Die erste Warnstreikwelle der in der Gewerkschaft GDL organisierten Lokführer bei der Deutschen Bahn haben wir bereits hinter uns, nun rollt die zweite. Auf der einen Seite gibt es viel Kritik an den Arbeitskampfmaßnahmen der kleineren der beiden Gewerkschaften bei der Bahn, aber die GDL scheint anders als die DGB-Gewerkschaft EVG deutlich stärker den klassischen Vorstellungen von gewerkschaftlicher Gegenmacht zu entsprechen.
Immer wieder kann man mit Blick auf „die“ Pflege lesen oder hören, dass es nur dann deutliche Verbesserungen der Arbeitsbedingungen für die Pflegekräfte geben wird, wenn es auch in diesem so bedeutsamen Bereich der Daseinsvorsorge die Drohung, letztendlich auch die Realisierung spürbarer Arbeitsniederlegungen geben wird. Aber „leider“ seien „die“ Pflegekräfte aus ganz unterschiedlichen Gründen dazu nicht bereit oder willens, ihr gewerkschaftlicher Organisationsgrad sei hundsmiserabel, sie stehen sich selbst im Wege hinsichtlich eines Streiks aufgrund dessen, was sie tun – eben nicht irgendwas produzieren oder machen, was man einfach stehen lassen kann.
Zuweilen kommt dann sowas aus der Politik: Nordrhein-Westfalens Gesundheits- und Sozialminister Karl-Josef Laumann wünscht sich mehr kämpferisches Auftreten von Deutschlands Pflegekräften. „Ich wäre froh über einen Lokführer-Moment in der Pflege“ – mit diesen Worten wird der CDU-Politiker zitiert. »Die Beschäftigten in der Pflege müssten sich dringend besser gewerkschaftlich organisieren. Tarifverträge müssten erkämpft werden, erklärte der Bundesvorsitzende der CDU-Sozialausschüsse.«
Und verweilen wir noch einen Moment bei den Einschätzungen des CDU-Politikers: »Laumann sagte, … Pflegende hätten in der Regel eine ausgeprägte Helfermentalität. Diese Aufopferungsbereitschaft lasse diese Menschen leider unter anderem auch in Pflegeheimen weiterarbeiten, wo sie unter Tarif bezahlt würden. In der Selbstverwaltung im Gesundheitssystem seien zum Beispiel Ärzte und Kaufleute von der Anbieterseite vertreten. Deshalb ändere sich nur so schwer etwas im Pflegewesen, „man ist einfach zu schlecht organisiert“.«
Nun läuft vor unseren Augen eine Art Realexperiment ab, bei dem prüfen kann, ob diese Einordnung wirklich stimmt – oder ob es nicht doch vielleicht deutlich komplizierter ist. Ab dem morgigen Montag soll es nämlich so etwas wie einen Pflegestreik geben, in Berlin. Geplant ist ein Warnstreik für Montag bis Mittwoch, also für drei Tage.
In Berlin drohen Pflegekräfte der Charité und der Vivantes-Kliniken mit Streik, sie fordern mehr Personal auf den Stationen. Sollten ab Montag tatsächlich Pflegekräfte in den Ausstand treten, dann werden planbare Operationen verschoben, einige womöglich abgesagt. Die beiden landeseigenen Konzerne könnten weniger Geld von den Krankenkassen erhalten, obwohl sie dringend Mittel brauchen. Trotz Millionen Euro staatlicher Corona-Zuschüsse schlossen die Großkrankenhäuser 2020 im Minus ab, berichtet Hannes Heine in seinem Kommentar mit der bezeichnenden Überschrift Nicht nur wegen der Personalschlüssel – warum der Pflege-Streik in Berlin sinnvoll ist. Spätestens am kommenden Dienstag könnten so viele Pflegekräfte die Arbeit niederlegen, dass Stationen gesperrt werden. In den Vivantes-Tochterfirmen will zudem das Reinigungs- und Küchenpersonal für höhere Löhne streiken (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Die einen sind drin und wollen mehr, die anderen sind draußen, wollen rein und würden mehr bekommen. Anmerkungen zur Zwei-Klassen-Tarifgesellschaft vom 1. Juli 2021).
➔ Um was geht es da in Berlin? Die Streikenden fordern einen „Entlastungstarifvertrag“, also verbindlich mehr Pflegekräfte auf den Stationen von Charité und Vivantes. Zudem soll das Reinigungs-, Transport- und Küchenpersonal in den Vivantes-Tochterfirmen den vollen Tariflohn des öffentlichen Dienstes (TVÖD) erhalten. Bislang bekommen viele der etwa 2.500 Beschäftigten dort Hunderte Euro weniger im Monat. Der Entlastungstarifvertrag macht schätzungsweise zehn Prozent mehr Personal erforderlich – oder entsprechend weniger Patienten. Bleiben die Fallzahlen wie sie derzeit sind, bräuchten die Landeskliniken zusammen mindestens 1.000 zusätzliche Pflegekräfte. Der von Verdi avisierte Tarif soll einen fixen, einklagbaren Belastungsausgleich enthalten.
Im Mai 2021 hatte die Gewerkschaft Verdi den Krankenhaus-Vorstände ein 100-Tage-Ultimatum gesetzt: Wenn sich die Gewerkschaft mit Vivantes und der Universitätsklinik bis 20. August nicht auf einen Entlastungstarifvertrag einigen sollte, werden die Pflegekräfte streiken. Die Gewerkschaft kritisiert: »Von Vivantes gab es nicht einmal ein Gesprächsangebot. Im Gegenteil: Der Klinikkonzern ließ nichts unversucht, einen Streik zu verhindern. Erst per Gerichtsentscheid und als der nicht zustande kam, wurde Beschäftigten mit Kündigung gedroht, sollten sie sich an einem Streik beteiligen.«
Charité und Vivantes? Und schon haben wir eine der Besonderheiten mit auf den Weg bekommen: hier soll in Konzernen gestreikt werden, die nicht an der Börse notiert sind und Gewinne ausspucken (müssen), sondern die landeseigene Unternehmen sind. Im rot-rot-grün regierten Berlin, also Parteien, die ansonsten für jede Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu haben sein müssten.
Hinsichtlich der Laumann-Zitate vom Anfang dieses Beitrags passt dann auch die Feststellung von Heine, dass sich die Gewerkschaft mit der Charité und den Vivantes-Kliniken dir richtigen Ziele ausgesucht hat, »weil nur in den landeseigenen, von starken Personalvertretungen geprägten Krankenhäusern der gewerkschaftliche Organisationsgrad für einen solchen Kampf hoch genug ist.«
Und eine weitere Besonderheit gerade im Vergleich zu anderen, „normalen“ Streiks, wie wir sie aus der Industrie kennen, muss aufgerufen werden: »Kein Klinik-Essen, eingeschränkte Rettungsstellen, leere Kreißsäle? Tarifstreit zwischen in Verdi organisiertem Personal und Charité sowie Vivantes eskaliert«, berichtet Hannes Heine unter der Überschrift Pflegekräfte in Berlin streiken wohl ohne Notdienst-Vereinbarung. Im Gesundheitswesen kann man nicht einfach so allesamt streiken lassen. In Notdienst-Vereinbarungen wird im Gesundheitswesen geregelt, welche Behandlungen trotz Streiks durchgeführt werden.
Die angesprochene Notdienst-Vereinbarung fehlt noch immer – und das verweist auf die nächste Besonderheit, die man bei einem Arbeitskampf im Krankenhausbereich bedenken muss: Charité verschiebt 2000 Termine – Vivantes-Streik ohne Notdienst-Regel untersagt, so ist ein Artikel über die nächste Eskalationsstufe des Konflikts überschrieben. Oder in den Worten von Hannes Heine: »Ratloser Senat, strenge Gerichte, wütende Pflegekräfte.« Was genau ist passiert?
Das Arbeitsgericht hat der Gewerkschaft Verdi verboten, ohne Notdienstvereinbarung in den Vivantes-Kliniken zu streiken. Dabei obliege es dem Arbeitgeber, „die Einzelheiten des Notdienstes festzulegen“, nicht der Gewerkschaft. Aus den Reihen der Gewerkschaft wurde bemängelt, dass die Arbeitgeber-Seite eine „Notbesetzung“ der Stationen gefordert hätte, die der Normalausstattung entsprechen würde, die aber – mit ein Grund für die Protestaktionen – in der Realität oftmals gar nicht eingehalten werden kann.
Auch unmittelbar vor dem Beginn der geplanten Warnstreik-Aktionen ist die rechtliche Lage fragil: Notdienst-Vereinbarung im Berliner Klinikstreit weiter unklar: »Trotz neuer Anläufe sind gemeinsame Notdienst-Lösungen für den geplanten Berliner Klinik-Streik der Gewerkschaft Verdi zunächst gescheitert. Wie schon bei der Charité am Freitagabend gab es auch am Samstag bei Vivantes bislang kein Ergebnis, wie der landeseigene Klinikkonzern mitteilte … Ohne Notdienst-Vereinbarung mit Vivantes hatte das Arbeitsgericht am Freitag Streiks bei Tochterunternehmen des Konzerns untersagt. Dazu gehören nach Angaben von Vivantes zum Beispiel die Essensausgabe, der Wäscheservice oder die ambulante Reha. Gegen diese Verfügung des Gerichts habe Verdi inzwischen geklagt.«
Und noch eine weitere Besonderheit aus der Praxis von Arbeitskampfmaßnahmen muss hervorgehoben werden: die Arbeitgeber-Seite ist weniger eindeutig, als sich das der eine oder andere so vorstellt. Beispiel Entlastungstarifvertrag: Die Charité stehe zu den Flächentarifverträgen, so wird Carla Eysel, die im Charité-Vorstand seit 2020 für Personal und Pflege zuständig ist, zitiert. Und in diesem Kontext seien die Unternehmen eben nicht solitär: Sowohl die Hochschulmedizin als auch die Vivantes-Kliniken gehören Berlins kommunalem Arbeitgeberverband (KAV) an. Der KAV ist Mitglied im Dachverband der kommunalen Arbeitgeber (VKA), der satzungsgemäß selbst über einen etwaigen Entlastungstarifvertrag verhandeln wolle.« Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) hatte die Gewerkschaft bereits dazu aufgerufen, den geplanten Streik zu unterlassen. Er sei unverantwortlich. Verdi dürfe nicht mit Charité und Vivantes über einen Entlastungstarifvertrag verhandeln. Dafür sei allein der VKA als Spitzenverband der kommunalen Arbeitgeberverbände zuständig, wird der Hauptgeschäftsführer Niklas Benrath zitiert.
Gibt es hier einen Ausweg? »Der Charité-Vorstand biete der Gewerkschaft jedoch eine hausspezifische Vereinbarung an, die rechtlich so wirksam wie ein Tarifvertrag sei«, so Carla Eysel vom Charité-Vorstand. »In die avisierte Dienstvereinbarung nähme man eigens eine Streikklausel auf. Die Personalschlüssel könnten dann auch mit einem Arbeitskampf durchgesetzt werden … Im Alltag müsste sich mit einer solchen Regelung allerdings der Charité-Personalrat, also die innerbetriebliche Vertretung, beschäftigten – nicht die Gewerkschaft.«
Die Gewerkschaft »Verdi verweist darauf, dass es schon Entlastungstarifverträge gebe, so an den Universitätskliniken Mainz und Jena. Dort werde für jede Station der Personalbedarf pro Schicht ermittelt. Wird diese Vorgabe unterlaufen, bekommen die Kollegen einen „Belastungspunkt“ – ab sechs Punkten können sie einen Tag freimachen. Diese beiden Krankenhäuser, so die Verhandler der Pflegekräfte, funktionierten schließlich noch.«
Wohlgemerkt, wir sprechen hier erst einmal nur über die Droh-Kulisse eines geplanten dreitägigen Warnstreiks, nicht über einen großen Pflegestreik, der immer wieder gefordert wird. Und man muss zur Kenntnis nehmen, dass das Streikrecht in Deutschland überaus restriktiv daherkommt, vor allem durch die jahrzehntelange Rechtsprechung, die das Feld bestimmt. Und wir sprechen über Krankenhäuser (und die dort arbeitenden Pflegekräfte) – nicht von den Pflegekräften in den Einrichtungen und Diensten der stationären und ambulanten Langzeitpflege, wo die Verhältnisse, sowohl auf der Arbeitnehmer- wie auch auf der Arbeitgeberseite, nochmals deutlich komplizierter und verworrener sind.
Damit kein Missverständnis aufkommt: angesichts der Tatsache, dass die Profession Pflege bislang summa summarum weitgehend am ausgestreckten Arm gehalten wurde und wird, spricht vieles für eine große Konfrontation, damit es endlich einmal substanzielle Verbesserungen geben kann.
Aber angesichts der in diesem Beitrag am Beispiel dessen, was in Berlin geplant wird, aufgezeigten praktischen Hürden, die es zu bewältigen gilt, sollten alle diejenigen, die von den Pflegekräften handfeste Streikaktionen einfordern oder sich wünschen würden, zumindest nachdenklich und etwas demütiger werden, denn selbst wenn man will, einfach wird es nicht.
Nachtrag vom 24.08.2021:
Das Arbeitsgericht hat die Warnstreikaktionen der Gewerkschaft Verdi gestoppt: »Das Arbeitsgericht Berlin hat es der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) durch Erlass einer einstweiligen Verfügung verboten, vom 23. bis 25.08.2021 (einschließlich der am 26.08.2021 endenden Nachtschicht) Beschäftigte der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH sowie weiterer Vivantes-Gesellschaften zum Streik aufzurufen und/oder Streiks durchzuführen, soweit nicht die Leistung eines Notdienstes nach den Vorstellungen der Arbeitgeberseite gewährleistet ist«, heißt es in der Mitteilung Arbeitsgericht untersagt Streik bei Vivantes des Arbeitsgerichts Berlin vom 20.08.2021. Mit Blick auf die damit verbundene massive Einschränkung des Streikrechts besonders problematisch ist diese Begründung des Gerichts: »Ein Streik ohne Notdienst könne zu einer Gefahr für Leib und Leben von Patienten führen; er könne daher nur mit einer Notdienstvereinbarung zur Versorgung der Patienten durchgeführt werden. Dabei obliege es dem Arbeitgeber, die Einzelheiten des Notdienstes festzulegen; es könne nicht der streikenden Gewerkschaft überlassen bleiben, den Personalbedarf ihrerseits einseitig festzulegen.« Der Gewerkschaft könne man es nicht überlassen, über die personelle Besetzung des Notdienstes zu entscheiden – aber der Arbeitgeberseite einseitig schon? Die natürlich – was man bei Vivantes auch sehen kann – ein erhebliches Interesse daran hat, die personellen Anforderungen an einen „Notdienst“ so hochzuschrauben, dass ein Arbeitskampf der Wenigen, die das dann noch können, ohne spürbaren Effekt wäre.
Am 23.08.2021 wurde dann diese Ankündigung des Arbeitsgerichts veröffentlicht: Vivantes-Streik: »Das Arbeitsgericht Berlin hat der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) im Wege der einstweiligen Verfügung durch Zwischenbeschluss untersagt, den heute begonnenen Streik bei der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH vorerst fortzuführen. In Krankenhausbetrieben könne ein Streik nur durchgeführt werden, wenn die medizinische Versorgung der Patienten in Notfällen gesichert sei; dies sei bislang nicht gewährleistet. Streikmaßnahmen seien daher bis zur Entscheidung über den Antrag der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH auf Untersagung des Streiks zu unterlassen.« Eine mündliche Verhandlung über den Antrag findet am Dienstag, 24. August 2021, um 13:00 Uhr statt.
Formal gilt die Entscheidung des Gerichts nur für Vivantes. Charité-Personalchefin Carla Eysel wird mit diesen Worten zitiert: „Auch wir kritisieren die harte Linie von Verdi, nur auf Maximalforderungen zu beharren. Von einem gerichtlichen Verbot eines Streiks aber sehen wir derzeit ab.“ Man hoffe, zügig wieder mit der Gewerkschaft verhandeln zu können.
Aber es geht offenbar nicht nur um die fehlende Notdienst-Vereinbarung, denn angeblich sieht das Arbeitsgericht »zugleich grundsätzlichen Klärungsbedarf: Ist der von Verdi geforderte Vertrag zur Entlastung mit den bestehenden Tarifen vereinbar? Wäre dies nämlich nicht der Fall, dann gilt die sogenannte Friedenspflicht, ein Streik könnte somit untersagt werden.«
Nachtrag vom 26.08.2021 – Jetzt doch ein zulässiger Streik:
Gerichte sind sich immer wieder für Überraschungen gut. Im Fall des Arbeitsgerichts Berlin könnte man auch sagen: Kommando zurück: Keine Untersagung Vivantes-Streik, so ist eine Pressemitteilung des Gerichts vom 24.08.2021 überschrieben: »Das Arbeitsgericht Berlin hat den Antrag der Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH auf Untersagung des bis 25.08.2021 geplanten Warnstreiks der Gewerkschaft ver.di zur Durchsetzung eines „Entlastungstarifvertrages“ zurückgewiesen.« Und mit welcher Begründung nun diese Kehrtwendung?
»Das Arbeitsgericht Berlin hat den Antrag auf Untersagung des Streiks zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, ein Verstoß gegen die Friedenspflicht sei im Rahmen der summarischen Prüfung im Eilverfahren nicht mit der Sicherheit feststellbar, die für den Erlass einer einstweiligen Verfügung zur Untersagung eines Streiks erforderlich sei. Der Streik sei auch nicht mangels Notdienst zu untersagen. Zwischenzeitlich liege hierzu – anders als bei Erlass der vorläufigen Untersagung bis zur mündlichen Verhandlung – eine eindeutige Erklärung der ver.di vor. Mit den hier zugesagten Notdiensten sei dieser für den verbleibenden Streikzeitraum hinreichend gewährleistet. Eine Vereinbarung von Notdienstregelungen sei nicht erforderlich.«
Dem ist nun wirklich nichts mehr hinzuzufügen.