschlägigen EU-Richtlinie 2008/104/EG vom 19. November 2008: Danach versteht man unter einem »„Leiharbeitnehmer“ einen Arbeitnehmer, der mit einem Leih­arbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen hat oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen ist, um einem entleihenden Unternehmen überlassen zu werden und dort unter dessen Aufsicht und Leitung vorübergehend zu arbei­ten« (Art. 3. Abs. 1). „Vorübergehend“ arbeitet der Leiharbeitnehmer in einem ihn oder sie entleihenden Unternehmen.

Man muss kein Jurist sein, um bei dem in der Richtlinie verwendeten Terminus „vorübergehend“ daran zu denken, dass wir es wieder einmal mit einem unbestimmten Rechtsbegriff zu tun haben, der bei der Anwendung in Streitfällen von Gericht einer Konkretisierung bedarf. Wie lange ist die Überlassung eines Menschen an ein entleihendes Unternehmen noch „vorübergehend“, ab wann aber nicht mehr?

Und man kann die Abgrenzungsproblematik noch weiter entfalten: Die zitierte EU-Richtlinie definiert im Artikel 3 ein „entleihendes Unternehmen“ als »eine natürliche oder juristische Person, in deren Auftrag und unter deren Aufsicht und Lei­tung ein Leiharbeitnehmer vorübergehend arbeitet.« Was bedeutet das genau? Bezieht sich das „vorübergehend“, das auch hier als Definitionsmerkmal auftaucht, auf einen einzelnen Leiharbeitnehmer als Person – oder aber auf einen konkreten Arbeitsplatz in einem Unternehmen, der wenn, dann nur vorübergehend mit Leiharbeitern bestückt werden darf/soll?

Es handelt sich hierbei nicht um Fragen aus dem akademischen Elfenbeinturm, sondern die angesprochene Abgrenzungsproblematik hat es bis hinauf zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) geschafft. Die Richter mussten sich mit dieser Frage beschäftigen:

Wie lange dürfen Leiharbeiter ohne reguläres Anstellungsverhältnis beschäftigt werden?

Schauen wir uns den Sachverhalt an, der dem EuGH aus Deutschland vorgelegt wurde:

➔ Der Kläger war seit dem 1. September 2014 bei einem Leiharbeitsunternehmen beschäftigt. Von diesem Zeitpunkt an bis zum 31. Mai 2019 wurde er – mit Ausnahme eines zweimonatigen Elternurlaubs – ausschließlich Daimler als entleihendem Unternehmen zur Verfügung gestellt, wo er ständig in der Motorenfertigung arbeitete. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts diente die in Rede stehende Beschäftigung nicht der Vertretung eines Arbeitnehmers. Am 27. Juni 2019 erhob der Leiharbeiter beim Arbeitsgericht Berlin eine Klage, mit der er die Feststellung begehrte, dass zwischen Daimler und ihm ein Arbeitsverhältnis besteht. Hierzu machte er u. a. geltend, dass die Überlassung an Daimler wegen ihrer mehr als einjährigen Dauer nicht als „vorübergehend“ eingestuft werden könne. Mit Urteil vom 8. Oktober 2019 wies das Arbeitsgericht Berlin die Klage ab. Am 22. November 2019 legte der Leiharbeitnehmer gegen dieses Urteil Berufung beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg ein. Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, das nationale Recht, mit dem die Richtlinie 2008/104 umgesetzt werde, habe zwar von Anfang an vorgesehen, dass die Überlassung von Arbeitnehmern nur „vorübergehend“ erfolgen könne, doch sei eine maximale Überlassungsdauer erst ab dem 1. April 2017 in das nationale Recht eingeführt worden, die auf 18 Monate festgelegt worden sei. Hiervon könne im Rahmen von Tarifverträgen von Tarifvertragsparteien der betreffenden Branche oder im Rahmen einer aufgrund eines solchen Tarifvertrags getroffenen Betriebs- oder Dienstvereinbarung abgewichen werden. Ebenfalls seit diesem Zeitpunkt sehe die geltende Regelung als Sanktion für den Fall der Überschreitung der maximalen Überlassungsdauer vor, dass ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer als zu Beginn der vorgesehenen Tätigkeit zustande gekommen gelte. Und 2017 wurde ergänzend durch eine Übergangsvorschrift geregelt, dass bei der Berechnung der Überlassungshöchstdauer nur die nach dem 1. April 2017 zurückgelegten Arbeitszeiten berücksichtigt werden dürfen. Außerdem gibt es eine eine Gesamtbetriebsvereinbarung vom 20. September 2017, die für Daimler eine maximal zulässige Überlassungsdauer von 36 Monaten vorsieht. Vor diesem Hintergrund hat das LAG Berlin-Brandenburg geschlussfolgert, dass die Dauer der Überlassung des Klägers bei Daimler nach der in Deutschland geltenden Regelung nicht so angesehen werden kann, als habe sie die in dieser Regelung vorgesehene Höchstdauer überschritten, obwohl sich diese Überlassung über einen Zeitraum von fast fünf Jahren erstreckt habe.

Es sei denn, das Unionsrecht würde das erfordern. Und da war man sich offensichtlich nicht sicher, hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH zur Vorabentscheidung die folgenden Fragen vorgelegt:

1.) Ist die Überlassung eines Leiharbeitnehmers an ein entleihendes Unternehmen schon dann nicht mehr als „vorübergehend“ im Sinne des Art. 1 der Leiharbeitsrichtlinie anzusehen, wenn die Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz erfolgt, der dauerhaft vorhanden ist und der nicht vertretungsweise besetzt wird?
2.) Ist die Überlassung eines Leiharbeitnehmers unterhalb einer Zeitspanne von 55 Monaten als nicht mehr „vorübergehend“ im Sinne von Art. 1 der Richtlinie 2008/104 anzusehen?
Wenn die erste oder die zweite Vorlagefrage bejaht wird:
3.) Besteht für den Leiharbeitnehmer ein Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen, auch wenn das nationale Recht eine solche Sanktion vor dem 1. April 2017 nicht vorsieht?
4.) Verstößt eine nationale Regelung wie § 19 Abs. 2 AÜG dann gegen Art. 1 der Richtlinie 2008/104, wenn sie erstmals ab dem 1. April 2017 eine individuelle Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten vorschreibt, vorangegangene Zeiten der Überlassung aber ausdrücklich unberücksichtigt lässt, wenn bei Berücksichtigung der vorangegangenen Zeiten die Überlassung als nicht mehr vorübergehend zu qualifizieren wäre?
5.) Kann die Ausdehnung der individuellen Überlassungshöchstdauer den Tarifvertragsparteien überlassen werden? Falls dies bejaht wird: Gilt dies auch für Tarifvertragsparteien, die nicht für das Arbeitsverhältnis des betroffenen Leiharbeitnehmers, sondern für die Branche des entleihenden Unternehmens zuständig sind?

Und das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat nun vom EuGH dazu eine Entscheidung bekommen: EuGH, Urteil vom 17.03.2022, C‑232/20. Und diese Entscheidung der Zweiten Kammer des hohen Gerichts hat es in sich. Wie kann man den Tenor des Urteils zusammenfassen? Vielleicht so: »Wer jahrelang als Leiharbeiter den gleichen Job bei einem Unternehmen macht, hat nicht unbedingt Anspruch auf eine Festanstellung bei dieser Firma … In der Entscheidung heißt es, dass „der Leiharbeitnehmer aus dem Unionsrecht kein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen ableiten kann“«, so diese Bericht: EuGH: Zeitarbeiter haben keinen Anspruch auf Festanstellung nach EU-Recht. Der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ) hat sich erfreut mit dieser Mitteilung an diese Presse zu Wort gemeldet: Überlassungszeit orientiert sich an Zeitarbeitnehmer. Darin findet man diese Bilanzierung des iGZ-Hauptgeschäftsführer Werner Stolz: „Das Urteil der Zweiten Kammer bestätigt die iGZ-Verbandsposition, dass sich die Überlassungszeit auf den jeweiligen Zeitarbeitnehmer und nicht auf den Arbeitsplatz beziehen sollte. Erfreulicherweise gibt das Gericht auch weiterhin grünes Licht, von der Überlassungshöchstdauer durch Tarifverträge der Einsatzbranche abzuweichen“. »Im Fokus der Klage stand der in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 genutzte Begriff „vorübergehend“, der sich nach Auffassung des Staatsanwaltes „jedoch nur auf die Zeiten der Überlassung des betreffenden Leiharbeitnehmers bezieht, nicht aber auf den Arbeitsplatz, auf dem er eingesetzt wird.“ Dieser Auffassung schloss sich der Gerichtshof an. Laut Urteil des EuGH können die Vorschriften der Unionsrichtlinien im Bereich des Arbeitsrechts auch durch allgemeinverbindliche Tarifverträge umgesetzt werden. Die Ausdehnung der im deutschen Gesetz vorgesehenen individuellen Überlassungshöchstdauer könne den Tarifvertragsparteien überlassen werden.«

Enttäuscht reagierte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Stefan Körzell, DGB-Vorstandsmitglied, sagte, es sei bedauerlich, dass weiterhin derselbe Arbeitsplatz über längere Zeiträume mit Leiharbeitenden besetzt werden könne.

Der EuGH »wies in seinem Urteil zwar darauf hin, dass es missbräuchlich sein könne, einen solchen Arbeiter jahrelang auf demselben Arbeitsplatz einzusetzen. Es müssten aber auch sämtliche relevanten Umstände, insbesondere Besonderheiten der Branche und nationale Regelungen, berücksichtigt werden«, so diese Meldung: Arbeitgeber sehen sich durch EuGH-Urteil zu Leiharbeitern bestärkt. Deshalb wurde die eigentliche Entscheidung im konkreten Fall auch wieder an das zuständige LAG Berlin-Brandenburg zurücküberwiesen. »Laut EuGH ist die Rede von einem missbräuchlichen Einsatz, wenn mehrere aufeinander folgende Überlassungen des Leiharbeiters bei demselben Unternehmen zu einer so langen Beschäftigungsdauer führen, dass sie länger sei als das im Kontext als vernünftig Anzusehende.«

Aber wann genau ist denn nun eine Beschäftigungsdauer „länger … als das im Kontext als vernünftig Anzusehende“? Der EuGH habe Hinweise für die Auslegung des Merkmals gegeben. Viele entscheidende Fragen bleiben aber offen, so Johanna Keil in ihrem Beitrag Wie lange ist „vor­über­ge­hend“? Der EuGH hat zwar Auslegungshinweise gegeben, den Ball aber zurück an die nationalen Gerichte gespielt.

Das Urteil des EuGH ist zumindest an einigen Stellen konkret: »Zum einen besteht nun Klarheit, dass sich das Merkmal „vorübergehend“ nicht auf den Arbeitsplatz bezieht. Eine solche Einschränkung sei der Leiharbeitsrichtlinie an keiner Stelle zu entnehmen.« Und ein weiterer wichtiger Punkt: »Ein Anspruch des einzelnen Leiharbeitnehmers auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen aus der Leiharbeitsrichtlinie selbst besteht … nicht. Auch dann nicht, wenn entgegen der Verpflichtung nach der Richtlinie die Mitgliedstaaten keine Sanktion für den Fall vorsehen, dass die Überlassung nicht vorübergehend ist.« Und ein dritter Punkt: »Zudem liefert der EuGH folgende Erkenntnis für das nationale Recht: Es sei unionsrechtskonform, den Tarifvertragsparteien die Befugnis einzuräumen, eine Ausdehnung der Überlassungshöchstdauer festzulegen.«

Was aber ist denn nun mit der eigentlich zentrale Ausgangsfrage nach der Operationalisierung des „Vorübergehenden“?

Dazu schriebt Johanna Keil: »Im Hinblick auf die konkrete Beurteilung, wann eine Überlassung nicht mehr „vorübergehend“ sei, bleibt der EuGH jedoch vage und gibt vielmehr die Beurteilungsverantwortung an die nationalen Gerichte ab. Er erteilt lediglich den folgenden unscharfen Hinweis: Ein missbräuchlicher Einsatz aufeinanderfolgender Überlassungen eines Leiharbeitnehmers auf demselben Arbeitsplatz bei demselben entleihenden Unternehmen liege nahe, wenn die Beschäftigungsdauer länger sei, als das, was vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden könne. Dies gelte zumindest dann, wenn keine objektive Erklärung für den Abschluss mehrerer aufeinanderfolgender Leiharbeitsverträge gegeben wird. Dies festzustellen, sei jedoch Sache des vorlegenden Gerichts.« Vor diesem Hintergrund bilanziert Keil zutreffend: »Klarheit schafft das Urteil des EuGH dadurch in dieser entscheidenden Hinsicht leider nicht.«

Nun müsste das beklagte Unternehmen doch einige Sektkorken knallen lassen. Stattdessen kann man so eine eher distanzierte Bewertung lesen: »Mercedes-Benz teilte mit, das Unternehmen begrüße die Gerichtsentscheidung, „dass aus dem Unionsrecht keine Begründung eines Arbeitsverhältnisses folgt“. Es sehe seine Rechtsauffassung bestätigt. Da der EuGH dem Landesarbeitsgericht aber gewisse Ermessensspielräume gegeben habe, bleibe die finale Entscheidung abzuwarten.«

Wo kommt diese skeptisch klingende Einschätzung her?

Dazu findet man in dem Beitrag von Johanna Keil diesen Hinweis: »Im Hinblick auf die Festlegung einer Überlassungshöchstdauer durch mitgliedstaatliches Recht stellte der EuGH fest, dass die Richtlinie eine solche Pflicht zwar nicht vorsehe. Wenn der nationale Gesetzgeber aber eine Dauer festlege, dürfe er nicht gleichzeitig Beurteilungszeiträume vor einem bestimmten Stichtag unberücksichtigt lassen, wenn dies dem Schutz des Leiharbeitnehmers bzw. der Leiharbeitnehmerin die praktische Wirksamkeit nähme.«

Das richtet sich ganz konkret gegen die Übergangsvorschrift des § 19 Abs. 2 AÜG: »Überlassungszeiten vor dem 1. April 2017 werden bei der Berechnung der Überlassungshöchstdauer nach § 1 Absatz 1b und der Berechnung der Überlassungszeiten nach § 8 Absatz 4 Satz 1 nicht berücksichtigt.« Und wir erinnern uns an den Sachverhalt, dass der Kläger vom 1. September 2014 bis zum 31. Mai 2019 bei dem entleihenden Unternehmen tätig war – und damit einige Jahre vor der Neuregelung des AÜG mit der Einführung einer Höchstüberlassungsdauer von grundsätzlich 18 Monaten zum 1. April 2017 und dann noch eine Zeit lang danach. Im vorliegenden Fall muss das LAG Berlin-Brandenburg prüfen, ob entgegen der Übergangsvorschrift im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) dennoch eine Anrechnung der Zeiten, die vor dem 01.04.2017 lagen, vorgenommen werden muss.

Aber das ändert nichts daran, dass das EuGH aus struktureller Sicht hier eine von ver- und entleihenden Unternehmen sicherlich wohlwollend aufgenommene Richtungsentscheidung getroffen hat, was die unionsrechtliche Begrenzung der Schutzfunktion der EU-Richtlinie angeht.

Wie in Deutschland schon vor Jahren die Wichen in Richtung auf sehr lange Überlassungszeiten gestellt wurden

Im deutschen Recht gibt es mit der Reform des AÜG eine Entwicklung, die erklären kann, warum die kritische Einordnung seitens des DGB eher wie eine Pflichtübung daherkommt. So wird Stefan Körzell, DGB-Vorstandsmitglied, mit den Worten zitiert, „es sei bedauerlich, dass weiterhin derselbe Arbeitsplatz über längere Zeiträume mit Leiharbeitenden besetzt werden könne. Eine Festanstellung durch den Entleihbetrieb sei die bessere Lösung.“ Sicher, das wäre es für die Betroffenen. Aber man muss an dieser Stelle einen Beitrag in Erinnerung rufen, der hier am 8. Mai 2019 veröffentlicht wurde: Zwei Jahre nach der Reform der Leiharbeit zeigt sich: Tarifverträge führen nicht immer zu besseren Regelungen. Darin findet man diese Hinweise:

»Mit der (2017 in Kraft getretenen) Reform (des AÜG) wurde festgelegt, dass Leiharbeiter – eigentlich – nach spätestens neun Monaten den gleichen Lohn erhalten wie die Stammbelegschaft im entleihenden Betrieb und sie maximal 18 Monate durchgängig bei demselben Unternehmen eingesetzt werden dürfen. So sollte auch erreicht werden, dass Leiharbeit ausschließlich dazu genutzt wird, zeitlich begrenzte und kurzzeitige Arbeitsspitzen abzudecken … Aus den ursprünglichen 18 Monaten ist das hier geworden:
18 + (ohne Obergrenze) oder (24).«

Wie muss man diese Formel auflösen?

»Wir bekommen also eine „Obergrenze“ von 18 Monaten. Sogleich folgt allerdings die Umsetzung der (+ x)-Öffnungsklausel, denn in einem Tarifvertrag (der Tarifparteien der Einsatzbranche wohlgemerkt) können abweichenden Regelungen und eine längere Einsatzdauer vereinbart werden. Damit gibt es im Fall der tarifvertraglichen Regelung nach oben keine definierte Grenze bei der Überlassungsdauer. Aber es kommt noch „besser“: Diese Option gilt aber nicht nur für tarifgebundene Unternehmen auf der Entleiher-Seite, denn: Im Geltungsbereich eines Tarifvertrages der Einsatzbranche können auch nicht tarifgebundene Entleiher von der Höchstüberlassungsdauer abweichende tarifvertragliche Regelungen durch Betriebs- oder Dienstvereinbarungen übernehmen. Bei denen wird dann aber eine zweite Höchstüberlassungsdauergrenze eingezogen, die bei 24 Monate liegt.«

Ist es nicht eigentlich der Sinn tarifvertraglicher Regelungen, dass damit die Arbeitnehmer besser gestellt werden und gerade nicht schlechter? Man muss sich klar machen: Hier wird durch einen Tarifvertrag eine Abweichung ermöglicht, bei dem sich die betroffenen Leiharbeitnehmer schlechter stellen als würde es nur die gesetzliche Begrenzung auf 18 Monate geben.

Und die Gewerkschaften haben das auch schnell umgesetzt: In der Metall- und Elektroindustrie hat die IG Metall mit den Arbeitgeberverbänden tarifvertragliche Verlängerungen der eigentlichen Höchstüberlassungsdauer vereinbart, die den möglichen Überlassungszeitraum auf vier Jahre ausdehnen. Und auch in anderen Branchen wurde so verfahren.

In einer Antwort der damaligen Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag (Bundestagsdrucksache 19/9779) wurde ausgeführt, dass Tarifverträge die Mindeststandards der Reform aushöhlen, vor allem in Hinblick auf die maximale Verleihdauer. Laut Antwort der Bundesregierung bestanden im April 2019 insgesamt 109 Tarifverträge, in denen die maximale Dauer der Überlassung an ein Unternehmen auf mehr als 18 Monate ausgeweitet wurde. Die Höchstdauer wurde in den Tarifverträgen auf 24 bis zum Teil sogar 120 Monate ausgeweitet. Die beschäftigten Leiharbeitnehmer könnten also abweichend von den in der Reform vorgesehenen 18 Monaten bis zu zehn Jahre in dem gleichen Betrieb eingesetzt werden.