Eine Warnung vor steigenden Beiträgen zur Pflegeversicherung? Im bestehenden System und selbst in einer anderen Pflegewelt sind die unausweichlich

»Die gesetzlichen Krankenkassen befürchten, dass die Beträge zur Pflegeversicherung im ersten Halbjahr 2022 steigen werden. Hintergrund ist ein Milliarden-Defizit aus dem vergangenen Jahr. Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, Gernot Kiefer, sagte, es könnte eine Erhöhung von 0,3 Prozentpunkten nötig werden.« Damit beginnt diese vielfach geteilte Meldung: Pflegeversicherung: Krankenkassen befürchten Beitragserhöhung. Die Gesamtausgaben für 2021 seien etwa um knapp zwei Milliarden Euro höher als die Einnahmen gewesen – also gibt es ein Defizit von zwei Milliarden Euro. Dieses Defizit konnte gerade noch durch die Rücklagen ausgeglichen werden, so Gernot Kiefer. Die sind jetzt verfrühstückt und die Pflegeversicherung hat ihre gesetzliche Mindestreserve erreicht. Dann bleibt im bestehenden System ohne Interventionen von außen nichts anderes übrig, als neuen, zusätzlichen Finanzstoff zu besorgen, also die Beiträge an die Pflegeversicherung zu erhöhen.

Dabei ist doch genau das bereits in den vergangenen Jahren mehrmals gemacht worden.

➔ Damit man eine ungefähre Vorstellung bekommt, über welche Größenordnungen wir hier sprechen: In der sozialen Pflegeversicherung gibt es mehr als 73 Mio. Versicherte (hinzu kommen noch mehr als 9,2 Mio. Versicherte in einer privaten Pflegeversicherung. 2020 konnte die soziale Pflegeversicherung 48 Mrd. Euro an Beitragseinnahmen verbuchen, mit sonstigen Einnahmen sprechen wir über ein Mittelvolumen von mehr als 50,6 Mrd. Euro. Dem standen Ausgaben in Höhe von 49,1 Mrd. Euro gegenüber. Der allgemeine Beitragssatz zur Pflegeversicherung liegt derzeit bei 3,05 Prozent des sozialversicherungspflichtigen Einkommens bis zur Beitragsbemessungsgrenze (von derzeit 4.837,50 Euro pro Monat, jeder Euro darüber wird nicht zur Finanzierung herangezogen). Wenn man den Beitragssatz zur Pflegeversicherung um einen Prozentpunkt anheben würde, dann bringt das nach einer Faustformel des Bundesgesundheitsministeriums derzeit gut 16,1 Mrd. Euro an Mehreinnahmen.

Bereits Anfang Januar 2021 konnte man lesen: »Ein Minus von 2,5 Milliarden Euro werde die Pflegeversicherung in diesem Jahr einfahren, warnen die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). Damit wäre der Puffer durch die letzte Beitragserhöhung bereits aufgebraucht.« (Pflegeversicherung steuert auf Defizit von 2,5 Milliarden Euro zu). »Der GKV-Spitzenverband forderte die Regierungskoalition auf, noch vor der Bundestagswahl die Finanzierungsprobleme in der Pflege anzugehen. Ohne eine Reform müssten spätestens 2022 die Beiträge zur Pflegeversicherung steigen.« Und auch eine konkrete Hausnummer wurde genannt: »Nötig sei ein dauerhafter Steuerzuschuss von bis zu neun Milliarden Euro pro Jahr.« Das war Anfang 2021.

Das Defizit 2021 ist Wirklichkeit geworden, die angemahnte Bearbeitung der Finanzierungsprobleme der Pflegeversicherung offensichtlich nicht. Und von einem Steuerzuschuss in Höhe von 9 Mrd. Euro sind wir ganz weit weg. Zumindest eine Milliarde sind es dann im nunmehr vergangenen Jahr geworden, aber lediglich im Sinne eines Stopfens der akuten Löcher. Und erst kurz vor dem Ende der CDU/CSU/SPD-Koalition hat diese noch im Sommer 2021 eine „Pflegereform“ durch das Parlament bugsiert, mit der u.a. verbunden ist, dass der Bund ab 2022 einen dauerhaften jährlichen Zuschuss in Höhe von einer Milliarde Euro an die Pflegekassen leisten wird, ergänzt um eine Erhöhung des Beitragssatzes („nur“) für die Kinderlosen in der Pflegeversicherung (vgl. aber zu einer kritischen Analyse dieser „zusätzlichen“ Mittel den Beitrag Wenn aus 1,4 Milliarden Euro mehr am Ende 400 Millionen weniger werden. Pflegepolitik am Ende (der Legislaturperiode) vom 19. Juni 2021). Und das, was aktuell beklagt wird, also drohende Beitragserhöhungen angesichts der auseinanderlaufenden Einnahmen und Ausgaben, wurde hier bereits Anfang Oktober thematisiert: Die Pflegeversicherung vor der Zahlungsunfähigkeit? Eine Milliarde Euro kann vielleicht das aktuelle Loch stopfen, aber das Grundproblem nicht lösen, so der Beitrag vom 3. Oktober 2021. Dort wurde ausgeführt:

»Die Sorge, dass das bestehende System der Pflegeversicherung, die als Teilleistungsversicherung sogar eine innere „Ausagbenbremse“ hat (weil in diesem System große Ausgabenanstiege einseitig auf die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen und den Staat in Gestalt der kommunalen Sozialhilfe verlagert werden), auf Dauer keinen Bestand haben kann, die wird schon seit vielen Jahren vorgetragen. Weil die Konstruktionslogik des bestehenden Systems dazu führt, dass immer mehr Pflegebedürftigen schlichtweg individuell zahlungsunfähig werden, wenn sie denn pflegerischen Leistungen vor allem im stationären Setting in Anspruch nehmen müssen. Und weil die kommunale Sozialhilfe die Entlastung, die sie mit der Einführung der Pflegeversicherung bewusst erfahren hat, mittlerweile wieder zu verlieren beginnt und bei steigenden Kosten wie die Betroffenen selbst zur Kasse gebeten wird. Und weil die Zahl der Pflegebedürftigen – in welchem Setting diese auch immer versorgt werden – unerbittlich steigt und in den vor uns liegenden Jahren noch massiv weiter ansteigen wird, vor allem mit Blick auf die demografisch bedingte Zunahme an Pflegebedürftigen mit Leistungsansprüchen.«

Allein in den kommenden zehn Jahren geht es nicht nur darum, mehr als vier Millionen Pflegebedürftige wie heute schon zu versorgen – sondern es werden mindestens eine Million, nach neueren Projektionen (vgl. Rothgang/Müller 2021) fast zwei Millionen Menschen mehr sein, die nach den Kriterien des SGB XI pflegebedürftig sind und damit Leistungsansprüche haben. Diese Zahlen muss man natürlich auch vor dem Hintergrund sehen, dass bereits gegenwärtig erhebliche Personallücken in der professionellen Langzeitpflege (im stationären, aber auch zunehmend im ambulanten Bereich) zu beklagen sind – die in Aussicht gestellte Zunahme der Zahl der Pflegebedürftigen macht den zusätzlichen Bedarf an Pflegekräften schon ohne große Rechenanstrengungen in Umrissen erkennbar. Und selbst die aus heutiger Sicht mehr als beunruhigende Abschätzung, dass dem BARMER Pflegereport 2021 zufolge bis zum Jahr 2030 etwa 81.000 Pflegefachkräfte, 87.000 Pflegehilfskräfte mit und 14.000 Pflegehilfskräfte ohne Ausbildung fehlen (wobei man die von Rothgang und Müller unterstellte Bedarfsdeckung vor allem über Hilfskräfte mit guten Argumenten auch mehr als kritisch bewerten kann) und dabei im stationären Bereich die vollständige Umsetzung des Personalbemessungsverfahrens noch gar nicht berücksichtigt wurde, geht rechnerisch nur auf, wenn man eine weitere erhebliche Ausweitung der Versorgung der pflegebedürftigen Menschen durch die „billigste“ Variante der pflegenden Angehörigen in der Kalkulation als gegeben und erwartbar unterstellt, denn ansonsten wäre der zusätzliche Personalbedarf im professionellen und damit weitaus „teureren“ Bereich nochmals deutlich größer.

➔ Dazu erneut ein Blick auf die Vorausberechnungen. Zuerst der Pflegeheim-Rating-Report 2022: Dort wird damit gerechnet, dass die Zahl der pflegebedürftigen Menschen von aktuell rund 4,1 Millionen auf 4,9 Millionen im Jahr 2030 und sogar 5,6 Millionen im Jahr 2040 steigen wird. Dementsprechend würden bis 2040 weitere 322.000 stationäre Pflegeplätze benötigt. Heute leben rund 800.000 Menschen in einer solchen Einrichtung. Auch Rothgang/Müller (2021) gehen davon aus, dass es bis 2040 einen Bedarf an zusätzlichen vollstationären Pflegeheimplätzen in der Größenordnung von +343.000 geben wird, allerdings ist die von ihnen vorhergesagte Zahl der Pflegebedürftigen insgesamt mit 6,4 bis über 6,9 Mio. Pflegebedürftigen deutlich größer als das, was man dem Pflegeheim-Rating-Report entnehmen kann. Offensichtlich gehen Rothgang/Müller davon aus, dass deutlich mehr Pflegebedürftige in Zukunft (weiterhin) zu Hause versorgt werden, entweder alleine oder unter Beteiligung ambulanter Pflegedienste. So rechnet der BARMER Pflegereport damit, dass 2040 gut eine Million Pflegebedürftige mehr als heute ausschließlich alleine von ihren Angehörigen versorgt werden, hinzu kommen mehrere hunderttausend Pflegebedürftige mehr als heute, bei denen ambulante Pflegedienste die Versorgung unterstützen. Sollte das nicht oder in geringerem Maße der Fall sein, würde sich der Bedarf an zusätzlichen Pflegeheimplätzen deutlich erhöhen.

Selbst die in beiden Schätzungen genannte aus heutiger Sicht eher als Untergrenze zu verstehende Größenordnung an zusätzlichen Pflegeheimplätzen von mehr als 320.000 Pflegeheimplätzen, muss a) in den kommenden Jahren gebaut und eingerichtet werden und b) man muss dann auch das damit verbundene Personal finden können. Und es ist eine relativ plausible Annahme, dass man auch bei krassesten (und aus unterschiedlichen Gründen eher nicht plausiblen) Ausformungen des Imports von Arbeitskräften aus dem fernsten Ausland dem immer knapper werdenden Gut Pflegekräfte deutlich höhere Vergütungen wird zahlen müssen, was dann wiederum die Ausgaben der Pflegeversicherung, selbst in der amputierten Form der Teilleistungsversicherung in weitere Höhe treiben wird – dabei ist hier noch nicht einmal explizit aufgerufen, dass der politische Druck des Umbaus der Pflegeversicherung wenn nicht zu einer Voll-, dann wenigstens zu einer echten Teilkaskoversicherung führen könnte/wird, was mit erheblichen Ausgabenverlagerungen zuungunsten der Pflegeversicherung verbunden sein wird. Das ist doch heute schon alles erkennbar. Von daher ist eine „Warnung“ vor einer Beitragssatzsteigerung im bestehenden System eine Weichzeichnung (und Verharmlosung) dessen, was wir an tatsächlichen und so sicher wie das Amen in der Kirche bereits auf dem Tisch liegenden Finanzbedarfen sehen. Und die wird man decken müssen, ob nun über Beitrags- oder Steuermittel – oder aber man verweigert der Langzeitpflege wie ja heute schon an sich notwendige Ressourcen, blockiert budgetbedingt unbedingt erforderliche Verbesserungen der Vergütung und weiterer Komponenten der Arbeitsbedingungen wie vor allem die Personalausstattung und hofft mit einem kräftigen Stoßgebet darauf, dass sich die Leute schon um ihre Angehörigen kümmern werden oder das Problem sonstwie verschwindet.

Allerdings sollte man eine rationale Pflegepolitik nicht auf Stoßgebeten aufbauen.