„Uber-Nurses“? In Kalifornien könnte die App-basierte Personalvermittlung von „selbstständigen“ Pflegekräften Wirklichkeit werden

Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an diese Volksabstimmung im US-amerikanischen Bundesstaat Kalifornien: Parallel zur Wahl des Präsidenten im November 2020 haben die Kalifornier auch über die Zukunft von Uber und Co. abgestimmt. Das Ergebnis: Sie müssen ihre Fahrer weiterhin nicht fest anstellen. »Die Fahrdienstanbieter Uber und Lyft sowie die Lieferdienste Doordash und Postmates haben im Rahmen einer Volksabstimmung im US-Bundesstaat Kalifornien ein Gesetz gekippt, das Fahrern auf ihren Plattformen den Status von Mitarbeitern zusprach«, berichtete Jana Kugoth unter der Überschrift Uber und Co. müssen Fahrer nicht anstellen. 58 Prozent hatten sich dafür ausgesprochen, die Fahrer als Selbstständige zu behandeln, knapp 42 Prozent waren dagegen. »Die Signalwirkung dieser Abstimmung dürfte weit über die Grenzen des Bundesstaates hinausgehen.«

Die „Proposition 22“ war die von Konzernen vorangetriebene und finanzierte Reaktion auf ein bereits in Kraft getretenes Gesetz. Darin verpflichtete die kalifornische Regierung die Unternehmen dazu, die auf der Plattform registrierten unabhängigen Auftragnehmer regulär anzustellen. Sie sollten damit den Anspruch auf Zusatzleistungen wie Urlaub und Arbeitslosenversicherung bekommen. Das Ergebnis des Referendums zugunsten der Plattformbetreiber war speziell in Kalifornien überraschend – die dort eigentlich dominierenden Demokraten hatten sich vor der Abstimmung klar gegen Uber, Lyft und die anderen Anbietern gestellt. Ein Gericht des Bundesstaates hat dann später das Abstimmungsergebnis für verfassungswidrig erklärt, wogegen die Konzerne, die hinter der „Prop 22“ stehen, Berufung eingelegt haben.

Unter den damals Betroffenen gab es keine einheitliche Linie, berichtete Jana Kugoth: »Unter den Fahrern selbst war der Vorstoß umstritten. Während die einen die von den Techkonzernen initiierte Volksabstimmung unterstützen, weil sie ihre Flexibilität bedroht sahen, hofften andere, dass sie abgelehnt wird.« Das Ergebnis der Abstimmung war – zu welchem Anteil auch immer – beeinflusst von dem erheblichen monetären Ungleichgewicht der beiden Lager: »Beobachter alarmiert das Votum zugunsten der Plattformbetreiber. Sie glauben, dass vor allem die aggressive und mit mehr als 200 Millionen US-Dollar finanzierte PR-Kampagne den Techkonzernen zum Erfolg verholfen hat. Über Social-Media-Posts, TV- und Youtube-Werbung versuchten die Anbieter, die Zustimmung der Wähler zu gewinnen. Dagegen standen die 20 Millionen US-Dollar der Gewerkschaften, die unter anderem auf Flyern und Plakaten zum „Nein“ gegen das Referendum aufriefen.«

Wie dem auch sei – offensichtlich hat man Geschmack gefunden an dem Erfolg beim „Prop 22“ und will auf der gleichen Rutschbahn nun einen anderen Teilbereich des Arbeitsmarktes aufrollen: die Pflege.

Nach dem Vorbild von Proposition 22 zielt ein Abstimmungsvorschlag in Kalifornien darauf ab, App-basierten Beschäftigten im Gesundheitswesen den Arbeitnehmerstatus zu entziehen. Das Silicon Valley will wieder einmal Apps und die darüber vermakelten Beschäftigten von den Arbeitsgesetzen ausnehmen. Das berichtet Alex N. Press in seinem Artikel “Uber for Nurses” May Soon Be on the Ballot in California. Aber diesmal müsste die Kapital-Seite einen wesentlich härteren Kampf führen müssen, um das durchzudrücken, denn die Pflege ist eine ganz andere Hausnummer und ein weitgehend anders wahrgenommener Bereich als das Biotop der Uber & Co.-Fahrer.

(Nicht nur) Corona-bedingt steckt das Gesundheitswesen in einer schweren Krise. Fast jeder fünfte Beschäftigte hat seit Beginn der Pandemie den Beruf ganz aufgegeben, allein im Dezember 2021 haben mehr als 500.000 Beschäftigte im Gesundheitswesen gekündigt, so Press in seinem Artikel.

»Doch für das Kapital bietet die Krise auch eine Chance. Mit der explosionsartigen Zunahme der Vertragsarbeit, vor allem von reisenden Krankenschwestern und -pflegern, die mit befristeten Verträgen von einer Einrichtung zur nächsten ziehen – die Pandemie hat die Gehälter der Reisenden in die Höhe schnellen lassen -, sehen die Arbeitgeber eine Chance, die Arbeit im Gesundheitswesen in ein Gig-Modell umzugestalten. Von Risikokapitalgebern unterstützte Start-ups treiben seit langem die Umwandlung von festen Arbeitsverhältnissen in prekäre unabhängige Arbeitsverhältnisse voran – Uber und Lyft sind nur die bekanntesten Beispiele. Jetzt kommt der Vorstoß in die am schnellsten wachsende Branche des Landes: die Gesundheitsversorgung.«

Ein Ende letzten Monats beim kalifornischen Justizministerium eingereichter Initiativvorschlag zielt darauf ab, die Wähler des Bundesstaates um Zustimmung zu bitten, Pflegekräfte und andere Beschäftigte im Gesundheitswesen, die über Apps Arbeit finden, als unabhängige Auftragnehmer einzustufen – eine von App-basierten Arbeitgebern seit langem angestrebte Veränderung. Die Finanzierung solcher Apps hat exponentiell zugenommen, da die Einrichtungen des Gesundheitswesens immer ausgreifender suchen müssen, um vorübergehend Löcher in ihrem Personalbestand zu stopfen. Zu diesem Vorstoß auch der Beitrag ‘Uber for nurses?’: Initiative targets healthcare for a ‘gig work’ law von Levi Sumagaysay.

Man wird jetzt nicht wirklich überrascht sein, wenn darauf hingewiesen wird, dass die Anwaltskanzlei, die hinter dem die Beschäftigten im Gesundheitswesen betreffenden Initiativvorschlag für eine Volksabstimmung die gleiche ist, die auch das „Proposition 22“-Vorhaben „betreut“ hat. Die finanziellen Unterstützer von „Californians for Equitable Healthcare Access“, der Interessengruppe hinter der neuen Wahlinitiative, sind noch nicht bekannt. Wenn sich die Initiative qualifizieren sollte, dann würde ihr Vorstoß im November 2022 zur Abstimmung gestellt werden.

➔ Die Firma Nielsen Merksamer verdiente mindestens zwei Millionen Dollar für ihre Arbeit an der Proposition 22-Kampagne in Kalifornien, wie aus den Aufzeichnungen der Kampagnenfinanzierung hervorgeht. Die Firma vertritt auch die „Protect App-Based Drivers & Services Coalition“, die Gruppe, die von Uber, Lyft und den anderen großen Gig-Firmen unterstützt wird, bei ihrer Berufung gegen die Entscheidung eines Richters im vergangenen Jahr, mit der die Proposition 22 für verfassungswidrig erklärt wurde, berichtet Levi Sumagaysay.

»Der Vorstoß zur Neueinstufung von App-basiertem Gesundheitspersonal befasst sich mit den bestehenden Problemen, die die Beschäftigten aus dem Feld treiben, und fragt: „Was wäre, wenn wir es schlimmer machen würden?“ Es ist kein Geheimnis, warum diese Arbeitnehmer die Nase voll haben: Insbesondere gewinnorientierte Krankenhäuser sind zu einem schlanken Personalmodell übergegangen, bei dem in jeder Schicht zu wenige Arbeitnehmer eingesetzt werden, um die Arbeitskosten, die etwa die Hälfte des Krankenhausbudgets ausmachen, zu minimieren. Anstatt diese Arbeitsplätze durch eine Erhöhung der Vergütung und des Personalbestands zu stabilisieren, wird das Risiko weiter auf die Beschäftigten im Gesundheitswesen abgewälzt, was Stress und Burnout eher fördert als mindert«, so Alex N. Press.

Und Levi Sumagaysay weist darauf hin: Die Initiative wird in einer Zeit platziert, in der Risikokapitalgeber Millionen von Dollar in neue Personalvermittlungsplattformen für das Gesundheitswesen investieren, von denen einige ähnlich wie die beliebten On-Demand-Apps funktionieren – und in der Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen darum kämpfen, Pflegekräfte und andere medizinische Fachkräfte zu halten, die aufgrund der Coronavirus-Pandemie ausgebrannt sind. Das wäre auch ein Formenwandel selbst der bislang entstandenen neuen, app-basierten Personalvermittlungsagenturen:

➔ Beispiel: Trusted Health, ein in San Francisco ansässiges Start-up-Unternehmen, das vor kurzem 149 Millionen Dollar an Risikokapital erhalten hat, vermittelt Pflegekräfte an Stellen im ganzen Land, indem es sie Profile auf seiner Website erstellen lässt und ihnen Gehaltsrechner, Leitfäden für die Zulassung und mehr bietet. Aber wie viele traditionelle Personalvermittlungsagenturen stellt das Unternehmen Pflegekräfte als Angestellte mit einer betrieblichen Krankenversicherung ein, nicht als „unabhängige“ (bei uns würde man sagen: scheinselbstständige) Auftragnehmer. Sarah Gray, Gründerin des Unternehmens, wird mit diesen Worten zitiert: „Krankenpflege unterscheidet sich grundlegend von Gig-Arbeit. Es gibt eine hohe Eintrittsbarriere. Es handelt sich um eine professionelle Karriere, und um diese Karriere aufrechtzuerhalten und eine qualitativ hochwertige Pflege zu bieten, müssen die Krankenschwestern und Krankenpfleger selbst über eine angemessene Versorgung in Form von Sozialleistungen verfügen.“

➔ Und was ein solcher Formenwandel von der abhängigen Beschäftigung hin zu einer solo-selbstständigen Arbeit bedeuten könnte, wird an diesen Ausführungen erkennbar: »Melissa McDonald ist seit mehr als zehn Jahren als Krankenschwester auf Reisen und hat für 30 Krankenhäuser im ganzen Land gearbeitet. Sie hat in Oakland, Kalifornien, eine Stelle als Krankenschwester auf Abruf, findet aber auch zusätzliche Arbeit über größere Agenturen, die mit Personalvermittlern zusammenarbeiten, und über neuere Plattformen wie Trusted Health, Go RN und andere. McDonald sagt, dass sie gerne als reisende Krankenschwester arbeitet, weil sie „Bindungsprobleme“ hat und es vorzieht, sich aus der Krankenhauspolitik herauszuhalten. Sie war bei ihren Einsätzen als … Angestellte tätig und sagt, dass reisende Krankenschwestern, wenn sie unabhängige Unternehmer werden sollten, wissen sollten, was auf sie zukommt. „Ich hatte Freunde, die am Ende 20.000 bis 30.000 Dollar an Steuern schuldeten“, weil sie nicht richtig geplant hatten, sagte McDonald. Sie fügte hinzu, dass eine selbstständige Krankenschwester auch eine Versicherung gegen Kunstfehler abschließen und „sicherstellen muss, dass sie so entlohnt wird, wie sie sollte, weil sie keinen Schutz hat“.«

Der Hinweis auf die vielgestaltigen Risiken wird unterstrichen von Catherine Fisk, die Arbeitsrecht an der UC Berkeley lehrt: „Was Prop. 22 bewirkt hat, ist die Verlagerung aller Risiken von Verletzungen/Krankheiten am Arbeitsplatz, Nachfrageschwäche, Arbeitslosigkeit usw. von den Unternehmen auf die Arbeitnehmer. Und es gibt keinen Grund zu glauben, dass dies anders sein wird.“ Wenn der Ansatz auf Beschäftigte im Gesundheitswesen übertragen werden sollte. “Uber for nurses?” Für Catherine Fisk ist die Antwort klar: “What a terrible idea.” Und Veena Dubal, Rechtsprofessorin an der UC Hastings, sieht die vorgeschlagene Initiative als „einen riesigen gewerkschaftsfeindlichen Schachzug der Venture Capital-Industrie“. „Aufgrund des Venture Capital-Geldes haben sie die Möglichkeit, es am Anfang wirklich attraktiv aussehen zu lassen. Eine Krankenschwester könnte sagen: ‚Ich habe meine 12-Stunden-Schichten satt, ich werde meinen Job im Krankenhaus kündigen.‘ Diese Unternehmen bieten große Geldbeträge im Voraus … und locken die Leute dann in diesen Lebensstil.“

Obwohl es in den Vereinigten Staaten mehr examinierte Pflegefachkräfte gibt als je zuvor, stellen die Krankenhäuser sie nicht in dem erforderlichen Umfang ein. Und diejenigen, die in dem bestehenden Mangel-System überbeschäftigt sind, haben das unerträgliche Gefühl, dass von ihnen verlangt wird, die Patienten unzureichend zu versorgen. Wollte man die Situation tatsächlich verbessern, würde dies kurzfristig gesetzliche Lösungen bedeuten, wie z. B. sichere Personalquoten, die die Anzahl der Patienten begrenzen, mit denen eine Pflegekraft betraut werden kann. In Kalifornien gibt es ein solches Gesetz, das zu besseren Ergebnissen sowohl für die Patienten als auch für das Pflegepersonal geführt hat. Ähnliche Gesetzentwürfe sind in Pennsylvania und Illinois anhängig; in Massachusetts wurde ein Gesetz zur sicheren Personalbesetzung 2018 nach einer 25 Millionen Dollar schweren Kampagne der Krankenhauslobby abgelehnt.

➔ Am stärksten ausgeprägt ist die Regulierung demnach in den USA und Australien. In Kalifornien sind sogenannte Nurse-to-Patient-Ratios für ein breites Spektrum an Krankenhausstationen, Notaufnahmen und Kreißsälen gesetzlich verankert, in Massachusetts für Intensivstationen. Dabei gelten je nach Versorgungsstufe und Schicht unterschiedliche Quoten. In Australien gibt es in zwei Bundesstaaten gesetzliche Vorgaben, in den übrigen Bundestaaten ist die Personalbemessung in tarifvertraglichen Vereinbarungen geregelt, die den Pflegedienst fast komplett abdecken. Aber: Die gesetzlich vorgegebenen Personalschlüssel sind lediglich ein Minimum. Darauf wurde auch in dieser Studie hingewiesen: Michael Simon und Sandra Mehmecke (2017): Nurse-to-Patient Ratios: Ein internationaler Überblick über staatliche Vorgaben zu einer Mindestbesetzung im Pflegedienst der Krankenhäuser, Düsseldorf 2017.)

Mit der anvisierten Einführung des Uber-Gesetzes für Gesundheitsberufe in Kalifornien kommt es zu einem Konflikt mit den gewerkschaftlich organisierten Pflegekräfte des Bundesstaates. Die Fahrer von Gig-Unternehmen wie Uber waren nicht annähernd so organisiert wie die Gesundheitsberufe, was es den Befürwortern von Prop 22 leichter gemacht hat, die Debatte in ihre Richtung zu monopolisieren. Renée Saldaña, eine Sprecherin der SEIU-United Healthcare Workers (SEIU-UHW) West, einer Gewerkschaft von mehr als 100.000 Beschäftigten im Gesundheitswesen, wird mit diesen Worten zitiert: „Diese vorgeschlagene Initiative scheint die denkbar schlechteste Idee inmitten einer Pandemie zu sein. Sie würde die Arbeitsplätze der Pflegekräfte an vorderster Front, auf die wir angewiesen sind, weiter entwerten“.

Bei den Gesundheitsberufen mag man also zu der Einschätzung gelangen, dass hier der Widerstand größer sein wird als bei den Uber & Co.-Fahrern. Aber man sollte nicht aus den Augen verlieren, dass neben dem vielen Geld, dass hier von interessierter Seite eingesetzt wird, auch die bisherigen Abstimmungsergebnissen in Kalifornien nicht unbedingt gewerkschaftliche oder andere arbeitnehmerorientierte Hoffnungen befördern. So gab es im November 2020 neben der „Proposition 22“ auch eine mit der Nummer 23. Und da ging es ganz konkret um die Personalausstattung im Gesundheitswesen, genauer: einem Teilbereich:

Im November 2020 stimmten die Kalifornier, die zu Wahl gegangen sind, gegen eine Initiative, die vorsah, dass in Dialysekliniken ein Arzt und eine Pflegekraft anwesend sein müssen, wenn Patienten behandelt werden (vgl. dazu Prop. 23, which would have imposed new regulations on dialysis industry, fails). Dies war das zweite Mal, dass die Gewerkschaften versucht haben, die Wähler dazu zu bringen, Dialysekliniken zu regulieren. Sie wurden dabei von DaVita Inc. und Fresenius Medical Care – zwei der größten gewinnorientierten Dialyseanbieter des Landes – mit ganz erheblichen Beträgen bekämpft. Offensichtlich erfolgreich.