Noch immer inside Corona: Die Schieflage auf „dem“ Ausbildungsmarkt. Aber nicht nur wegen Corona

»Die Corona-Pandemie hat den ohnehin angespannten Ausbildungsmarkt in diesem Jahr weiter verschärft. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit sind einen Monat vor Beginn des neuen Ausbildungsjahres noch fast die Hälfte der 470.000 Lehrstellen nicht besetzt. Und obwohl es deutlich weniger Bewerber als Ausbildungsplätze gibt, haben rund 160.000 junge Menschen noch keinen gefunden. Die Behörde führt das unter anderem darauf zurück, dass aufgrund von Corona keine Ausbildungsmessen und Berufsberatungen stattgefunden haben. Vor allem das Handwerk, der Gesundheits- und der Verkehrsbereich suchen noch dringend Auszubildende. Weniger groß ist die Nachfrage im Tourismus, Handel und in der Gastronomie«, kann man dieser Meldung entnehmen, die am 9. Juli 2021 veröffentlicht wurde: Corona verschärft die Lage auf dem Ausbildungsmarkt. Das wurde dann von vielen Medien aufgegriffen.

Scheinbar in eine andere Richtung deuten solche Meldungen wie diese vom 2. Juli 2021: Handwerk sieht langsame Erholung auf Ausbildungsmarkt: »Der Ausbildungsmarkt in Bayern erholt sich langsam von den Corona-Auswirkungen. Bis Ende Juni wurde im Handwerk mehr als 11.500 Lehrverträge unterschieben, wie der bayerische Handwerkstag am Freitag mitteilte. Das sind knapp 7 Prozent mehr als zum gleichen Zeitpunkt im vergangenen Jahr. Zum Vor-Corona-Niveau fehlt allerdings noch ein gutes Stück: 2019 waren bis Ende Juni 12.736 Verträge unterschrieben, rund 11 Prozent mehr als jetzt.« Auch aus anderen Landesteilen werden solche Signale gesendet: Ausbildungsmarkt im Saarland erholt sich langsam von Corona: »Kurz vor den Sommerferien ist der saarländische Ausbildungsmarkt auf Erholungskurs. Wie die IHK Saarland mitteilt, hat sie bis Ende Juni insgesamt 1631 Ausbildungsverträge neu eingetragen – eine deutliche Verbesserung gegenüber dem Krisenjahr 2020.«

Was berichtet die Bundesagentur für Arbeit (BA) zu dem Thema? Dazu ein Blick in den Monatsbericht zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt Juni 2021. Detaillierte Ausführungen zum Thema Ausbildung stehen unter dieser Überschrift: „Der Ausbildungsmarkt im Juni 2021: Spürbar weniger Einmündungen in Ausbildung“ (S. 28 ff.):

»Am Ausbildungsmarkt zeichnet sich im Juni 2021 im Kontext zunehmender Lockerungen eine Aufhellung im Vergleich zum letzten Berichtsjahr ab. Trotzdem ist die Lage weiterhin stark von den Folgen der Pandemie-Maßnahmen geprägt. Seit Beginn des Beratungsjahres 2020/21 ist vor allem die Zahl der gemeldeten Bewerberinnen und Bewerber im Vergleich zum Vorjahreszeitraum nochmals deutlich zurückgegangen, während die Zahl der gemeldeten Ausbildungsstellen mittlerweile den Stand des Vorjahres nur noch leicht unterschreitet. Auf Bewerberseite muss davon ausgegangen werden, dass viele Meldungen unterblieben sind, weil die gewohnten Zugangswege zur Berufsberatung, z. B. über die Kontakte in der Schule, eingeschränkt waren und zum Teil noch sind und durch digitale Angebote nicht vollständig ersetzt werden können. Der Anteil von Bewerberinnen und Bewerbern, die eine Berufsausbildung gefunden haben, fällt zwar etwas höher aus als im letzten Jahr, liegt aber weiterhin spürbar hinter den Vor-Corona-Jahren zurück.«

»Von Oktober 2020 bis Juni 2021 wurden dem Arbeitgeberservice der Bundesagentur für Arbeit und den Jobcentern in gemeinsamen Einrichtungen insgesamt 467.900 Berufsausbildungsstellen gemeldet. Das waren 14.500 weniger als im Vorjahreszeitraum (-3 Prozent). Damit setzt sich der bereits im Vorjahreszeitraum begonnene Rückgang (im Juni 2020 -9 Prozent) in diesem Berichtsjahr fort.«

An dieser Stelle muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass es eben gerade nicht „den“ Ausbildungsmarkt gibt, was aber immer wieder in der Berichterstattung suggeriert wird. denn wir haben es mit einer Vielzahl an regionalen, oftmals sogar nur lokal begrenzten Ausbildungsmärkten zu tun. Das hängt zusammen mit dem Alter und der im Regelfall nicht gegebenen oder nur eingeschränkt vorhandenen regionalen Mobilität der (potenziellen) Auszubildenden. Und auch die Berufswahl erfolgt im Regelfall nicht auf der Basis wie auch immer rationaler Kosten-Nutzen-Abwägungen seitens der jungen Menschen, sondern eine Vielzahl von Einflussfaktoren – von den Eltern über die Peer-Group bis hin zu den erreichbaren Angeboten an konkreten Ausbildungsplätzen – spielen hier zusammen und produzieren aus einer rein quantitativen Ausgleichsperspektive „verunreinigte“ Ergebnisse. Überhaupt kann man mit guten Gründen daran zweifeln, dass die Verwendung des „Marktbegriffs“ hier sinnvoll ist. Wenn, dann sollte man ihn nur mit größter Vorsicht benutzen.

Den Ausführungen der BA in ihrem Monatsbericht für Juni 2021 kann man dann auch bereits einige wichtige Hinweise auf die Notwendigkeit entnehmen, differenzierter hinzuschauen.

Beispiel Ausbildungsstellenangebot: »Regional fällt die Entwicklung unterschiedlich aus. In 10 Ländern war ein Rückgang der gemeldeten betrieblichen Ausbildungsstellen auszumachen. Das Minus gegenüber dem Vorjahr fiel, prozentual betrachtet, am stärksten aus in Hamburg, gefolgt von Hessen, Bayern und Baden-Württemberg. In 5 Ländern, vor allem in Bremen und Brandenburg war dagegen eine Zunahme zu beobachten.« Und das ist „nur“ die Ebene der Bundesländer, darunter gibt es weitere erhebliche Streuungen.

Hinsichtlich der Berufe: »Ein Rückgang im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ist sehr deutlich sichtbar in Ausbildungsberufen bei Unternehmen, die vom Lockdown besonders betroffen waren und teilweise noch sind wie Nichtmedizinische Gesundheitsberufe, Körperpflege (z. B. Friseure/-innen), Tourismus-, Hotel- und Gaststättenberufe oder Berufe in der Lebensmittelherstellung und -verarbeitung wie z. B. Köche/Köchinnen. Überdurchschnittlich weniger gemeldete betriebliche Ausbildungsstellen wurden auch registriert in Berufen der Finanzdienstleistungen und Steuerberatung (Bankkaufleute, Steuerfachangestellte) … Im Unterschied dazu ist in Medizinischen Gesundheitsberufen, in Verkehrs- und Logistikberufen und in Verkaufsberufen eine merkliche Zunahme von gemeldeten betrieblichen Ausbildungsstellen zu verzeichnen. Ebenso gab es mehr Stellenmeldungen für Bauberufe und Gebäude- und Versorgungstechnische Berufe (z. B. Anlagenmechaniker/-innen Sanitär-, Heizung-, Klimatechnik).«

Und wie sieht es bei denen aus, die eine Ausbildung suchen? »Seit Beginn des aktuellen Beratungsjahres am 1. Oktober 2020 haben insgesamt 385.000 Bewerberinnen und Bewerber die Ausbildungsvermittlung der Agenturen und der Jobcenter bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle in Anspruch genommen. Das waren 32.200 weniger als im Vorjahreszeitraum (-8 Prozent), nachdem bereits im Juni 2020 ein Rückgang von 9 Prozent zu beobachten war.«

Wie in den vergangenen Jahren auch wird einerseits von zahlreichen Ausbildungsstellen berichtet, die nicht (noch nicht) besetzt werden können, wie aber auch von einer erheblichen Zahl an „unversorgten“ Bewerbern. In einem Gesamtfazit bilanziert die BA: »Eine grundlegende Veränderung der berufsfachlichen Chancen im Kontext der Corona-Krise ist in den Ausbildungsmarktdaten nicht zu erkennen. Wie in den letzten Berichtsjahren fiel die Zahl der gemeldeten betrieblichen Ausbildungsstellen deutlich höher aus als die Zahl der gemeldeten Bewerberinnen und Bewerber, insbesondere in vielen Handwerksberufen wie in der Herstellung und im Verkauf von Fleisch- und Backwaren oder in Bau- und baunahen Berufen (z. B. Klempnerei, Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik oder Energietechnik), in Hotel- und Gaststättenberufen (trotz des coronabedingten deutlichen Angebotsrückgangs), aber auch in der Mechatronik und Automatisierungstechnik.« (S. 31).

Damit kommt die Bundesagentur für Arbeit beruhigender rüber als andere Einschätzungen. In denen zum einen auf den Einschnitt durch das erste Corona-Jahr hingewiesen wird – zugleich mit dem Hinweis, dass das durchaus differenziert zu sehen ist. »Im Corona-Jahr 2020 haben so wenige junge Menschen in Deutschland eine Ausbildung begonnen wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Doch es gibt große Unterschiede zwischen den Regionen und Branchen«, so beispielsweise dieser Artikel aus dem April 2021: Deutlich weniger Azubis. Und schon im Dezember 2020 wurde hier (Der „Corona-Effekt“ auf dem Ausbildungsmarkt. Der wird nicht nur im Jahr 2020 von Bedeutung sein, sondern lange nachwirken) darauf hingewiesen: Bereits in der Finanzkrise 2008/09 gab es einen Einbruch bei den Ausbildungszahlen (und der negative Effekt der Coronakrise im vergangenen Jahr ist quantitativ größer als der in der Finanzkrise). Die Erfahrung in und mit der damaligen Krise war, dass der mit ihr verbundene Rückgang der tatsächlichen abgeschlossenen Ausbildungsverträge nicht wieder korrigiert werden konnte, das Niveau der Zahl der Verträge blieb deutlich unter dem Krisenniveau.

Und im Februar 2021 wurde in dem Beitrag Das (duale) Berufsausbildungssystem unter doppeltem Druck: Vor und seit Corona. In diesem Jahr könnten erneut weniger und in einigen Betrieben gar keine Ausbildungsplätze angeboten werden mit Blick auf die Jahre vor Corona und die Perspektiven für das laufende Jahr ausgeführt: Allein in den knapp zehn Jahren zwischen 2010 und 2019, dem Jahr vor Corona, ist in den Bereichen Gastronomie, Hotellerie, Tourismus und Einzelhandel jeder dritte Ausbildungsvertrag weggebrochen. Und wenn man nicht nur 2020 einen zusätzlichen coronabedingten Tiefschlag zur Kenntnis nehmen muss, sondern sich dieser zusätzlich negative Effekt auch 2021 bemerkbar macht, dann wird der sowieso schon vorhandene Fachkräftemangel weiter an Dramatik zulegen.Allein in den knapp zehn Jahren zwischen 2010 und 2019, dem Jahr vor Corona, ist in den Bereichen Gastronomie, Hotellerie, Tourismus und Einzelhandel jeder dritte Ausbildungsvertrag weggebrochen. Und wenn man nicht nur 2020 einen zusätzlichen coronabedingten Tiefschlag zur Kenntnis nehmen muss, sondern sich dieser zusätzlich negative Effekt auch 2021 bemerkbar macht, dann wird der sowieso schon vorhandene Fachkräftemangel weiter an Dramatik zulegen.

Eine ebenfalls eher pessimistische Einschätzung wird auch in der Studie Kein Anschluss trotz Abschluss?! Benachteiligte Jugendliche am Übergang in Ausbildung von Dohmen et al. (2021) entfaltet: Die Zahl der neuen Ausbildungsverträge wird in diesem Jahr noch einmal deutlich sinken: Das FiBS schätzt, dass dieses Jahr nur noch rund 430.000 Ausbildungsverträge im dualen System unterschrieben werden könnten. Das sind fast 100.000 weniger als noch 2019 und 35.000 weniger als 2020. Die sich weiter ausdifferenzierende Gleichzeitigkeit des „zu wenig“ und „zu viel“ kann man auch an diesem in der Studie des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) hervorgehobenen Aspekt ableiten: Der Anteil der Abiturienten in der dualen Berufsausbildung ist gestiegen, »während Jugendliche mit Realschul- oder Hauptschulabschluss immer schlechtere Chancen haben, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Es steht daher zu befürchten, dass diese Jugendlichen zukünftig noch schlechtere Chancen auf eine Ausbildung haben werden.«

Mit der Frage eines möglichen Corona-Effekts, dem von Dohmen et al. (2021) hervorgehobenen Aspekt eines steigenden Anteils junger Menschen mit einer Hochschulzugangsberechtigung in der dualen Berufsausbildung (und daraus durchaus resultierenden Verdrängungsprozessen) wie aber vor allem dem Einfluss der lange vor Corona bereits wirkenden demografischen Entwicklung auf das Ausbildungssystem hat sich Tobias Meier vom Bundesinstitut für Berufsbildung in einem Aufsatz beschäftigt:

➔ Tobias Meier (2021): Markiert die COVID-19-Krise einen Wendepunkt auf dem Ausbildungsmarkt? Ein Ausblick auf die mögliche Entwicklung neuer Ausbildungsverträge bis 2030, in: BWP, Heft 2/2021

Der Zusammenfassung können wir entnehmen: Im Zusammenhang mit der COVID-19-Krise ging die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 57.600 Neuverträge zurück und erreichte damit den niedrigsten Wert seit 1975. Der Beitrag zeigt auf, dass der Einbruch nur deshalb so stark ausfiel, weil in den drei Jahren zuvor erstaunlich viele Jugendliche – insbesondere mit (Fach-)Hochschulreife – eine betriebliche Ausbildung aufnahmen. Das niedrige Niveau an Ausbildungsverträgen war aus demografischer Sicht vorhersehbar.

Meier kommt zu einem differenzierten Ausblick: »Die COVID-19-Krise hat den – womöglich durch Engpässe auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt hervorgerufenen – Trend zu höheren Einmündungsquoten, insbesondere bei formal höher qualifzierten Schulabgängerinnen und -abgängern, gestoppt. Für die betriebliche Ausbildung wird es nun zum einen darauf ankommen, ob diese Schulabgänger/-innen in einer konjunkturellen Aufschwungphase wieder für eine duale Ausbildung begeistert werden können, und zum anderen, ob eine (wieder) zunehmende Integration von Personen mit Mittlerer Reife und (Fach-)Hochschulausbildung nicht zu Lasten von Personen mit bzw. ohne Hauptschulabschluss geht. Die positive Nachricht für Betriebe ist, dass die Zahl an ausbildungsinteressierten Jugendlichen demografebedingt nicht weiter zurückgehen wird. Ab 2027 kann sogar mit einer leicht höheren Nachfrage gerechnet werden. Von dieser können die Betriebe aber nur proftieren, wenn sie ihre Ausbildungsbemühungen bis dahin aufrechterhalten. Ziehen sich die Betriebe von der betrieblichen Ausbildung zurück, führt dies bei den stagnierenden Schulabgängerzahlen dazu, dass die Nachfrage nach Ausbildung das Angebot übersteigt. Dies wäre vor allem für die geringer qualifzierten Schulabgänger/-innen von Nachteil und könnte wieder vermehrt außerbetriebliche Bildungsmaßnahmen erfordern.Von politischer Seite wäre es daher ratsam, ausbildende Betriebe, insbesondere Kleinbetriebe, in ihrem Ausbildungsengagement zu unterstützen bzw. besser über bereits bestehende Unterstützungsmaßnahmen – wie beispielsweise die Assistierte Ausbildung oder Verbundausbildung … zu informieren.« (Meier 2021: 24).

Eine mit zahlreichen Abbildungen bestückte Übersicht zu den Entwicklungen auf „dem“ Ausbildungsmarkt findet man in dem Beitrag Ein „Corona-Jahrgang“ der Berufsausbildung? von Benjamin Fischer, der am 5. Juli 2021 veröffentlicht wurde: »Die Pandemie hat Angebot und Nachfrage am Ausbildungsmarkt einbrechen lassen. Viele Probleme existierten aber schon vorher.«