Mindeststandards für die Notunterbringung wohnungsloser Menschen – und ihr Wahlrecht

Das ist sicher: mit den kälter werdenden Tagen und Nächten werden sich erneut die Berichte über obdachlose Menschen auf den Straßen und Plätzen unserer Städte häufen. Und wieder werden wir Bilder-Schnipsel zu sehen bekommen von den Angeboten der Nothilfe für Obdachlose. Dabei wird sich der eine oder andere fragen, warum denn trotz eines angeblich sicheren, warmen Übernachtungsplatzes Menschen auch in bitterkalten Nächten draußen bleiben.

Dafür gibt es nicht den einen, alles erklärenden Grund. Aber ein bedeutsamer Aspekt ist die Ausgestaltung der Hilfsangebote – also nicht nur die Frage, ob überhaupt und in ausreichender Zahl Übernachtungsmöglichkeiten angeboten werden, was eben nicht überall gegeben ist. Sondern es muss auch um die Frage gehen, ob möglicherweise die Art und Weise, wie obdachlose Menschen untergebracht werden (können), ein eigenständiger Hinderungsfaktor für die Inanspruchnahme dieser möglicherweise lebensrettenden Maßnahme darstellt.

„In den kommunalen Notunterkünften leben wohnungslose Menschen oft auf engstem Raum, teilweise unter menschenunwürdigen Bedingungen. Vielerorts ist die Notunterbringung keine Übergangslösung mehr, sondern ein Dauerzustand für die Betroffenen.“

Mit diesen Worten wird Nele Allenberg, Leiterin der Abteilung Menschenrechtspolitik Inland / Europa beim Deutschen Institut für Menschenrechte zitiert. Das Institut fordert Bund, Länder und Kommunen auf, sich für eine menschenwürdige Unterbringung wohnungsloser Menschen einzusetzen und spricht sich für die Einführung verpflichtender Mindeststandards für die Notunterbringung aus, so diese Mitteilung des Instituts: Mindeststandards für die Notunterbringung wohnungsloser Menschen. Und das Zitat verweist schon auf eine notwendige Erweiterung der Perspektive auf die Notunterbringung, die in der Regel fokussiert auf ein Notprogramm für eine Nächte, in denen obdachlose Menschen dort leben können. Die Wirklichkeit sieht weitaus differenzierter aus: Ein Drittel der wohnungslosen Menschen lebe länger als zwei Jahre in den Notunterkünften.

Im Juni 2020 lebten allein im Bundesland Nordrhein-Westfalen 36.082 wohnungslose Menschen in der kommunalen Notunterbringung. Verlässliche Zahlen für das Bundesgebiet gibt es bisher nicht. Sie werden im Jahr 2022 vorliegen, wenn erstmals eine bundesweite Wohnungslosenstatistik veröffentlicht wird.

➔ »Ab 2022 wird eine zentrale Statistik Auskunft über wohnungslose Menschen geben, die in Gemeinschafts- oder Notunterkünften untergebracht sind. Das Statistische Bundesamt wird die Daten jährlich zum 31. Januar erheben. Eine zweite Gruppe Wohnungsloser ist statistisch jedoch kaum zu erfassen. Menschen etwa, die vorübergehend bei Verwandten oder Freunden unterkommen, auf der Straße oder als Selbstzahler in Billigpensionen leben. Für diese Formen der Wohnungslosigkeit führt die Bundesregierung eine ergänzende Wohnungslosenberichterstattung ein. Der Wohnungslosenbericht wird künftig alle zwei Jahre veröffentlicht, erstmals im Jahr 2022.« (Quelle: Statistik zur Wohnungslosigkeit). Es gibt bereits eine „offizielle“ Wohnungslosenstatistik, die sogar einmal im Jahr veröffentlicht wird – und zwar vom Bundesland Nordrhein-Westfalen, seit dem Jahr 2011, wobei die damals eingeführte „integrierte Wohnungsnotfallberichterstattung“ auf längere Bemühungen zurückgreift, denn in NRW wurde schon in den Jahren von 1965 bis 2009 jährlich eine Erhebung über die Obdachlosigkeit durchgeführt. Auch hier haben wir es mit einer Stichtagserhebung zu tun (in NRW gilt allerdings der 30. Juni 2021 als Stichtag). Aber auch hier gilt, dass nur ein Teil der Wohnungslosen erfasst wird: »Menschen, die auf der Straße leben und sich weder wegen einer Unterbringung an die Kommunen wenden, noch die vielfältigen Hilfsangebote der freien Träger der Wohnungslosenhilfe in Anspruch nehmen, können von dieser Statistik nicht erfasst werden. Damit bildet die Wohnungslosenstatistik die Situation der Menschen in Nordrhein-Westfalen ab, die in aller Regel zwar irgendeine Art von Dach über dem Kopf haben, aber über keine reguläre Wohnung mit einem eigenen Mietvertrag verfügen. Das Ministerium prüft derzeit, wie auch Menschen, die ohne jedes Dach über dem Kopf auf der Straße leben, statistisch erfasst werden können.« Mehr dazu und den Ergebnissen der Wohnungslosenstatistik in dieser Meldung: Minister Laumann: Menschen ohne Wohnung sind häufig unsichtbar und schutzlos (10. August 2020).

Zu der jahrelangen Diskussion über (fehlende) „offizielle“ Zahlen wie auch den erheblichen methodischen Problemen vgl. diesen Beitrag vom 24. Oktober 2018: Vermesssungsversuche der Menschen ohne Wohnung. Ein Lichtblick in der Dunkelkammer der Statistik. Die bislang in den Medien berichteten Zahlen zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit sind Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosigkeit (vgl. dazu zuletzt den Beitrag Mit Job, aber ohne eigene Wohnung vom 1. September 2021. Das, was die Bundesregierung nun nach jahrelangen Debatten und Forderungen beschlossen hat, kann nur der Einstieg in eine Wohnungslosenstatistik sein, denn es sollen nur jene wohnungslosen Menschen erfasst werden, die in Einrichtungen untergebracht sind. Menschen, die privat Unterschlupf finden, bleiben außen vor. Daher zeichnet sich schon heute ab, dass viele Menschen von der offiziellen Statistik nicht erfasst werden. Eine weitere Gruppe, die nicht in der Wohnungslosenstatistik auftaucht, sind Menschen, die unmittelbar von Wohnungslosigkeit bedroht sind, die eine Kündigung erhalten haben und deren Wohnung kurz vor der Zwangsräumung steht.

Die Notunterkünfte seien in der jetzigen Form mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands nicht vereinbar und müssten dringend verbessert werden, kritisiert das Institut. „Menschen in Notunterkünften sind nicht nur in ihrem Menschenrecht auf Wohnen eingeschränkt. Auch ihr Recht auf Familie, auf Gesundheit und auf Schutz vor Gewalt ist oftmals nicht gewährleistet“, so Nele Allenberg.

Eine weiterführende Analyse findet man in dieser Veröffentlichung aus dem vergangenen Jahr:

➔ Claudia Engelmann, Claudia Mahler und Petra Follmar-Otto (2020): Von der Notlösung zum Dauerzustand. Recht und Praxis der kommunalen Unterbringung wohnungsloser Menschen in Deutschland, Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte, März 2020

Die Verfasser weisen darauf hin: In Deutschland sind die Kommunen rechtlich verpflichtet, unfreiwillig obdachlose Menschen vorübergehend unterzubringen (sogenannte ordnungsrechtliche Unterbringung). Mehrere zehntausend Menschen in Deutschland sind gezwungen, diese Form der Unterbringung in Anspruch zu nehmen. Ursprünglich nur als Notlösung konzipiert, und für kurze Zeit gedacht, wird diese zunehmend zur längerfristigen Unterbringungsform: Rund ein Drittel der untergebrachten Personen lebt länger als zwei Jahre dort. Es erfolgt derzeit eher ein Ausbau als ein Abbau der ordnungsrechtlichen Unterbringung durch die Kommunen. Die Analyse zeigt eine ganz erhebliche Streubreite hinsichtlich der Antwort auf die Frage, inwieweit die Kommunen ihren Unterbringungsverpflichtungen von wohnungslosen Menschen nachkommen können. »Die Bandbreite der Unterkünfte ist groß und reicht von „Normalwohnraum“ (Wohnungen) bis zu Mehrbettzimmern in Sammelunterkünften, von hygienisch einwandfrei bis an die Grenze zur Verwahrlosung.« (Engelmann et la. 2020: 49). Und weiter kann man der Analyse entnehmen:

»Kommunal große Unterschiede gibt es auch bei der Frage, ob und in welchem Umfang bedarfsgerechte Hilfen und Unterstützung beim Wiedererlangen von Wohnraum angeboten werden. Somit verbleiben wohnungslose Menschen teilweise jahrelang in der ordnungsrechtlichen Unterbringung – oder auch in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe nach §§ 67ff. SGB XII, in den Notunterkünften, in verdeckter Wohnungslosigkeit oder gänzlich auf der Straße. Deutlich wird auch, dass viele Menschen in der ordnungsrechtlichen Unterbringung landen, die eigentlich Anspruch auf eine (umfassendere) Versorgung in einem anderen Bereich des Hilfesystems – beispielsweise dem Versorgungsystem für psychisch Kranke, der Suchtkrankenhilfe oder dem Pflegesystem – hätten.«

Der in der Analyse hervorgehobene Hinweis auf eine eben nicht nur tageweise Unterbringung müsste auch, so die Autoren, handfeste Konsequenzen haben: »Mit der teilweise jahrelangen Wohndauer verändern sich die grund- und menschenrechtlichen Anforderungen an die ordnungsrechtliche Unterbringung. Bisher haben der Bund und die meisten Länder lediglich auf die Umsetzungsverpflichtung der Kommunen verwiesen. Aus den grund- und menschenrechtlichen Verpflichtungen entsteht aber auch ein Gestaltungsauftrag an Bund und Länder, die ordnungsrechtliche Unterbringung weiterzuentwickeln.« Denkbar wäre »ein Modellprojekt des Bundes, das dazu beitragen könnte, Mindestanforderungen an die ordnungsrechtliche Unterbringung zu entwickeln. Vorschläge für Mindeststandards liegen vonseiten der Fachverbände aus der Wohnungslosenhilfe vor.«

»Neben räumlichen und personellen Standards, braucht es aber eine weitergehende Diskussion: Wie kann ein sicheres Miteinander in den Unter- künften gewährleistet werden? Was können Betroffene tun, wenn sie sich in ihren Rechten verletzt fühlen? Wie kann ein effektives Monitoring beziehungsweise eine Rolle der Aufsichtsbehörden aussehen? Wie können Menschen mit weiter- gehenden Schutzbedarfen identifiziert werden? Hier lohnt der Blick in andere Regelungssysteme, in denen viele Menschen auf wenig Raum unter- gebracht sind, zum Beispiel die Unterbringung Geflüchteter. Die hier ausgearbeiteten Konzepte zu Gewaltschutz, Beschwerde, Identifikation von Schutzbedarfen etc. sollten auch in die Standarddiskussion zur ordnungsrechtlichen Unterbringung eingehen.
Nicht zuletzt braucht es eine rechtliche Klarstellung für die Kommunen, dass die Verpflichtung zur ordnungsrechtlichen Unterbringung für wohnungslose Menschen aller Herkunft gilt. Diese Klarstellung könnte durch die Innenbehörden der Länder erfolgen.« Die Verfasser weisen darauf hin: In Deutschland sind die Kommunen rechtlich verpflichtet, unfreiwillig obdachlose Menschen vorübergehend unterzubringen (sogenannte ordnungsrechtliche Unterbringung). Mehrere zehntausend Menschen in Deutschland sind gezwungen, diese Form der Unterbringung in Anspruch zu nehmen. Ursprünglich nur als Notlösung konzipiert, und für kurze Zeit gedacht, wird diese zunehmend zur längerfristigen Unterbringungsform: Rund ein Drittel der untergebrachten Personen lebt länger als zwei Jahre dort. Es erfolgt derzeit eher ein Ausbau als ein Abbau der ordnungsrechtlichen Unterbringung durch die Kommunen. Die Analyse zeigt eine ganz erhebliche Streubreite hinsichtlich der Antwort auf die Frage, inwieweit die Kommunen ihren Unterbringungsverpflichtungen von wohnungslosen Menschen nachkommen können. »Die Bandbreite der Unterkünfte ist groß und reicht von „Normalwohnraum“ (Wohnungen) bis zu Mehrbettzimmern in Sammelunterkünften, von hygienisch einwandfrei bis an die Grenze zur Verwahrlosung.« (Engelmann et la. 2020: 50).

Wie ist das eigentlich mit der Wahl?

Angesichts der Tatsache, dass in wenigen Tagen die Bundestagswahl 2021 stattfindet, sei hier noch ergänzend auf eine weitere Baustelle mit Blick auf wohnungslose Menschen hingwiesen: Wie ist das eigentlich mit der Wahl bei wohnungslosen Menschen? Dürfen und können die ihr Wahlrecht überhaupt wahrnehmen? Auch dazu hat sich das Deutsche Institut für Menschenrechte zu Wort gemeldet, mit dieser Analyse:

➔ Michael Krennerich (2021): Wahlrecht von wohnungslosen Menschen. Rechtliche, organisatorische und politische Bedingungen der Wahlrechtsnutzung durch wohnungslose Menschen. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte, Juli 2021

Die Analyse widmet sich der Frage nach dem Wahlrecht wohnungsloser Menschen, und hierbei besonders auch derjenigen, die obdachlos sind und daher keine Meldeadresse haben. Zwar fehlen vertiefte und flächendeckende empirische Erkenntnisse zur Praxis der Wahlregistrierung und der Wahlrechtsnutzung, zu Informations-und Unterstützungsleistungen und zur Sicht der Betroffenen. Jedoch lassen die Einschätzungen aus der Praxis erkennen, dass in allen Feldern Verbesserungsbedarf besteht.

Der Zusammenfassung von Krennerich (2021: 9) kann man entnehmen: Als zentralen Kritikpunkt identifiziert die Analyse den Wahlrechtsausschluss von wohnungslosen Menschen ohne feste Meldeadressen im Kommu­nalwahlrecht einiger Bundesländer. Darüber hinaus fordert der Beitrag eine zuverlässige Registrierung von Wohnungslosen im Wählerverzeichnis. Hierfür müssen zum einen ordnungs-­ und sozial­rechtlich untergebrachte Menschen im Melderegis­ter vollumfänglich erfasst werden. Zum anderen muss die Antragstellung auf Eintragung ins Wäh­lerverzeichnis wohnungslosen Menschen ohne Meldeadresse niedrigschwellig ermöglicht werden. Um die Wahlrechtsnutzung durch Wohnungslose zu befördern, empfiehlt die Analyse – über die gesetzlich vorgeschriebenen Bekanntmachungspflichten hinaus – zudem die Erstellung und Verteilung von Wahlinformationen, die Wohnungslosen gezielt zugänglich gemacht werden. Die amtlichen Bemühungen können von freien, gemeinnützigen Trägern der Wohnungslosenhilfe und von privaten Initiativen unterstützt oder flankiert werden.