Gerade wenn sich überall die Meldungen über die Rückkehr zu einer „Normalität“ der Vor-Krisen-Zeit auf dem Arbeitsmarkt häufen, lohnt ein genauerer Blick hinter die Kulissen, denn bekanntlich gibt es in derart komplexen Systemen wie den heutigen Arbeitsmärkten Nicht-Betroffene von krisenhaften Entwicklungen, Gewinner und eben auch Verlierer, die oftmals, wenn man nur auf großen Zahlen schaut, in der Schattenwelt der Nicht-Beachtung hängen bleiben.
»Gute Nachrichten auf dem Arbeitsmarkt: Das Vorkrisenniveau ist fast wieder erreicht. Die Zahl der Arbeitslosen lag im Januar nur knapp 40.000 über dem Stand von Januar 2020.« In den zurückliegenden zwei Corona-Jahren gab es zwischenzeitlich 600.000 Arbeitslose mehr als zur Zeit vor der Krise. Das Institut der deutschen Wirtschaft hat aber bereits in der Überschrift Wasser in den Wein gegossen: Arbeitsmarkt: Gewinner und Verlierer der Krise. Zu den Verlierern gehören nicht nur Minijobber und Selbstständige: »Vor allem gibt es deutlich mehr Langzeitarbeitslose als früher. Im vergangenen Monat zählte die Bundesagentur für Arbeit noch 270.000 mehr Langzeitarbeitslose als im Januar 2020.« Auch die Bundesagentur für Arbeit selbst schreibt in ihrem Arbeitsmarktbericht für Januar 2022: »Die Corona-Krise hat zu einer deutlichen Verfestigung der Arbeitslosigkeit geführt. Im Vergleich mit dem Monat vor Einsetzen der Corona-Krise, dem März 2020, hat die Zahl der Langzeitarbeitslosen, also der Personen, die länger als 12 Monate arbeitslos waren, um 281.000 oder 40 Prozent auf 990.000 zugenommen. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist in diesem Zeitraum von 30,3 auf 40,2 Prozent gestiegen.«
Verlassen wir für einen Moment die Vogelperspektive der großen Zahlen und springen auf die kommunale Ebene.
➔ Beispielsweise in die Ruhrgebietsstadt Essen: »Corona hat die Zahl der Langzeitarbeitslosen in Essen in die Höhe getrieben. Das Jobcenter sorgt sich dabei vor allem um zwei Gruppen«, berichtet Janet Lindgens in ihrem Artikel Corona-Verlierer in Essen: Junge Arbeitslose und Ausländer. »Das Jobcenter schaut momentan besonders besorgt auf die Entwicklung bei zwei Gruppen: den jungen Männern und Frauen unter 25 Jahren – abgekürzt U25 – sowie den ausländischen Arbeitslosen. Bei den Jugendlichen gibt es binnen eines Jahres 17 Prozent mehr Langzeitarbeitslose, bei den Ausländern sind es sogar 26 Prozent. Ganz abgrenzen lassen sich beide Gruppen freilich nicht, denn unter den U25-Langzeitarbeitslosen befinden sich auch viele junge Leute mit ausländischem Pass.« Das seien „Effekte der Pandemie“, so der Sozialdezernent Peter Renzel. Fast 600 junge Leute sind in Essen mittlerweile als langzeitarbeitslos geführt. Distanzunterricht und Kontaktbeschränkungen haben ihre Spuren hinterlassen. „Die Jugendlichen sind mit sich allein geblieben und haben sich zurückgezogen“, sagt Renzel. Die Schule, das Jobcenter haben sie vielfach nicht mehr erreicht. »Das Schlimmste aber ist: „Die erzwungene Isolation hat auch zu psychischen Problemen geführt“, weiß Renzel. Schon vor der Pandemie hatte jeder dritte Jugendliche, der Leistungen beim Jobcenter bezieht, psychische Probleme oder gar Erkrankungen. Keine leichten Voraussetzungen, die Betroffenen in eine Ausbildung oder einen Job zu bringen … Auch bei vielen langzeitarbeitslosen Ausländern sind psychische Probleme ein Grund, warum sie sich schwer tun, im Arbeitsmarkt Fuß zufassen. Vor allem aber fehlen ihnen Schul- oder Berufsabschlüsse.« Das wurde verstärkt durch die Zuwanderung von Flüchtlingen, vor allem 2015 und 2016. »Vor der Pandemie versuchte das Jobcenter, die Flüchtlinge über Sprach- und Berufsvorbereitungskurse zu qualifizieren. Doch das ist während der Pandemie kaum gelungen. „Die digitalen Wege waren in dieser Gruppe nicht erfolgreich“, betont Jobcenter-Leiter Dietmar Gutschmidt. Die Folge: Rund 5.700 Ausländer gelten mittlerweile als langzeitarbeitslos, fast 1.200 mehr als im Jahr 2020.« Ein besonderes Problem ist die Arbeitsmarktintegration von Frauen mit Migrationshintergrund. Mit Blick auf die zukünftigen Herausforderungen muss ergänzt werden: Die »Zuwanderung hält an: In den vergangenen Monaten seien durch den Wegfall der Wohnsitzauflage vor allem Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan mit ihren Familien nach Essen gezogen, weil es hier schon Communitys gibt. Auch die Zahl der Flüchtlingszuweisungen ist im Dezember und Januar wieder deutlich gestiegen. Mittlerweile zählt Essen 6.900 Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften aus den acht zugangsstärksten Flüchtlingsländern.«
Der DGB hat genauer hingeschaut: Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit während der Corona-Krise
»Die Zahl Langzeitarbeitslosen hat sich in der Corona-Pandemie deutlich erhöht und die Langzeitarbeitslosigkeit hat sich verfestigt. Der DGB analysiert … die Gründe für diese besorgniserregende Entwicklung und hat dazu u.a. auch eine bei der Bundesagentur für Arbeit in Auftrag gegebene Sonderauswertung ausgewertet.« Herausgekommen ist diese Veröffentlichung:
➔ DGB (2022): Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit während der Corona-Krise, Berlin: DGB Bundesvorstand, Februar 2022
Aus der Zusammenfassung:
➞ Während der Corona-Krise kam es zu einer besorgniserregenden Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit. Zuletzt lässt sich zwar ein leicht positiver Trend beobachten, Ende 2021 sind jedoch immer noch fast 980.000 Personen zwölf Monate oder länger arbeitslos. Der Anteil unter allen Arbeitslosen liegt bei 42 Prozent.
➞ Das Übertrittsrisiko, bei Arbeitslosigkeit langzeitarbeitslos zu werden, lag im Krisenjahr 2021 bei 17,6 Prozent. Rund 120.000 Arbeitslosen drohte im Dezember 2021 weiterhin der Übertritt in die Langzeitarbeitslosigkeit in der nahen Zukunft (zehn bis unter zwölf Monate arbeitslos). Damit liegt der Wert zwar deutlich unter dem Höchstwert während der Corona-Krise im Februar 2021, dennoch zeigt sich die Dringlichkeit, durch individuell zugeschnittene Maßnahmen zusätzliche Langzeitarbeitslosigkeit frühzeitig zu vermeiden.
➞ Handlungsbedarf zeigt sich vor allem im Bereich der Weiterbildung. Denn: 66 Prozent des Anstiegs der Langzeitarbeitslosen gegenüber dem Vorkrisenniveau sind auf Personen ohne Berufsausbildung zurückzuführen. Auch bei den Arbeitslosen im Anforderungsniveau „Helfer“ gab es einen starken Anstieg.
➞ Langzeitarbeitslosigkeit zeichnet sich durch vielfältige Lebenssituationen aus. Das gilt sowohl für den Zeitraum vor als auch nach Eintritt der Corona-Pandemie. Es kann daher keine Patentlösung zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit geben, sondern bedarf individueller und bedarfsgerechter Lösungsansätze.
➞ Für Langzeitarbeitlose gestaltet sich der Weg zurück in den Arbeitsmarkt besonders schwierig. Laut Daten der BA waren sie während der Pandemie mit besonders geringen Abgangschancen konfrontiert und nur ein Bruchteil der Langzeitarbeitslosen hat einen Wechsel in den ersten Arbeitsmarkt geschafft.
➞ Von den nahezu 980.000 Langzeitarbeitlosen im Dezember 2021 fallen knapp 88 Prozent unter den Rechtskreis SGB II. Aber auch im Rechtskreis SGB III ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen merklich angestiegen. Es zeigt sich dementsprechend vor allem im Rechtskreis SGB II, aber auch im SGB III Handlungsbedarf. Es bedarf hier insbesondere der Verhinderung von Wechseln aus dem Versicherungssystem in die Grundsicherung mit Bedürftigkeitsprüfung.
➞ Als wesentliche Gründe für die Verfestigung gelten neben mehr Entlassungen und weniger Beschäftigungsaufnahmen auch die geringere Zahl an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
In der Veröffentlichung des DGB werden die einzelnen Punkte detailliert mit Zahlen hinterlegt und ausführlich erläutert.
Die beunruhigende Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit ist kein singuläres Problem. Auch aus unserem Nachbarland Österreich kommen vergleichbare Meldungen: Arbeitslosigkeit sinkt deutlich, Langzeitarbeitslose haben es weiter schwer. Auf der einen Seite wird herausgestellt, dass die offizielle Arbeitslosigkeit so niedrig sei wie lange nicht mehr. Aber: »Deutlich problematischer ist nach wie vor die Lage für Langzeitarbeitslose. 110.000 Betroffene gibt es derzeit. Verantwortlich dafür ist laut Kocher zum einen ein Mismatch im Qualifikationsniveau. Am Arbeitsmarkt treffe ein hohes Anforderungsprofil der Unternehmen oft auf eine mangelhafte Ausbildung bei den Suchenden; 45 Prozent verfügen über einen Pflichtschulabschluss als höchste Qualifikation. Zum anderen sei rund ein Viertel der Langzeitarbeitslosen durch gesundheitliche Probleme nur bedingt vermittelbar.«
Ob in Österreich oder in Deutschland: Es wird in den kommenden Monaten von weichenstellender Bedeutung sein, ob es gelingt, durch überdurchschnittliche Anstrengungen eine weitere Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern und diese wieder deutlich zu reduzieren – durch einen arbeitsmarktpolitischen Mix aus sinnvoller Qualifizierung bis hin zu einer spürbaren Ausweitung öffentlich geförderter Beschäftigung. Ansonsten ist zu erwarten, dass viele in der Langzeitarbeitslosigkeit und in einer dauerhaften Abhängigkeit von Transferleistungen einzementiert werden, denn das war bereits in den „goldenen Jahren“ vor der Corona-Pandemie auf dem Arbeitsmarkt zu beobachten: Ab einem bestimmten Punkt werden viele Langzeitarbeitslose unabhängig von ihren Fähigkeiten und Motivationen keinen Fuß mehr bekommen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt. Das muss unbedingt im Interesse der Betroffenen, aber auch aus volkswirtschaftlicher Sicht verhindert werden.