Fachkräfte- bzw. Arbeitskräftemangel: Von leeren Regalen in Supermärkten über die angeblich guten Seiten des Mangels bis hin zu einer Gefahr für Gesundheit und Sicherheit bei der Arbeit

Schaut man in die Berichterstattung der letzten Monaten, so häufen sich die Meldungen über fehlende Fachkräfte, nicht selten geht es sogar um das Fehlen von überhaupt irgendwelchen Arbeitskräften. Dieser Mangel ist hinsichtlich seiner Ursachen (und der tatsächlichen Ausmaße) im gleichen Maße umstritten wie der Mangel an Jobs bei der Debatte über Arbeitslosigkeit. An dem einem Ende des Diskussionsstrangs gibt es eine grundsätzliche Infragestellung der Existenz eines „Fachkräftemangels“ und eine oftmals in diesem Kontext vorgetragene Empfehlung, man müsse die Leute nur besser bezahlen und gut behandeln, dann würde man auch ausreichend Personal finden können. Auf der anderen Seite ist es nicht nur anekdotische Evidenz, wenn aus unterschiedlichsten Branchen berichtet wird, dass man überhaupt keinen Bewerber mehr finden kann. Und natürlich kann und darf man diese Diskussion nicht losgelöst führen von den Rahmenbedingungen, unter denen die Arbeitsmärkte agieren müssen (Stichwort Corona-Pandemie, Zuwanderungsentwicklung oder Sonderfaktoren wie die Auswirkungen des Brexit, wenn wir an Großbritannien denken).

Das Beispiel Großbritannien: Auf der einen Seite besondere Probleme

Derzeit erreichen uns zahlreiche Berichte über einen massiven Arbeitskräftemangel (vor allem in bestimmten Segmenten des Arbeitsmarktes) aus Großbritannien. »Ob bei der Ernte, in der Pflege oder hinter dem Lkw-Lenkrad – nach dem Brexit wächst in Großbritannien der Mangel an Arbeitskräften. Inzwischen gibt es mehr als eine Million unbesetzte Stellen«, so Gabi Biesinger in ihrem Artikel Personalnot der Briten spitzt sich zu. Sie berichtet von einem Beispiel aus der Landwirtschaft, das wir aus der Debatte über Erntehelfer in Deutschland kennen:

»Bis Oktober herrscht noch Hochbetrieb bei der Ernte in der britischen Landwirtschaft. Doch Ally Capper, Besitzerin der Stocks Farm in Herefordshire guckt sehr deprimiert auf die Saison zurück. Bis zu einem Drittel zu wenig Arbeitskräfte gebe es in Branche, auch bei ihr auf dem Bauernhof seien die Früchte verrottet, erklärte sie in der BBC – und zwar wegen des Personalmangels. „Wir haben in der Gegend per Anzeige 73 Erntehelfer gesucht, wir hatten neun Bewerbungen, davon war dann nur noch eine Frau verfügbar, die dann auch einen anderen Job bekam“, so die Landwirtin. „Wir haben keine einzige britische Arbeitskraft einstellen können. Durch Vermittler haben wir jetzt Polen, Rumänen, Bulgaren, Russen, Ukrainer, sehr freundliche, hart arbeitende Saisonkräfte, nicht so viele, wie wir wollten, aber wir werden mit der Ernte fertig.“«

Offensichtlich muss man die geschilderten Probleme im Zusammenhang sehen mit der Brexit-Entscheidung der britischen Regierung: »“British jobs for british people“ – die eigenen Arbeitskräfte in den eigenen Arbeitsmarkt zu holen oder zurückzuholen, das war eine Forderung, die in der Debatte vor dem Brexit-Referendum auch immer eine wichtige Rolle spielte. Doch die Post-Brexit, Post-Corona-Wirklichkeit sieht anders aus.« Das trifft gerade auf viele Dienstleistungsjobs zu: »Diese Erfahrung macht auch Daniel Brown, der einen Wäscheservice für Londoner Hotels betreibt. 60 Kunden habe er früher gehabt, nun habe er einigen kündigen müssen. Ihm fehlen 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.« Nun wird der eine oder andere sofort einwenden, dass das vielleicht auch deshalb kein Wunder sei, weil man so mies bezahlt. Dazu Daniel Brown, der Betreiber des Wäscheservices für Hotels: „Es gibt schlicht keine Interessenten wegen des Brexit. Eine Zimmerreinigungskraft im Hotel bekam gewöhnlich neun Pfund in der Stunde. Inzwischen werden 15 Pfund die Stunde geboten und man findet trotzdem niemanden.“

»Mehr als eine Million Arbeitskräfte wurden in den vergangenen drei Monaten dringend gesucht. Die Zahl der Erwerbstätigen in Großbritannien liegt nach einem Rekordanstieg im August wieder über dem Vor-Corona-Niveau. Sie stieg nach Angaben des britischen Statistikamtes ONS im August um 241.000 zum Vormonat auf 29,1 Millionen. Die Arbeitslosenquote sank auf 4,6 Prozent. Experten zufolge trägt der Mangel an Arbeitskräften auch zu einem schnelleren Lohnwachstum bei«, so Gabi Biesinger.

Gerade in den Branchen, in denen der Mangel an Arbeitskräften in den vergangene Monaten massiv zugenommen hat, entfalten sich jetzt die Folgen der britischen Besonderheit, also des Brexit. Mit dem geht eine sehr restriktive Zuwanderungspolitik – „British jobs for british people“ – einher: »Drängend ist nach dem Brexit und wegen der Corona-Krise etwa der Mangel an Lkw-Fahrern, in vielen Branchen kommt es derzeit zu Lieferengpässen. 100.000 zusätzliche Fahrer würden gebraucht, rechnete der Branchenverband Road Haulage Association vor. Ändere sich das nicht, könnten die Preise steigen und die Inflation anheizen. Beschleunigte Zulassungsverfahren für Fahrer sollen nun Abhilfe schaffen. Aber die Logistikbranche hält das für nicht ausreichend und fordert auch Sondervisa für ausländische Arbeitskräfte, wie bei den Erntehelfern.« Wobei man bei den genannten und überall zitierten Zahlen hinsichtlich der Größenordnung immer vorsichtig sein muss. Mittelweile sollen also bereits 100.000 Lkw-Fahrer fehlen auf der Insel. Im Juli wurde noch von „nur“ 60.000 berichtet: »So ist zum Beispiel die Zahl der Lkw-Fahrer aus der EU seit dem Brexit um etwa 15.000 geschrumpft, während wegen der Pandemie Tausende Prüfungen für neue Fahrer verschoben werden mussten. Dem Verband für Güterkraftverkehr, der Road Haulage Association zufolge, fehlen derzeit insgesamt rund 60.000 LKW-Fahrer. Der Verband fordert ebenso wie der Logistikverband Logistics UK temporäre Visa für LKW-Fahrer, verbunden mit der Warnung, dass ansonsten Lieferketten zusammenbrechen könnten«, so Imke Köhler in ihrem Beitrag Großbritannien fehlen Arbeitskräfte.

Eine Übersicht zur aktuellen Lage in Großbritannien liefert Bettina Schulz in ihrem Artikel Offene Jobs, fehlende Fernfahrer und viele Schweine: »Brexit und Corona haben den Briten eine weitreichende Versorgungs- und Personalkrise beschert. Besonders deutlich wird das in den Supermärkten. Die Lage in Zahlen.«

Dort findet man diesen Hinweis: »Viel EU-Personal ist während der Pandemie in die Heimat geflohen und angesichts der seit dem Brexit erschwerten Visasituation nicht mehr zurückgekehrt. EU-Arbeitskräfte, die in Großbritannien geblieben sind, haben in besser bezahlte Berufe gewechselt. So herrscht Not an Billigarbeitskräften.« Der Mangel konzentriert sich vor allem in diesem Segment des Arbeitsmarktes und da werden sich diejenigen, die beispielsweise der Position der britischen Regierung folgen können, die ihren Unternehmen empfohlen hat, die Lkw-Fahrer besser zu bezahlen, dann würden das auch Einheimische machen, bestätigt fühlen. Und man darf mit Blick auf die Verfasstheit des britischen Arbeitsmarktes nicht vergessen, dass es in den vergangenen Monaten und Jahren immer auch solche Berichte gegeben hat, wie dieser hier von Natalie Klinger aus dem Corona-Sommer des Jahres 2020: Beschäftigung auf Abruf in Null-Stunden-Verträgen: »Der britische Arbeitsmarkt gilt als einer, der im europäischen Vergleich wenig reguliert ist. Besonders Arbeitnehmer in Teilzeit sind wenig geschützt: Sie arbeiten oft auf Abruf in sogenannten Null-Stunden-Verträgen – und bekommen die Folgen der Coronakrise besonders zu spüren.« Ihrem Bericht kann man hinsichtlich dieser Verträge entnehmen: »Seit der Finanzkrise 2008 wird das Instrument immer häufiger eingesetzt. Waren es anfangs nur etwa 140.000 Verträge, zählt das nationale Amt für Statistik mittlerweile knapp eine Million Null-Stunden-Verträge in Großbritannien. Gewerkschaften schätzen die Zahl noch höher. Briten und Einwanderer sind gleichermaßen betroffen. Die Verträge bestehen vor allem im Gastgewerbe, in der Lebensmittelbranche, im Einzelhandel und der privaten Pflege. Die Arbeitnehmer bekommen oft nur den Mindestlohn … Den Arbeitnehmern stehen zwar Rechte wie Mindestlohn, Krankengeld und bezahlter Urlaub zu. Kündigungsschutz gibt es aber nicht.« Wenn Menschen die Möglichkeit haben, sich aus solchen ungleichgewichtigen Arrangements zu ihren Lasten zu befreien – wer kann ihnen das verdenken?

Und auch der bereits zitierte Erntehelfer-Mangel (den kennen wir ja auch in Deutschland) ist ein Sinnbild für den Niedrigstlohnsektor, den man bislang nur mit dem Import ausländischer Billigstarbeitskräfte am Laufen halten konnte. Die Abhängigkeit von diesen menschen ist so groß, dass selbst die emigrationspolitischen Hardliner in London (etwas) einknicken mussten: »Das Innenministerium stellte im ersten Halbjahr knapp 20.000 Visa für Saisonarbeiter aus, davon fast 15.000 für Personen aus der Ukraine, die anderen vor allem aus Russland, Belarus und Moldawien. Ein Trupp von 100 Arbeitern zum Blaubeerenpflücken reiste gar aus Nepal an. Der Landwirtschaftsverband, die National Farmers Union, klagt, dass trotzdem 500.000 Stellen unbesetzt seien und die Regierung mehr Visa an EU-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen vergeben solle«, berichtet Bettina Schulz.

Und auch die bei uns in Deutschland immer wieder in der kritischen Berichterstattung auftauchenden Schlachthöfe haben auf der Insel eine Menge Probleme: »Die Schlachthöfe vermissen ihre ehemaligen rumänischen, polnischen und bulgarischen Mitarbeiter. Zusätzlich zum britischen Personal, das sich aufgrund der Corona-Pandemie krankmeldete, fehlen manchen Schlachthöfen bis zu 25 Prozent ihrer qualifizierten und hart arbeitenden Belegschaft. Der Verband der Schweinezüchter, die National Pig Association (NPA), warnte, manche Schlachthöfe hätten ihre Arbeit um 25 Prozent einschränken müssen. In britischen Ställen werden nun 70.000 Schweine durchgefüttert, die eigentlich längst hätten geschlachtet werden müssen. In den Supermärkten fehlt die Wurst.« Und auch hier wieder das Problem der harten Zugangsbegrenzungen für ausländische (Billig-)Arbeitnehmer: »Der Verband fordert, das Innenministerium solle mehr EU-Visa erteilen. Das will Innenministerin Priti Patel jedoch nicht. Erstens sei Schlachten kein Saisongeschäft. Zweitens hat Patel das britische Visasystem auf sogenannte hochqualifizierte und gut bezahlte Fachkräfte ausgerichtet. Dazu gehören Schlachter nach Lesart der britischen Regierung nicht.«

Bettina Schulz eröffnet in ihrem Artikel Offene Jobs, fehlende Fernfahrer und viele Schweine aber auch einen differenzierten Blick auf die derzeit überall auftauchenden fehlenden Lkw-Fahrer auf der Insel, die mittlerweile zu schmerzhaften und handfesten Versorgungsproblemen für die Bevölkerung geführt haben: »or der Corona-Krise (und dem Brexit) beschäftige die britische Wirtschaft nach Angaben des Fachverbandes, der Road Haulage Association (RHA), 600.000 Lkw-Berufskraftfahrer. In einem Brief an Premierminister Boris Johnson beschwerte sich der Verband kürzlich, dass mittlerweile 100.000 dieser Fahrer fehlten. Der Grund: Viele EU-Speditionen fahren nicht mehr nach Großbritannien. Wartezeiten an der Grenze sind für sie ein Verlustgeschäft. Zudem kehren Lastwagen seit dem Brexit aus Großbritannien meist leer zurück, um Papierkrieg und Wartezeiten beim Zoll auf der Rückfahrt zu vermeiden. Und: Seit dem Brexit ist die Möglichkeit der sogenannten Kabotage erschwert. Das bedeutet, dass EU-Speditionen innerhalb Großbritanniens keine Ware mehr von A nach B transportieren dürfen. Damit lohnt sich das Geschäft für viele EU-Speditionen nicht mehr. Die britische Regierung pocht darauf, die Wirtschaft solle britische Fahrer ausbilden. Das aber ist nicht so leicht. Normalerweise bestehen jedes Jahr etwa 40.000 Fahrer den britischen Führerschein zum Fernfahrer. Doch sind viele Fahrer während der Pandemie in Pension gegangen und die Jugend rückt nicht nach – sie sitzt nicht mehr gern tagelang hinterm Steuer. Zudem hatte das Kraftfahrzeugamt während der Pandemie die Fahrprüfungen eingestellt. Die Konsequenz: Im vergangenen Jahr bestanden nur 15.000 Menschen den Lkw-Führerschein, 25.000 weniger als in einem normalen Jahr, klagt der Verband RHA.«

Auch in Deutschland mangelt es immer öfter

Nun muss man also hinsichtlich der genannten Berufsgruppen, darunter der Lkw-Fahrer, einige Besonderheiten in Großbritannien durch den Brexit & Co. in Rechnung stellen. Aber auch aus Deutschland wird von einem zunehmenden Mangel berichtet: »In Großbritannien bleiben schon seit längerem Regale leer, weil unter anderem wegen des Brexit Lkw-Fahrer fehlen. In Deutschland droht eine ähnliche Entwicklung. Der Branchenverband warnt bereits vor einem „Versorgungskollaps“«, so diese Meldung: Auch in Deutschland fehlen Lkw-Fahrer: „Was in Großbritannien passiert, ist durch den Brexit beschleunigt. Ich gehe aber fest davon aus, dass wir in Westeuropa die gleiche Situation haben werden, nur etwas zeitversetzt“, sagt Dirk Engelhardt vom Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung: „Wir warnen davor, dass wir auch in Westeuropa sehenden Auges in einen Versorgungskollaps laufen.“

»Auch in Deutschland fehlten bereits zwischen 60.000 und 80.000 Fernfahrer, so Engelhardt – Tendenz steigend. Jährlich gingen rund 30.000 Fahrer in Rente und nur rund 15.000 Nachwuchskräfte kämen nach.«

Und selbst aus Branchen, wo die meisten von uns sicher nicht an Arbeitskräftemangel denken würden, kommen solche Berichte: Friseure dringend gesucht: »Immer weniger Menschen wollen anderen Menschen die Haare schneiden oder Dauerwellen legen. Das liegt nicht nur an der schlechten Bezahlung«, meint Thomas Öchsner gefunden zu haben. Es lohnt sich allerdings, seinen Artikel über die Friseure genau zu lesen. Er beginnt mit einem Beispiel:

»Detlev Beier sucht seit Anfang März. Mehr als 4000 Euro hat der Friseurmeister bereits für Inserate im Internet ausgegeben, um für seinen Salon neues Personal zu finden, in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram, auf Fachportalen seiner Branche – ohne Erfolg. Monatelang rührte sich nichts. Jetzt hat sich wenigstens eine ausgebildete Friseurin gemeldet. Aber eigentlich sucht Beier gleich drei neue Vollzeitkräfte. „Nochmals kann ich so viel Geld für Stellengesuche nicht ausgeben“, sagt er. Beier, 50, ist seit 28 Jahren Friseur. Vor mehr als vier Jahren hat er sich in Schondorf am Ammersee selbständig gemacht. Aber das hat er noch nicht erlebt: „So schlimm war der Personalmangel in unserer Branche noch nie.“ Nur zwei Teilzeitkräfte hat er gerade, obwohl er den Salon vergrößert hat, von vier auf zehn Bedienplätze. Beier muss deshalb meist sechs Tage die Woche durcharbeiten, von neun Uhr morgens bis abends um 18 Uhr. „Gesucht“, sagt er, „wird überall. Wenn Sie ein bisschen was können, kriegen Sie als Friseur oder Friseurin in jeder deutschen Stadt sofort einen Job.“«

Für Meisterinnen und Meister weist die Bundesagentur für Arbeit (BA) bereits seit Dezember 2016 einen „Fachkräfteengpass“ aus. Bei den Fachkräften spreche auch einiges für einen sogenannten Engpassberuf, wie etwa die gestiegene Vakanzzeit, also die Zahl der Tage, bis wann eine offene Stelle besetzt worden ist, berichtet Öchsner von der BA. Und das, obwohl der Beruf Friseurin bei den jungen Frauen immer noch unter den Top 10 der Ausbildungsberufe ist.

Und dennoch: »Herbert Gassert, 75, Vizepräsident des Zentralverbands des Deutschen Friseurhandwerks, frisiert seit 60 Jahren. Er sagt: „Es gibt viel zu wenige Ausbildungsbetriebe.“ Gassert schätzt, dass von zehn Betrieben „vielleicht noch einer ausbildet“.« Dann aber kommt ein interessanter Hinweis auf die „Ausdifferenzierung“ der Branche, denn „die“ Friseure gibt es nicht:

»Zugleich hat sich jedoch der Bedarf vergrößert. 63 000 Friseursalons gab es zur Jahrtausendwende in Deutschland. Jetzt sind es mehr als 80 000, darunter viele Minibetriebe mit einem Jahresumsatz von weniger als 22 000 Euro – es gilt aber als offenes Geheimnis, dass nicht wenige dieser Salons schwarz deutlich mehr einnehmen. Diese Anbieter verstärken den ohnehin harten Preiskampf in der Branche, weil sie für ihre Dienstleistungen keine Mehrwertsteuer von bis zu 19 Prozent erheben müssen – und ärgern damit Saloninhaber wie Detlev Baier. „Solche Billiganbieter verlangen in der Großstadt zum Beispiel neun Euro für einen Herrenhaarschnitt. Das sind, wenn sie schnell arbeiten, nicht mal 30 Euro die Stunde. Da kann mir doch keiner erzählen, dass die den branchenüblichen Mindestlohn und Abgaben an die Berufsgenossenschaft zahlen oder die gesetzlichen Hygienevorschriften so penibel einhalten wie wir“, sagt er und fügt hinzu: „Ich zahle richtig gut, weit über Tarif. Ich kann aber auch keine 30 bis 40 Euro Stundenlohn zahlen. Das rechnet sich für mich nicht.“«

Eine Stimme der Hoffnung? Kann der Mangel an Arbeitskräften die deutsche Wirtschaft „modernisieren“?

Manche brauchen unbedingt positive Botschaften und da passt eine Wortmeldung von Marcel Fratzscher, dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin: Wieso ein Fachkräftemangel auch gut für Deutschland sein kann, so hat er seinen Beitrag überschrieben: »Der mit dem demografischen Wandel zunehmende Fachkräftemangel könnte der wichtigste Impuls für eine Qualifizierungsoffensive und Investitionen in produktivere Arbeitsplätze sein.« Fratzscher tut sich schwer mit dem überall virulenten Begriff des Fachkräftemangels: »Der Begriff „Fachkräftemangel“ ist allerdings irreführend, es handelt sich eher um einen Arbeitskräftemangel. Denn Unternehmen suchen nicht nur Ingenieurinnen und Programmierer, sondern auch Menschen mit geringen Qualifikationen. Reinigungskräfte sind ebenso gefragt wie Kurierfahrerinnen und -fahrer.« Wie dem auch sei (man kann hier sicher auf erhebliche Personalbesetzungsprobleme in qualifizierten Berufen verweisen, die sich nicht auf Menschen mit niedrigen Qualifikationen reduzieren lassen) – er sieht vier Gründe, wieso der Arbeitskräftemangel unserem Land einen wichtigen Modernisierungsimpuls geben könnte:

1.) »Der erste Grund ist, dass er die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und damit ihre Löhne erhöht. Unternehmen werden daher zum einen versuchen, bestimmte Arbeitsplätze durch Maschinen oder automatisierte Prozesse zu ersetzen. Wo dies nicht möglich ist, werden Unternehmen zum anderen so investieren wollen, dass ihre Arbeitskräfte produktiver werden und sich somit die höheren Löhne und Arbeitskosten rechnen. Ein Wegfall bestimmter Arbeitsplätze – häufig solche, die sehr mechanisch und körperlich anspruchsvoll sind – muss per se nicht schlecht sein, wenn die betroffenen Menschen anderswo bessere und besser bezahlte Arbeit finden.«

2.) »Der zweite Vorteil ist die sich damit verändernde Wertschätzung für bestimmte Berufe, die besonders stark von einem solchen Mangel betroffen sind. Vor allem dem Menschen nahe, persönliche Dienstleistungen, wie in den Pflegeberufen, waren und sind in Deutschland relativ schlecht entlohnt – auch im Vergleich zu der erforderlichen Verantwortung und Belastung. Der Fachkräftemangel in der Pflege hat schon jetzt die Löhne erhöht und die Arbeitsbedingungen verbessert, auch wenn noch weiterer Nachholbedarf besteht.«

3.) »Die dritte Chance ist, dass ein Arbeits- und Fachkräftemangel die Lohnquote erhöht, also ein größerer Anteil der Wertschöpfung in unserem Land in Zukunft wieder den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zugutekommt und weniger den Anteilseignern der Unternehmen. Höhere Löhne bedeuten für viele Menschen nicht nur einen höheren Lebensstandard und mehr Sicherheit, sondern werden den Konsum anschieben und damit das Wachstum stärken und den Wohlstand sichern helfen.«

4.) »Der vierte Vorteil kommt dem Staat zugute, der durch eine bessere Lohnentwicklung und mehr Wirtschaftsleistung auch höhere Steuereinnahmen erzielen wird. Dies wird die Sozialsysteme entlasten, weil weniger Menschen auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Somit hat der Staat mehr Geld, um sich auf die verbleibenden Herausforderungen zu fokussieren.«

Bleiben wir bei der Bestandsaufnahme: Wenn Gesundheit und Sicherheit bei der Arbeit durch den Fachkräftemangel gefährdet werden

Abschließend soll hier berichtet werden von warnenden Stimmen aus einem Bereich, den man ansonsten nicht oder nur, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, zur Kenntnis nimmt: dem Arbeitsschutz. »Der Fachkräftemangel ist nicht nur für die Wirtschaft ein Problem, sondern auch für den Arbeitsschutz. Das zeigt eine Befragung von mehr als 800 Fachleuten für Prävention, die das Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) für sein Risikoobservatorium ausgewertet hat«, kann man dieser Meldung entnehmen: Fachkräftemangel wird zum Risiko für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit. »Von der Elektroindustrie und Energieversorgung über das Gesundheitswesen bis zur Kindertagesbetreuung – das Fehlen von qualifiziertem Personal ist demnach in 33 von 42 untersuchten Branchen absehbar ein Risiko für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit. Herausforderungen, die ebenfalls eine Vielzahl von Wirtschaftszweigen betreffen, sind der demografische Wandel, die Arbeitsverdichtung, Muskel-Skelett-Belastungen und interkulturelle Anforderungen.«

„Wenn Belegschaften schrumpfen, erhöht das in der Regel den Druck auf die, die bleiben. Stress ist eine mögliche Folge“, so der Direktor des IFA, Dietmar Reinert. Um dem zu begegnen, fänden sich in der Arbeitswelt immer mehr Fachfremde oder gar Ungelernte. „Beides – Stress und mangelndes Fachwissen – lässt die Wahrscheinlichkeit für Fehler – und damit für Arbeitsunfälle – steigen.“« Aber die Arbeitsschutz-Experten sehen das Feld der Herausforderungen größer, der Fachkräfte- bzw. in vielen Bereichen schlichtweg Personalmangel ist nur eine Dimension dessen, was den Arbeitsschutz fordert: »Risiken für die Arbeitssicherheit und den Gesundheitsschutz bei der Arbeit haben zunehmend ihre Ursache in Entwicklungen wie der Alterung der Gesellschaft, Migration und Digitalisierung. Klassische Arbeitsschutzthemen wie Lärm oder Gefahrstoffe spielen zwar weiterhin eine Rolle – über alle Branchen hinweg dominieren jedoch klar Herausforderungen, die Folge von gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen sind.«

„Die klassischen Instrumente des Arbeitsschutzes reichen nicht aus, um diesen Herausforderungen zu begegnen“, so der IFA-Direktor Reinert.

Wer das und die möglichen Ansatzpunkte für einen modernen Arbeitsschutz nachlesen möchte, dem sie diese Veröffentlichung empfohlen:

➔ Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) (2021): Arbeitswelten. Menschenwelten. Prioritäten für den Arbeitsschutz von morgen, Berlin, September 2021
»Die wichtigsten Präventionsthemen für die großen Branchen und Sektoren identifiziert und beschreibt ein aktueller Bericht zum Risikoobservatorium der DGUV. Welche Entwicklungen Arbeiten und Lernen verändern und wo deshalb neue Risiken für Sicherheit und Gesundheit den Arbeitsschutz besonders fordern, illustrieren in Wort und Bild 13 Branchenbilder – von der Abfallbranche über die Fleischwirtschaft bis zu Kitas und Schulen.«