Bereits im November 2021 wurde hier im Lichte des damals vereinbarten Koalitionsvertrages der neuen Ampel-Koalition in dem Beitrag Ein klassisches Tauschgeschäft: Der eine bekommt einen höheren Mindestlohn, der andere eine Verfestigung und Ausweitung der Minijobs. Trotz vieler Gegenargumente darauf hingewiesen, dass entsprechend der Gesetzmäßigkeiten der politischen Tauschökonomie für die Umsetzung der Forderung nach einer einmaligen Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde der anderen Seite ein Preis gezahlt werden muss – in diesem Fall die Anhebung der seit Jahren gedeckelten Geringfügigkeitsgrenze, die dazu geführt hat, dass man umgangssprachlich den konkreten Betrag aufgenommen hat und von den „450-Euro-Jobs“ spricht. Da die gesetzliche Lohnuntergrenze selbstverständlich auf für die Minijobs gilt, werden die bei einer festen Geringfügigkeitsgrenze immer unattraktiver und wenn man sie denn nicht abschaffen oder auf einen Kernbereich begrenzen will (der zweite Teil des zu zahlenden Preises für die Mindestlohnerhöhung ist der Verzicht auf eine von vielen seit Jahren geforderte Abschaffung oder starken Begrenzung der Minijobs an sich), dann muss man systematisch bedingt an die Einkommensgrenze ran. Genau das hat man vereinbart, in einem ersten Schritt die Anhebung dieser Grenze auf 520 Euro mit der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro und dann eine automatische Dynamisierung im Gefolge zukünftiger Anpassungen des Mindestlohns.
Nun hat sich die Debatte über das mittlerweile als Referentenentwurf aus dem BMAS vorliegende geplante „Zweite Gesetz zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung“ (Stand: 01.02.2022) vor allem und verständlicherweise festgebissen an der Anhebung der Geringfügigkeitsgrenze und der nachfolgenden automatischen Dynamisierung im Gefolge zukünftiger Mindestlohnanpassungen. Denn damit wird die jahrelange und durch zahlreiche Studien gestützte kritische Diskussion über eine Abschaffung bzw. eine Begrenzung dieser Beschäftigungsform in die Tonne gehauen. Auf der anderen Seite werden viele Arbeitgeber in bestimmten Branchen, in denen sehr viele Minijobber eingesetzt werden (man denke hier an die Gastronomie, den Einzelhandel oder das Reinigungsgewerbe), die „Kompensationsregelung“ für den 12 Euro-Mindestlohn begrüßen, denn sie können nun weiter auf die geringfügige Beschäftigung setzen.
Aber in dem nun vorliegenden Referentenentwurf aus dem Bundesarbeitsministerium ist gleichsam im „Kleingedruckten“ noch eine andere Regelung enthalten, die nun so manchem Arbeitgeber weit über die Frage, ob den 12 Euro Mindestlohn „zu hoch“ sind, umtreiben wird. Die FAZ hat das aufgegriffen unter der flapsigen Überschrift Hubertus Heil ärgert Baufirmen mit neuer Arbeitszeiterfassung: »Elf Branchen sollen bald alle Arbeitszeiten sofort digital erfassen. Fachleute sagen: So geht das nicht – trotzdem droht ein Bußgeld. Und auch die FDP ist irritiert.« Der Vorwurf von Dietrich Creutzburg in dem Artikel lautet: Im Referentenentwurf aus dem Bundesarbeitsministerium »verbirgt sich überdies eine drastische Verschärfung der Arbeitszeit-Dokumentationspflichten für Hunderttausende Betriebe – auch solche, die gar keine Minijobber beschäftigen.« Offensichtlich gibt es hier eine beabsichtigte Neuregelung, die über die Personengruppe der Minijobber weit hinausreicht. Dazu muss man mit Blick auf den bestehenden Zustand wissen: »Bisher müssen die Betriebe die täglichen Arbeitszeiten ihrer Beschäftigten nicht zwingend digital erfassen; und sie haben 7 Tage Zeit, ihre Dokumentation für mögliche Kontrollen durch Zoll- und Arbeitsschutzbehörden zu erstellen.«
Um was genau geht es hier also?
Im vorliegenden Referentenentwurf für ein Zweites Gesetz zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung sind neben den Regelungen die Minijobs (und den Midijobs, hier soll die Höchstgrenze für eine Beschäftigung im Übergangsbereich von monatlich 1.300 Euro auf 1.600 Euro angehoben werden) auch Änderungen des Mindestlohngesetzes, des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes sowie des Gesetzes zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft enthalten. Genau hier verbergen sich die angesprochenen Neuregelungen die Arbeitszeiterfassung betreffend.
Dazu kann man dem allgemeinen Begründungstext des Referentenentwurfs entnehmen:
Die Regelungen zur Geringfügigkeitsgrenze (sowie zu den Midijobs) »werden flankiert durch Maßnahmen zur verbesserten Durchsetzung des Arbeitsrechts bei Minijobs.« Und wie will man das Arbeitsrecht besser durchsetzen?
»Die nach dem MiLoG bestehende Pflicht zur Arbeitszeitaufzeichnung wird modifiziert. Entsprechend der bisherigen Regelung in § 6 Absatz 1 des Gesetzes zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft (GSA Fleisch), sind künftig nach dem MiLoG der Beginn der täglichen Arbeitszeit jeweils unmittelbar bei Arbeitsaufnahme sowie Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch und manipulationssicher aufzuzeichnen und elektronisch aufzubewahren. Die neuen Anforderungen dienen dabei dem Bürokratieabbau durch Digitalisierung sowie der Verhinderung von Manipulationen bei der Arbeitszeitaufzeichnung.
Diese Änderungen werden im Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) und im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) nachgezeichnet; die Regelung im GSA Fleisch wird dadurch obsolet und daher aufgehoben.«
In der folgenden Abbildung ist die Neuregelung im Kontext des bisherigen Rechtsstandes visualisiert:
Ergänzend kann man dem Referentenentwurf entnehmen: »Anknüpfend an die modifizierten Pflichten zur Arbeitszeitaufzeichnung nach dem MiLoG, AEntG und AÜG wird in der Gewerbeordnung (GewO) eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur Bereitstellung der elektronisch erfassten, mindestlohnrelevanten Arbeitszeiten nach Beendigung des Abrechnungszeitraums eingeführt. Daneben hat der Arbeitgeber künftig im Zuge der Entgeltabrechnung über die Höhe des auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Mindestlohns nach MiLoG, AEntG oder AÜG zu informieren.«
Im Entwurf des Bundesarbeitsministeriums heißt es wie bereits zitiert, dass es um „Maßnahmen zur verbesserten Durchsetzung des Arbeitsrechts bei Minijobs“ geht. Aber der Blick auf die Personengruppen, die von der aus dem GSA Fleisch und damit auf die in der Fleischwirtschaft Beschäftigten begrenzten Regelung der Arbeitszeiterfassung nicht nur für die Minijobber gilt (das sind die in § 8 Abs. 1 SGB IV genannten Beschäftigten, zu denen übrigens auch die ausschließlich geringfügig Beschäftigten in Privathaushalten nach § 8a SGB IV gehören), sondern dort wird auch von den Wirtschaftsbereichen oder Wirtschaftszweigen nach § 2a des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes gesprochen. Es handelt sich dabei um diese 11 Branchen:
Insofern ist das tatsächlich eine ganz erhebliche Ausweitung der bestehenden Arbeitszeiterfassungsvorschriften auch für Arbeitnehmer außerhalb der geringfügig Beschäftigten, denn die Verpflichtung, dass der Beginn der täglichen Arbeitszeit jeweils unmittelbar bei Arbeitsaufnahme sowie Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch und manipulationssicher aufzuzeichnen und elektronisch aufzubewahren ist, galt bislang nur für die Beschäftigten in der unter das GSA Fleisch fallenden Teile der Fleischwirtschaft.
Dass die Arbeitgeber in den genannten Branchen (sowie alle Arbeitgeber von Minijobbern) künftig die tägliche Arbeitszeit ihrer Beschäftigten stets sofort und digital dokumentieren müssen, um sie für Kontrollen bereitzuhalten, entspringt den Erfahrungen, die in den vergangenen Jahren in der Kontrollwirklichkeit des Arbeitsschutzes sowie vor allem der Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls, der für die Mindestlohnkontrollen zuständig ist, gemacht werden mussten. Viele Mindestlohnbetrügereien sind aufgrund der möglichen nachträglichen Manipulation von Arbeitszeiterfassungsdokumentationen nicht nachweisbar gewesen. Allerdings bezieht sich die Neuregelung tatsächlich nicht nur auf die Minijobber.
In dem Artikel von Dietrich Creutzburg werden ablehnende Stimmen aus dem Bau- und Ausbaugewerbe zitiert: »Was das im Alltag bedeuten könnte, fasst die Bundesvereinigung der Bauverbände in einer Analyse so zusammen: Es führe zu „juristisch und technisch nicht lösbaren Problemen“. Dennoch „soll die fehlende Erfüllung sofort zur Ordnungswidrigkeit führen“. Betrieben drohten also Bußgelder, falls die Umsetzung nicht bis Oktober gelingt. Nebenbei müssten kurzfristig millionenfach neue mobile Zeiterfassungsgeräte angeschafft werden, zuzüglich Softwarelizenzgebühren. Allein das Bau- und Ausbaugewerbe zählen insgesamt rund 3,4 Millionen Beschäftigte … Das Hauptproblem aus Sicht der Bauwirtschaft liegt darin, dass eine sofortige Erfassung überhaupt nicht zu Tätigkeiten passe, die an häufig wechselnden Orten ausgeübt werden; und dies umso mehr, als der Arbeitgeber dennoch weiter die alleinige Verantwortung für die Richtigkeit der Aufzeichnungen tragen soll. Während sich in Bürogebäuden die Arbeitszeiten der dort tätigen Beschäftigten leicht durch stationäre Erfassungsgeräte dokumentieren lassen, könnte eine Maler-, Fliesenleger- oder Reinigungsfirma kaum an jedem einzelnen Einsatzort solche Geräte betreiben.«
»Aber auch die Vorstellung, dass Beschäftigte ihre Arbeitszeiten einfach per App auf ihrem Handy erfassen, sei nicht realistisch, warnen sie: „Eine Nutzung privater Geräte ist aus IT-Sicherheits- und Datenschutzgründen in der Regel nicht oder eingeschränkt und mit hohem Aufwand möglich“ , zumal diese den geplanten Vorgaben zufolge direkt ans Firmennetzwerk angebunden sein müssten. Und es bleibe unklar, ob die Software auch Schnittstellen für die Kontrollbehörden bieten müsse. Das alles zuverlässig einzurichten sei bis Oktober schon zeitlich „schlicht nicht machbar“.« Hinzu komme: »Laut Rechtsprechung dürften Betriebe eine „technische Einrichtung, die zur Leistungskontrolle geeignet ist“, nur mit Zustimmung des Betriebsrats einführen.«
➔ Das Bundesarbeitsministerium hat sich im vorliegenden Referentenentwurf auch mit der Frage einer zusätzlichen Belastung der Unternehmen beschäftigt – ob die hier zitierten Euro-Beträge stimmen, kann von außen nicht beurteilt werden, aber wir erfahren dabei, dass es sich bei den betroffenen Betrieben nicht um eine zu vernachlässigende Größenordnung geht: »Durch die Änderungen … entsteht ein geschätzter einmaliger Erfüllungsaufwand von rund 465 Mio. Euro. Diesem Umstellungsaufwand stehen laufende Einsparpotentiale der Arbeitgeber von 290 Mio. Euro jährlich durch die aus der elektronischen Arbeitszeitaufzeichnung resultierende Zeitersparnis gegenüber. Es wird auf Grundlage der BA Beschäftigtenstatistik, des Unternehmensregisters des Statistischen Bundesamtes sowie der Studie des IAW „Allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn: seine Kontrolle und Durchsetzung sowie bürokratische Kosten für Arbeitgeber“ geschätzt, dass von den 1,85 Mio. unter den Geltungsbereich der Dokumentationspflichten fallenden Betrieben noch rund 1,5 Mio. Betriebe eine elektronische Zeiterfassung einführen müssten. Betroffen sind vornehmlich kleinere Betriebe, die auf am Markt für sie erhältliche einfachere und mithin günstigere Lösungen zurückgreifen können. Vor diesem Hintergrund wird von einem einmaligen Betrag von im Durchschnitt 300 Euro pro Betrieb für die Einführung ausgegangen.« Interessanterweise tauchen in dem Entwurf nirgendwo explizit die privaten Haushalte als Arbeitgeber geringfügig Beschäftigter auf. Aber auch die fallen (bis zum Beweis des Gegenteils) unter die geplanten digitale Arbeitszeitaufzeichnung.
Für die einen viel zu viel, für die anderen noch nicht weit genug
Dass Betriebe und Wirtschaftsverbände Zeter und Mordio schreien, kann man durchaus nachvollziehen. Aus dem anderen Lager, also den Gewerkschaften, sind ebenfalls kritische Stimmen zu vernehmen. Nur zielt diese Kritik in eine ganz andere Richtung. Dazu aus der Stellungnahme zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung seitens des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) vom 7. Februar 2022:
»Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften erkennen an, dass die bereits bestehenden Pflichten zur Arbeitszeitaufzeichnung nach dem Mindestlohngesetz, dem Arbeitsnehmerüberlassungsgesetz und dem Arbeitnehmerentsendegesetz an den höheren Standard des Gesetzes zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft angeglichen werden.« Soweit das gewerkschaftliche Lob für den Vorstoß aus dem BMAS.
Dann aber:
»Nicht nachvollziehbar ist jedoch, warum die Vorschriften in § 6 Abs. 2 GSA Fleisch (Erfassung der Vor- und Nachbereitungszeiten, insbesondere Rüst-, Umkleide- und Waschzeiten) nicht ebenfalls übernommen werden. Diese wurden auf der Grundlage der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung implementiert, weil es in der Praxis nicht unüblich ist, entgegen der bestehenden Rechtslage fremdnützige Vor- und Nachbereitungshandlungen nicht aufzuzeichnen und sie dementsprechend auch nicht oder jedenfalls nicht hinreichend zu vergüten … Das ist nach der Erfahrung der Gewerkschaften kein Spezifikum der Fleischwirtschaft, sondern betrifft sämtliche vom MiLoG, dem AEntG und dem AÜG erfassten Einsatzbereiche.«
Und es gibt in der Stellungnahme des DGB noch einen anderen Punkt, der sich gegen die Hoffnung richtet, dass man allein mit der nun beabsichtigten Ausweitung der elektronischen und manipulationssicheren Arbeitszeitaufzeichnung unmittelbar bei Arbeitsbeginn Mindestlohnbetrügereien wird verhindern können:
»Besonders bei geringfügig Beschäftigten in kleineren Betrieben besteht die Gefahr, dass die Beschäftigten vor Beginn und nach Ende der erfassten Arbeitszeit unentgeltlich arbeiten, um die arbeitgeberseitig vorgegebenen, aber in der vereinbarten Arbeitszeit nicht erreichbaren Arbeitsziele zu erfüllen. Dies kann auch durch ein elektronisches, manipulationssicheres Arbeitszeiterfassungssystem in vielen Fällen nicht ausgeschlossen werden. Hier ist die Koalition aufgefordert, zu sagen, wie sie den Anforderungen des Koalitionsvertrags gerecht werden will.«
Wird die FDP dem Bundesarbeitsminister Hubertus Heil in die geplanten Parade fahren?
Wenn nun die betroffenen Unternehmen und deren Verbände Schützenhilfe erwarten von „ihrer“ FDP, die ja auch in der Regierung vertreten ist, dann werden sie sich noch gedulden müssen, so zumindest die Hinweise von Dietrich Creutzburg in seinem Artikel Hubertus Heil ärgert Baufirmen mit neuer Arbeitszeiterfassung: »Im Koalitionsvertrag sei zwar auch vereinbart, Verstöße gegen geltendes Arbeitsrecht durch „effektivere Rechtsdurchsetzung“ zu verhindern, stellte FDP-Arbeitsmarktfachmann Pascal Kober … klar. Und es sei vereinbart, „Abläufe und Regeln zu vereinfachen“, um Unternehmern mehr Zeit für ihre eigentlichen Aufgaben zu verschaffen. „Die Einführung neuer Dokumentationspflichten wäre insofern erklärungsbedürftig“, stellte Kober fest. Offen blieb zunächst, inwieweit die FDP ihre Zustimmung zum höheren Mindestlohn an eine Lösung dieser Fragen knüpft.«