„Mit diesem Kompromiss können wir leben“. Zum Tarifabschluss im Bauhauptgewerbe

Bei der Diskussion über die Situation beispielsweise in der Pflege wird immer wieder darauf hingewiesen, dass in solchen Arbeitsmarktbereichen, in denen ein Mangel an Personal zu beobachten ist, die Bedingungen für die Arbeitnehmerseite, auch über Arbeitskampfmaßnahmen die eigenen Arbeitsbedingungen zu verbessern, an und für sich hervorragend sind. Man müsste nur …

Aber grau ist alle Theorie. Nicht nur die Schwierigkeiten, in der Pflege die tatsächlich günstigen Voraussetzungen beispielsweise für deutliche Lohnerhöhungen zu nutzen, verweisen darauf, dass es in der Praxis eben nicht so einfach ist, mal eben auch mit einem Streik zu drohen und diesen ggfs. auch durchzuziehen, denn das muss organisiert werden und zahlreiche Hürden sind in Rechnung zu stellen (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Pflegestreik? Zwischen Theorie und Praxis der starken Arme, die theoretisch alles lahmlegen können, praktisch aber mit vielen Hürden konfrontiert werden vom 22. August 2021).

Wenn man nun über Bereiche spricht, bei denen von außen betrachtet hervorragende Bedingungen gegeben sind, um mal einen kräftigen Schluck aus der Pulle zu nehmen, dann darf das Baugewerbe nicht fehlen. Denn dort brummt der Laden, auch im vergangenen ersten Corona-Jahr und in den Monaten des laufenden Jahres wurde weitergebaut und die Nachfrage nach Bauleistungen ist hoch. So legte beispielsweise der Auftragseingang zwischen Januar und Juli 2021 um 4,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu. Seit 2013 wuchs der Jahresumsatz der Branche in jedem Jahr, zuletzt 2020 um 4,9 Prozent. Vor diesem Hintergrund kann man erwarten, dass die Beschäftigten am Bau nun ordentlich was aufs Konto bekommen.

Und im Bauhauptgewerbe – wir sprechen hier über eine bedeutsame Branche mit fast 900.000 Beschäftigten – ist eine Menge Druck im Kessel: »Gewerkschaft und Arbeitgeber haben monatelang ergebnislos verhandelt und stehen sich nun vor der Schlichtung unversöhnlich gegenüber. Streit gibt es vor allem um die oft weiten Wege«, so beginnen Alexander Hagelüken und Stephan Radomsky ihren Bericht von der Bau-Front unter der bezeichnenden Überschrift Am Bau droht der erste große Streik seit 20 Jahren, der am 5. Oktober 2021 veröffentlicht wurde. Offensichtlich passiert hier das, was man erwarten kann von einer an sich boomenden Branche: Die Gewerkschaft langt hin und will endlich die veränderten Kräfteverhältnisse zugunsten der Beschäftigten nutzen, wenn es sein muss, dann eben auch mit einem Arbeitskampf.

»Auf dem Bau geht es früh los, meistens schon um sieben Uhr morgens. Und viele der Arbeiter sind um diese Zeit schon eine ganze Weile unterwegs: 64 Kilometer legen sie im Schnitt von daheim bis zur Baustelle zurück, ergab zuletzt eine Studie im Auftrag der IG Bau. Nun fordert die Gewerkschaft für die Zeit auf der Straße einen besseren Ausgleich von den Arbeitgebern – notfalls per Arbeitskampf: „Ein bundesweiter Streik am Bau ist so wahrscheinlich wie seit 20 Jahren nicht mehr“,« so wird IG-Bau-Chef Robert Feiger in dem Artikel zitiert.

»Seit Mai haben die IG Bau auf der einen und die beiden Arbeitgeberverbände, der Zentralverband Deutsches Baugewerbe (ZDB) und Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB), auf der anderen Seite verhandelt – ohne Ergebnis. Nun soll, wie bereits im vergangenen Jahr, der Präsident des Bundessozialgerichts, Rainer Schlegel, als Schlichter eine Lösung finden. Scheitert er, könnte es zum ersten Mal seit 2002 zu einem bundesweiten Arbeitskampf am Bau kommen.« Und sicherheitshalber schiebt der IG Bau-Vorsitzende Feiger nach: „Und wir wissen, wie Streik geht“.

Die Bauunternehmer wehren sich: »Es sei unwahr, dass die Pendelzeiten zur Baustelle bisher ignoriert würden. Arbeitnehmer erhielten über den sogenannten Bauzuschlag im Schnitt bereits jährlich rund 1000 Euro pauschal für Wegezeiten.«

»Im vergangenen Jahr hatten sich beide Seiten ebenfalls erst in der Schlichtung auf einen neuen Tarifvertrag geeinigt. Damals standen am Ende Lohnsteigerungen von gut zwei Prozent, ein Corona-Bonus von 500 Euro sowie eine Pauschale von 0,5 Prozent des Monatslohns als Entschädigung für die Wegezeiten. Genau hier fordert die IG Bau nun deutliche Verbesserungen: Künftig solle, nach Entfernung gestaffelt, eine bestimmte Zeit zusätzlich zur Arbeit mit dem Tarif-Stundenlohn bezahlt werden. Die Arbeitgeber lehnen das ab, schon weil es zu kompliziert sei, die sich ständig ändernden Wegstrecken richtig zu erfassen. „Die Unternehmen müssen das ja auch organisieren können“, sagte eine Sprecherin.«

Hinzu kommt, auch spannend vor dem Hintergrund der im Zuge der Sondierungen und anstehenden Koalitionsverhandlungen wieder aufgerufenen Mindestlohnthematik: »Am 17.12.20 konnte die IG BAU neue Mindestlöhne für das Bauhauptgewerbe abschließen: Der Mindestlohn I steigt von 12,55 auf 12,85 €/Std., der Mindestlohn II im Westen von 15,40 auf 15,70 €/Std. und in Berlin von 15,25 auf 15,55 €/Std., jew. ab 01.01.21 mit einer Laufzeit bis Ende 2021.«

Aber die Ausgangslage für die Gewerkschaft ist nicht schlecht, denn nicht nur wächst die Branche, sondern die Knappheitssignale auf der Seite des Arbeitsangebots sind nicht zu verkennen: »Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung rechnet damit, dass allein in diesem und im nächsten Jahr insgesamt knapp 100.000 Jobs entstehen. Zugleich hat der Bau ein Nachwuchsproblem: Nach Daten des Bundesinstituts für Berufsbildung bekamen die Betriebe im vergangenen Jahr 30 Prozent der Ausbildungsplätze für Betonbauer, Bodenleger und Gerüstbauer nicht besetzt.« Hinzu käme, dass angeblich etwa die Hälfte der Fachkräfte binnen fünf Jahren nach der Ausbildung die Branche verließen und in andere Berufe wechselten. Hinzu komme, dass viele wegen der schweren körperlichen Arbeit früher in Rente gehen.

Insofern ist die Streikdrohung auf der einen Seite naheliegend – auf der anderen Seite muss man aber auch zur Kenntnis nehmen, dass es nicht umsonst in den vergangenen zwanzig Jahren keinen großen Arbeitskampf gegeben hat. Das hängt zum einen zusammen mit dem Organisationsgrad der Gewerkschaft, also wie viele der Beschäftigten sind überhaupt Mitglied in der Gewerkschaft (und die muss man dann auch mobilisieren können) – ein Problem, das sich in der angesprochenen Pflegebranche, vor allem in der Altenpflege nochmals gravierender zuungunsten der Gewerkschaftsseite und damit zugunsten der Arbeitgeber darstellt. Zum anderen haben wir es mit vielen kleinen Betrieben zu tun in der Baubranche, was einen Streik erschwert. Nicht zu vergessen ist die Konkurrenz durch die vielen osteuropäischen Arbeitnehmer, die auf den deutschen Baustellen werkeln.

Nun aber kann man wenige Tage, nachdem wir mit Meldungen über den möglicherweise ersten großen Streik auf dem Bau seit vielen Jahren konfrontiert wurden, die Transparente und Streikwesten wieder einräumen: »In den Tarifverhandlungen zwischen Arbeitgebern und der IG Bau knirschte es monatelang gewaltig. Eine Entschädigung für lange Anfahrtswege war ein Streitthema. Jetzt haben sich die Tarifpartner auf einen Kompromiss geeinigt«, erfahren wir am 15. Oktober 2021 unter der Überschrift Mehr Geld für Beschäftigte am Bau. »Die etwa 890.000 Beschäftigten der deutschen Bauwirtschaft bekommen mehr Geld. Zudem erhalten sie für die Monate Juli bis Oktober 2021 eine Corona-Prämie von 500 Euro im Westen und 220 Euro im Osten.« Man muss an dieser Stelle nochmals auf die Ausgangsforderung der IG BAU hinweisen: Die Gewerkschaft hatte 5,3 Prozent bei einer Laufzeit von einem Jahr gefordert. Nun bekommen wir bei einer Laufzeit von 33 Monaten Lohnanhebungen in drei Stufen. Die prozentualen Steigerungen im Osten sind dabei jeweils höher als im Westen, wobei die Beschäftigten im Tarifgebiet West zum Ausgleich zusätzlich zwei Einmalzahlungen erhalten. Dieses scheinbar kompliziert daherkommende Manöver muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass man spätestens 2026 den noch bestehenden Lohnunterschied zwischen West und Ost auf Null zurückgeführt haben will.

Und was ist mit dem beschriebenen Knackpunkt, der Entschädigung für lange Wegezeiten? »Die Einigung sieht mit einer pauschalen Regelung auch eine Entschädigung für die oftmals langen Anfahrtswege der Beschäftigten zu ihren Baustellen vor. Die IG Bau hatte die sogenannte Wegezeitenentschädigung zur Bedingung für einen Tarifabschluss gemacht und eine Ausgleichszahlung je nach individuellem Anfahrtsweg gefordert. Die Arbeitgeber wollten darüber zunächst nicht diskutieren.«

Der Tarifabschluss (der aber noch von den Gremien auf Gewerkschafts- wie auf Arbeitgeberseite final beschlossen werden muss) besteht aus mehreren Komponenten – und einer langen Laufzeit:

Die Regelungen zur Entschädigung für lange Anfahrtswege werden in den Bundesrahmentarifvertrag mit einem Sonderkündigungsrecht – erstmals möglich Anfang 2026 – aufgenommen. In dem neuen Tarifvertrag soll festgehalten werden, dass im Jahr 2026 eine hundertprozentige Angleichung der West- und Ost-Einkommen sowie der Ausbildungsvergütungen erreicht sein muss. Jeder Betrieb im Tarifgebiet Ost kann jedoch per Haustarifvertrag auch früher einen Ost-West-Angleich für seine Beschäftigten festlegen.

Die Botschaft aus der Zentrale der Baugewerkschaft klingt nicht wirklich enthusiastisch, aber den Umständen des gefundenen Kompromisses angemessen – der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) Robert Feiger wird mit diesen Worten zitiert: »Unsere Vorstellungen für eine gerechtere Entlohnung der Beschäftigten lagen durchaus höher, aber mit diesem Kompromiss können wir leben. Die Einkommenssteigerung liegt insgesamt über der Inflationsrate, sie ist im Osten durchweg höher als im Westen und kommt somit der angestrebten Gleichstellung erheblich näher und wir haben die Angleichung von Ost- und Westlöhnen endgültig festgeschrieben. Damit ist ein Ende der jetzt über dreißigjährigen Ungleichbehandlung festgelegt. Das war uns wichtig.«

Und was hat die andere Seite bekommen? Was also ist der Kern des Kompromisses? Der ist da zu finden, was bereits bei vielen Tarifabschlüssen in anderen Branchen in den vergangenen Jahren zu beobachten war: lange, sehr lange Laufzeiten und damit verbunden eine entsprechende Sicherheit für die Arbeitgeberseite, dass in dieser Zeit keine neuen Forderungen oder gar Streikmaßnahmen kommen können.

Der Verhandlungsführer der Arbeitgeber und Vizepräsident des Zentralverbands Deutsches Baugewerbe, Uwe Nostitz, sagte: „Wir hatten langwierige und schwierige Verhandlungen mit einer komplizierten und zum Teil auch neuen Materie.“ Bauindustrie-Vizepräsidentin Jutta Beeke ergänzte: „Es ist uns gelungen, ein umfangreiches Paket zu verhandeln und zu einem Ergebnis zu bringen, welches mit einer langen Laufzeit für Planungssicherheit in den Unternehmen sorgen kann.“ Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit von 33 Monaten.

Bis zum Frühjahr 2024 ist nun erst einmal Ruhe auf den Baustellen, egal, wie sich andere Parameter wir beispielsweise die Inflationsrate oder die Nachfrageseite nach Bauleistungen noch entwickeln werden.