Fast alle klagen über die Folgen und die Belastungen durch die Corona-Pandemie und die Liste der Verlierer wird immer länger. Aber nicht wirklich alle werden darin einstimmen – denn wie immer gibt es auch Gewinner. Und ein Gewinner steht definitiv fest: Amazon. Schon das erste Corona-Jahr, also 2020, war ein „Geschenk“ für diesen global aufgestellten Konzern, Dazu muss man sich nur diese beiden Abbildungen anschauen:
Und diese Abbildung enthält noch nicht das für den Konzern so außergewöhnlich „bescherungsreiche“ 4. Quartal 2020, denn mit den letzten drei Monaten des vergangenen Jahres haben die Zahlen noch einmal einen richtigen Sprung nach oben hingelegt: Insgesamt 125,56 Mrd. US-Dollar setzte Amazon im 4. Quartal 2020 um, dies entspricht einem Umsatzwachstum um 44 Prozent gegenüber dem Vorjahr (2019).
Und auch auf der Ebene der immer wieder in den Medien thematisierten Beschäftigungsbedingungen bei Amazon – man denke hier in Deutschland an die wie eine „Und täglich grüßt das Murmeltier“-Dauerschleife daherkommenden Versuche der Gewerkschaft ver.di, den Konzern für seine deutschen Ableger in einen Tarifvertrag zu zwingen – sprechen wir mit Blick auf die reinen Zahlen von einer Mega-Maschine, die im vergangenen Jahr gleichsam abgehoben hat: Allein für die ersten zehn Monaten des Corona-Jahres 2020 hat Amazon mehr als 427.000 neue, zusätzliche Beschäftigte ausgewiesen und damit eine Gesamtbeschäftigungszahl von 1,2 Millionen Menschen überschritten.
Wenn man das gesamte Jahr 2020 berücksichtigt, dann wird der große Sprung deutlich erkennbar, den der Konzern mit dem Rückenwind der Corona-Pandemie hat machen können:
Der Kampf der (und um die) Amazon-Arbeiter in Alabama, USA
Die Berichte über die teilweise mehr als fragwürdigen Arbeitsbedingungen bei Amazon füllen nicht nur in Deutschland Schrankwände. Und man kann sich vorstellen, dass die Bedingungen in den USA nochmals erheblich schlechter sind im Mutterland des Konzerns, also in den USA. Aber jüngst konnte man Nachrichten aus diesem den Gewerkschaften mehr als nicht wohlgesonnenen Land zur Kenntnis nehmen, die Hoffnung verbreiteten:
»Bernie Sanders ist elektrisiert. Der weißhaarige Senator aus Vermont und selbsterklärte Sozialist hofft, dass im tiefen Süden der USA bald Geschichte geschrieben wird. „Das wird ein Schuss, der auf der ganzen Welt gehört wird“, sagte Sanders kürzlich bei CBS. Und er glaubt, das werde viele andere Arbeiter ermutigen, sich Gewerkschaften anzuschließen.«
Unter der markigen Überschrift Arbeiterkampf in Alabama berichtete Katrin Brand am 15. März 2021 aus den Staaten: »Alabama und Amazon, das ist in der Tat eine historische Konstellation. Alabama hat voriges Jahr zu über 62 Prozent Donald Trump gewählt, Gewerkschaften haben hier einen schweren Stand. Und nun stimmen ausgerechnet in Alabama fast 6000 Amazon-Beschäftigte darüber ab, ob sie sich gewerkschaftlich organisieren wollen – der bislang größte Angriff auf den Konzern, der in den USA bisher jeden Versuch dieser Art abwehren konnte.«
Als Amazon 2020 eine große Lieferzentrale baute, war das für die rund 30.000 überwiegend schwarzen Einwohner von Bessemer, benannt nach Henry Bessemer, dem Erfinder eines Verfahrens zur Stahlerzeugung, zunächst eine gute Nachricht. Nach dem Niedergang von Kohle und Stahl fiel die Kleinstadt ins Elend: hohe Arbeitslosigkeit, hohe Gewaltkriminalität. Wer konnte, zog weg. Amazon zahlt den doppelten Mindestlohn von Alabama. Hört sich gut an, aber auch hier gab es Klagen über die Arbeitsbedingungen: »Lange Arbeitsstunden mit nur zwei Pausen, lange Wege, treppauf, treppab, wenn jemand mal aufs Klo muss. Andere beschweren sich über die Überwachung und ein hohes Arbeitstempo. Und dann kam auch noch Covid-19.« Die Menschen, die bei Amazon arbeiten, »hätten das Gefühl gehabt, dass man sich nicht ordentlich um ihre Gesundheit und Sicherheit gekümmert habe … Zur eigenen Ohnmacht kam bei ihnen noch der Zorn auf Amazon-Chef Jeff Bezos hinzu, der in der Pandemie sein Vermögen um zig Milliarden Dollar vergrößerte.«
An sich, so könnte man meinen, eine gute Ausgangslage für Gewerkschaften, die betroffenen Arbeitnehmer zu organisieren und kollektiv dem Arbeitgeber Verbesserungen abzuringen. Dazu müssen aber die Arbeitnehmer für eine Vertretung durch eine Gewerkschaft aktiv stimmen – und man liest im folgenden Zitat schon die Zweifel: »Bis Ende März stimmen sie nun per Briefwahl über den Beitritt zur Gewerkschaft ab. Längst nicht alle Angestellten sind dafür, zumal Amazon massiv Stimmung mache, so wird berichtet. Der Konzern drohe mit Kündigungen oder Betriebsverlagerung.« Die Gewerkschaft hingegen – konkret geht es hier in diesem Fall um die Einzelhandelsgewerkschaft Retail, Wholesale and Department Store Union (RWDSU), die etwa 100.000 Mitglieder in den USA repräsentiert und mit der größeren United Food and Commercial Workers Union (UFCW), etwa 1,3 Mio. Mitglieder, verbunden ist – setzte und hoffte auf die jahrzehntelange Gewerkschaftstradition in Bessemer (und auf den enormen Rückenwind aus der Politik, der von Bernie Sanders bis hinauf zum US-Präsidenten Biden reicht.
Und dann das: Gewerkschaftsbildung bei Amazon in den USA gescheitert: »Von den mehr als 5.800 Mitarbeitern des Logistikzentrums gaben letztlich 3.215 ihre Stimme ab. Bei der laufenden Stimmauszählung überschritt das Nein-Lager die Mehrheitsschwelle von 1.608 Stimmen. Zu diesem Zeitpunkt waren lediglich etwas mehr als 600 Jastimmen gezählt.« Wie kann das sein? In der Meldung findet man einen möglichen Ansatzpunkt: »Amazon … ging entschieden gegen die Pläne vor. In dem Logistikzentrum in Bessemer sprach sich die Geschäftsleitung bei Konferenzen und sogar auf Flyern in den Toiletten gegen Gewerkschaften aus. Sie richtete auch eine Internetseite ein, auf der sie Argumente anführt, warum eine Gewerkschaft unnötig sei.«
Mittlerweile liegen die vorläufigen Abstimmungsergebnisse vor, die vom National Labor Relations Board (NLRB) veröffentlicht wurden. Das wichtigste Ergebnis: »A majority of the valid votes counted plus challenged ballots has not been cast for the Petitioner, the Retail, Wholesale and Department Store Union.«
Wenn man nur die bislang gültigen Ja- oder Nein-Stimmen berücksichtigt, dann ist das Ergebnis eine krachende Niederlage für die Gewerkschaft: Noch nicht einmal 30 Prozent der ausgezählten und gültigen Stimmen entfallen auf das Votum für eine gewerkschaftliche Vertretung durch die RWDSU. Selbst wenn alle der 505 angefochtenen Stimmzettel (die meisten wurden angeblich von Amazon hinsichtlich ihrer Gültigkeit angegriffen) vollständig auf das Lager der Gewerkschaftsbefürworter entfallen würden, kann der notwendige Anteilswert nicht erreicht werden, denn beide Seiten benötigen 1.521 Stimmen, um gewinnen zu können.
Man kann es drehen und wenden wie man will: Amazon’s Win Delivers a Stinging Defeat to the U.S. Labor Movement, so die Überschrift eines Artikels von Josh Eidelson, der von Bloomberg veröffentlicht wurde: »Unionizing the company’s Bessemer, Ala. warehouse became a rallying cry for worker advocates, but that wasn’t enough.«
Auf der einen Seite muss man die Veränderungen sehen, in einem Land, in dem in den vergangenen Jahrzehnten „top nonunion American companies have been virtually impervious to organizing efforts“: »The election had signaled a massive shift in Amazon’s labor relations. A few years ago, collective action by Amazon employees was rare, but the safety issues thrown into high relief by the Covid-19 pandemic, in tandem with increased funds and focus from unions, have made strikes and protests at the company’s warehouses more common. The #BlackLivesMatter movement and organizing efforts by Alabama poultry workers also helped RWDSU sign up thousands of Bessemer employees. It wasn’t enough.«
Er weist darauf hin, dass das Abstimmungsergebnis von Bessemer in den kommenden Jahren immer wieder von Amazon als Rechtfertigung für die (gewerkschaftsfeindliche) Beschäftigungspolitik zitiert werden wird.
Wie konnte es zu dieser Niederlage kommen? Eidelson weist zum einen auf strategische Fehler der Gewerkschaft RWDSU hin, so beispielsweise „that they accept votes during the seven-week election from hundreds of additional employees, including temps.“ Allerdings sei das nicht ausschlaggebend gewesen, sondern ein Grundproblem in den USA: „But the bigger challenges were the structural disadvantages that face workers trying to organize at any major nonunion company in the U.S.“
Und er beschreibt das enorme Ungleichgewicht zwischen den Unternehmen und den Gewerkschaften: »Companies are allowed to force workers into group meetings and one-on-one discussions that include predictions of dire consequences in the event of unionization. (Employees say Amazon did so in Bessemer; the company says it hosted “information sessions” so employees could “understand the facts.”) “Being under the watchful eye and control of the employer all day long – and subject to the messages of the employer, for which there’s no equal time for the union – detracts from it really being a fair and free election,” says Wilma Liebman, a former chair of the National Labor Relations Board.« Und auch das hier aus der Waffenkammer des Union Busting sollte man nicht vergessen: »Employers also have incentives to illegally punish or fire activist workers, which labor board prosecutors have accused Amazon of doing at other warehouses.«
Und selbst wenn eine Abstimmung zugunsten einer gewerkschaftlichen Vertretung ausgegangen ist, zeigen die Erfahrungen in den USA, dass die Arbeitnehmer keineswegs in absehbarer Zeit oder überhaupt in den Genuss einer tarifvertraglichen Absicherung gelangen, denn »employers aren’t legally compelled to complete a union contract in a specified period of time, so about half of workers who win union votes won’t have a union contract a year later. Some companies simply shut down operations that unionize.« Es überrascht nicht, dass einige Beschäftigte bei Amazon in Bessemer genau über diese Drohung seitens des Unternehmens während der siebenwöchigen Wahlperiode berichtet haben.
Den Einzelfall Bessemer kann man vor diesem Hintergrund einordnen in dieses seit langem beklagte Strukturproblem in den USA: »Unions have failed to reform federal labor laws for most of the past century, stymied repeatedly by fervent Republican opposition, Democratic ambivalence, and the Senate filibuster.«
Zu der Frage nach dem Warum der krachenden Niederlage vgl. auch die Analyse von Jörg Wimalasena unter der Überschrift Herbe Niederlage: »Aus der Hoffnung, im gewerkschaftsfeindlichen Süden der USA endlich einen Erfolg verbuchen zu können, ist nun eine bittere Enttäuschung geworden, die vor allem der Arbeiterbewegung zu denken geben sollte. Denn in den vergangenen Jahren scheiterten bereits andere große Organisationsinitiativen in den Südstaaten, etwa 2019 bei Volkswagen in Chattanooga oder 2018 bei Boeing in North Carolina. Offenkundig gelingt es den Gewerkschaften nicht, ihre Botschaften gegen die gut finanzierte Opposition der Unternehmen zu verbreiten. Eine detaillierte Aufarbeitung der Niederlage bei Amazon ist notwendig, um herauszufinden, warum die Mitarbeiterinnen sich gegen die RWDSU entschieden.«
Exkurs: Die enormen Auswirkungen der erodierten kollektiven Lohnverhandlungen in den USA
Parallel zu den Ereignissen in Alabama hat das Economic Policy Institute (EPI) in Washington einen neuen Report veröffentlicht, in der es um die Auswirkungen der seit vielen Jahren rückläufigen „Tarifbindung“ (so würde man das in Deutschland bezeichnen) geht, also der eben nicht individuellen, sondern über eine Gewerkschaft vermittelten kollektiven Lohnverhandlung:
➔ Lawrence Mishel (2021): The enormous impact of eroded collective bargaining on wages, Washington, DC: Economic Policy Institute (EPI), April 8, 2021
Ein wichtiger Faktor, der das Wachstum der Löhne für Durchschnittsverdiener gedrückt und die Lohnungleichheit in den letzten vier Jahrzehnten vorangetrieben hat, ist die Erosion der Tarifverhandlungen. Die Zahlen sehen wirklich schlecht aus: Der Anteil der Arbeitnehmer, die unter einen Tarifvertrag fallen, ist von 27,0 % im Jahr 1979 auf nur noch 11,6 % im Jahr 2019 gefallen.Die Erosion der kollektiven Lohnverhandlungen hat sich besonders nachteilig auf die Löhne von Männern ausgewirkt, da Männer 1979 weitaus häufiger gewerkschaftlich organisiert waren als Frauen (damals waren 31,5 % der Männer von Tarifverhandlungen erfasst, gegenüber 18,8 % der Frauen).
Der Report aus dem EPI liefert einige handfeste Zahlen in Dollar und Cent, was diese Erosion bedeutet hat:
➔ Für den „typischen“ oder Median-Arbeitnehmer bedeutet der Rückgang der gewerkschaftlichen Organisierung einen Verlust von 1,56 Dollar pro Arbeitsstunde, was einem Gegenwert von 3.250 Dollar für einen Vollzeitbeschäftigten im ganzen Jahr entspricht.
➔ Ein rückläufiger gewerkschaftlicher Organisationsgrad vergrößerte die Ungleichheit zwischen den Hochlohn- und Durchschnittslohnverdienern. Die „Deunionization“ vergrößerte die 90/50-Lohnlücke (die Lücke zwischen den Verdienern am 90. Perzentil der Lohnverteilung und dem 50. Perzentil) um 7,7 Punkte und erklärt somit 33,1 % des 23,2-Punkte-Wachstums der Lohnlücke zwischen den Hoch- und Durchschnittslohnverdienern im Zeitraum 1979-2017 („Durchschnitt“ gemessen am Median).
➔ Die Gewerkschaften in den USA sind überdurchschnittlich stark vertreten bei denjenigen mit niedrigen und mittleren Löhnen, denjenigen mit niedrigerem Bildungsniveau und den Nicht-Weißen – und dies ist seit der Geburt der modernen Arbeiterbewegung im New Deal der Fall gewesen. Die Aushöhlung der Tarifverhandlungen hat dementsprechend die Lohnungleichheit erhöht.
Zu welchen Schlussfolgerungen kommt Mishel (2021)? Er schreibt am Ende des Reports: Das Lohnwachstum wird stark von politischen Entscheidungen gesteuert und ist eine politische Variable. Es reagiert – robust – auf große politische Veränderungen. Politische Entscheidungsträger können der großen Mehrheit der US-Arbeiter Wohlstand auf der Grundlage eines schnelleren Lohnwachstums verschaffen. Ob die Arbeitnehmer in Zukunft einen fairen Anteil an den Gewinnen in der Wirtschaft erhalten, wird nicht so sehr von abstrakten Kräften abhängen, die sich ihrer Kontrolle entziehen, sondern davon, dass sie von ihren politischen Vertretern verlangen, dass sie den Arbeitnehmern die Verhandlungsmacht zurückgeben, individuell und kollektiv. Gesetze, die Tarifverhandlungen ausweiten, indem sie den Arbeitnehmern die Möglichkeit geben, sich für eine gewerkschaftliche Vertretung zu entscheiden und die die Rechte der Gewerkschaften stärken, sind von entscheidender Bedeutung für die Wiederherstellung eines robusten Lohnwachstums.
Sind es immer nur „die anderen“ und „das“ System? Bei allen Versuchen, die erneute Niederlage zu erklären, bleibt ein „Eigenanteil“ – und das ist auch relevant für Deutschland
Die auf der Ebene eines aktuellen Einzelfalls am Beispiel von Amazon-Arbeitern in Bessemer, Alabama, beschriebene weitere Niederlage der sowieso schon seit vielen Jahren geschwächten Gewerkschaftsbewegung kann und muss sicher eingeordnet werden in die vielen Aktivitäten der Unternehmen, durch teilweise massives und zerstörerisches Union Busting eine Renaissance der Gewerkschaften in den Betrieben zu verhindern und sie erhalten massive politische Rückendeckung seitens der Republikaner, aber auch durch „ambivalente“ Demokraten, wo es durchaus zahlreiche Gewerkschaftsskeptiker und -gegner gibt. Auch das US-amerikanische Arbeitsrecht ist sicher ein Hemmschuh für Strategien einer Stärkung kollektiver Verhandlungen über die Arbeitsbedingungen.
Und man kann sogleich von der wirklich krachenden Abstimmungsniederlage in Bessemer abzulenken versuchen, wie das beispielsweise in diesem Kommentar von Moritz Wichmann passiert: Eine Schlacht verloren: »Die Gewerkschaft in Alabama verliert eine wichtige Wahl deutlich, aber: Spontaner Wildcat-Strik bei Amazon in Chicago zeigt Basisaktivismus unter den Amazon-Beschäftigten.« Und weiter: »Dass die Abstimmung in Alabama mit 1798 zu 738 Stimmen deutlicher verloren ging als vorher viele Beobachter dachten, die einen knappen Ausgang erwarteten, ist nur eine verlorene Schlacht. Der Kampf geht weiter.« Der Autor verweist auf einen spontanen Wildcat-Strike in Chicago. Im Zuge eines „walkout“ verließen die Arbeiter eines Amazon-Warenlagers aus Protest gegen die harschen Arbeitsbedingungen des neuen Megacycle-Schichtsystems ihre Arbeitsplätze. Sie wollen sich nun auch über einzelne Warenhäuser hinweg in der Region organisieren. Die Teamster-Transportarbeitergewerkschaft will in Iowa Amazon-Fahrer organisieren und nicht per Wahl eine Anerkennung gewerkschaftlicher Vertretung, sondern durch Streiks.
Das mag alles sein und ist sicher auch berichtenswert – es ändert aber nichts an der eben auch notwendigen Anfrage, warum – nicht nur in Bessemer – die betroffenen Arbeitnehmer so deutlich eine gewerkschaftliche Vertretung abgelehnt haben. Das kann nich ausschließlich an irgendwelchen Störaktionen der Arbeitgeber liegen, die sicher ihren Anteil haben. Man kann und muss zwei weitere Erklärungsansätze in den Blick nehmen (auch wenn es den pro-gewerkschaftlichen Lager natürlich weh tut):
➔ Zum einen könnte die hohe Ablehnung auch darauf zurückzuführen sein, dass die Betroffenen das gewerkschaftliche Angebot gar nicht so attraktiv finden, wie viele Aktivisten aus der Gewerkschaftsbewegung vielleicht automatisch oder unbewusst annehmen. Vielleicht gibt es auch schmerzhafte und negative Erfahrungen mit Gewerkschaften aus der Vergangenheit, die Arbeitnehmer davor zurückschrecken lassen, in einer gewerkschaftlichen Vertretung etwas Sinnvolles erkennen zu können.
➔ Und einen weiteren Aspekt muss man vor dem Hintergrund des sowieso schon generell niedrigen Organisationsgrades, der dann in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes, also da, wo die Bedingungen besonders schlecht sind und der Bedarf an kollektiver Aktion besonders groß ist, nochmals niedriger ausfällt, aufrufen: Es gibt durchaus viele Arbeitnehmer, die schlichtweg nicht den Hintern hochbekommen, sich zu organisieren und zu engagieren. Die glauben, dass ihre Probleme von anderen gelöst werden müssen, die vielleicht auch schon abgeschlossen haben und überhaupt keine Verbesserung mehr erwarten. Wie dem auch sei, man kann und darf nicht immer nur „die anderen“ oder „das“ System verantwortlich brandmarken, sondern man muss auch die Frage stellen, warum so viele Beschäftigte gerade in den Niedriglohnbranchen offensichtlich keine Lust haben, sich an einer kollektiven Gegenwehr zu beteiligen. Das kann eben auch an den betroffenen Arbeitnehmern selbst liegen, nicht immer nur an den anderen.
Und seien wir ehrlich, die beiden hier – wohlgemerkt – ergänzend vorgeschlagenen Dimensionen zur Erklärung der offensichtlichen Organisationsprobleme von Gewerkschaften gerade in den Segmenten des Arbeitsmarktes, wo sich nur durch kollektive Aktion etwas verändern kann und wird allein aufgrund der sehr ungleichen Machtverhältnisse zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-Seite, sind auch für Deutschland höchst relevant.
Die aktuelle Diskussionen über anzustrebende und in Sonntagsreden gerne auch eingeforderte Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in der Pflege beispielsweise können nicht richtig geführt werden, wenn man nicht zur Kenntnis nimmt, dass die eigentlich dafür zuständige Gewerkschaft ver.di im Bereich der Altenpflege, also da, wo die schlechtesten Arbeitsbedingungen vorherrschen und der dringendste Handlungsbedarf besteht, teilweise gar nicht oder nur in molekularer Größenordnung vertreten ist. Und das ein Organsiationsgrad von wahrscheinlich deutlich unter 10 Prozent den Arbeitgebern keine Sorgen bereiten muss, versteht sich von selbst. Nun muss die Antwort auf die naheliegende Frage nach dem Warum vielgestaltig ausfallen, es gibt eben nicht den einen alles einfangenden Grund. Vieles davon kann man nur historisch verstehen, anderes hat mit Besonderheiten im jeweiligen Feld zu tun (in der Altenpflege beispielsweise der immer noch hohe Anteil kirchlich gebundener Träger mit ihren zahlreichen Sonderrechten gegenüber den dort Beschäftigten) – aber ein Teil der Erklärung muss in Rechnung stellen, dass es einerseits massive Akzeptanzprobleme der Gewerkschaft ver.di bei einem großen Teil der Pflegekräfte gibt (und die Gewerkschaft tut gut daran, diesen Tatbestand anzuerkennen und auch selbstkritisch zu reflektieren, ob es Gründe bei ihr gibt, die zu diesem Ergebnis geführt haben), andererseits müssen sich aber auch viele Pflegekräfte dahingehend befragen lassen, warum sie immer noch offensichtlich daran glauben, dass es gleichsam analog zur unbefleckten Empfängnis zu einem Durchbruch in „der“ Politik kommt, mit der Folge, dass ein „weißer Ritter“ von dort herabsteigt und die Pflegekräfte beglückt werden mit kräftig steigenden Löhnen und besseren Personalschlüsseln.
Und die am Beispiel der Altenpflege aufgerufenen Probleme einer gewerkschaftlichen Organisierung haben wir doch auch in anderen Branchen, in denen der Bedarf an Kollektivierung (eigentlich) besonders hoch ist. Man denke hier nur an den Einzelhandel. Oder andere Segmente der Dienstleistungen. Alle politischen Stützungs- und Förderversuche hinsichtlich einer stärkeren Tarifbindung und alle Organizing-Versuche engagierter Gewerkschafter werden am Ende des Tages ins Leere laufen (bzw. wenn, dann einige wenige Leuchttürme produzieren), wenn nicht bei den Arbeitnehmern ein bestimmter Resonanzboden vorhanden ist, der über den reinen Konsum irgendwelcher Klimmzüge von anderen hinausreicht und der auch das mehr oder weniger aktive Einbringen beinhaltet.