Da wurde stundenlang mehr oder weniger, auf alle Fälle virtuell gerungen in der Runde der Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin, wie es nun weiter gehen soll, mit dem Teil-Lockdown in Deutschland. Und während selbst der gutmütigste Bürger langsam aber sich an die Grenzen der nur noch durch komplexe tabellarische Darstellungen einschließlich zahlreicher Fußnoten darstellbarer Regelungen und Ausnahmen kommt und ein Bachelor-Studium notwendig wird, um dem noch im Detail folgen zu können, gibt es auch Unternehmen, die erneut eine oder mehrere Flaschen Schaumwein köpfen können: die Online-Händler, allen voran Amazon und die Paketdienste, bei denen die Kennzahlen die gleiche Richtung haben wie die Corona-Infektionen in der ersten Phase der ersten und nunmehr der zweiten Welle: nach oben, aber richtig steil nach oben. Damit kann ein seit Jahren anhaltendes außerordentliches Wachstum fortgesetzt werden, das zurückzuführen ist auf die Expansion der Online- und Versandhändler.
In der Abbildung mit der monatlichen preisbereinigten Umsatzentwicklung kann man erkennen: Seit 2015 macht sich insbesondere das Weihnachtsgeschäft im Online-Einzelhandel bemerkbar. Mit Aktionsangeboten wie dem „Black Friday“ oder „Cyber Monday“ locken die Einzelhändler, um das Weihnachtsgeschäft anzukurbeln. Die Umsätze im Online-Einzelhandel stiegen von Oktober auf November 2019 real um 17,5 %, von November auf Dezember noch einmal um 1,8 %. Auch in den Jahren davor gab es immer wieder diese starken Umsatzausschläge nach oben im jeweiligen November.
Zur aktuellen Entwicklung im noch laufenden Jahr 2020 berichtet das Statistische Bundesamt: Der »seit Jahren anhaltenden Boom im Online-Einzelhandel … nahm im Jahr 2020 – auch als Folge der Corona-Pandemie – noch einmal deutlich an Fahrt auf. Von Januar bis September 2020 setzte der Online-Einzelhandel real (preisbereinigt) 21,2 % mehr um als im entsprechenden Vorjahreszeitraum. Im Vergleich dazu ist die Entwicklung im Einzelhandel in Verkaufsräumen auf einem niedrigen Niveau. In den ersten neun Monaten im Jahr 2020 lag der Umsatz im Einzelhandel in Verkaufsräumen um 0,8 % über dem Umsatz im entsprechenden Vorjahreszeitraum.«
Und das ganze im Internet per Klick bestellte Zeug muss dann ja auch zu den Kunden nach Hause gebracht werden und insofern befinden sich die Paketdienste im Schlepptau der vorgelagerten Entwicklung im Online- und Versandhandel. Einige Aspekte der Situation der dort arbeitenden Menschen (die in diesem Blog in den vergangenen Jahren immer wieder in zahlreichen Beiträgen zu den Paketdiensten behandelt wurde) hat das Statistische Bundesamt beleuchtet. Dazu ausführlicher die Mitteilung vom 25. November 2020: Boomende Paketdienst-Branche: 63 % der Beschäftigten arbeiten an Wochenenden und Feiertagen. Ein dort genannter Aspekt ist beispielsweise die Arbeitszeit: »Zwei von drei Erwerbstätigen (63 %) bei Post-, Kurier- und Expressdiensten arbeiteten im Jahr 2019 auch am Wochenende und an Feiertagen … Damit ist ihr Anteil wesentlich höher als in der Gesamtwirtschaft (36 %).«
Aber dann wird doch im Boom wenigstens der Verdienst nach oben gehen …
Sollte man meinen, wenn man mit eher naiven Vorstellungen an die Preisbildung auf den Arbeitsmärkten an die Sache herangeht. Vor allem, wenn man die zahlreichen Medienberichte zur Kenntnis nimmt, nach denen händeringend Personal gesucht wird für das Ende der Lieferkette in der Amazon-Welt von heute. Also wenn die Knappheit an Arbeitskräften zunimmt, dann müsste doch … Offensichtlich aber will die Praxis nicht zur Theorie passen. Bereits im April 2019 wurde hier dieser bereits mit der Überschrift irritierende Beitrag veröffentlicht: Die Paketbranche boomt – und die Löhne der Paketzusteller sinken? Das darf doch gar nicht sein. Eigentlich. Dort musste man zur Kenntnis nehmen: »Der Markt der Paketdienste boomt, aber die Verdienste der Beschäftigten gehen trotz wachsender Nachfrage immer weiter zurück. Wie die Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken mitteilte sank das mittlere Bruttomonatsentgelt in der Branche von 2007 bis 2017 von 2.859 auf 2.478 Euro. Das ist eine Abnahme um 13 Prozent. Zugleich stiegen die Vergleichsentgelte in der Gesamtwirtschaft um 23,7 Prozent.«
Und nun, am Jahresende 2020, legt das Statistische Bundesamt nach und berichtet scheinbar abweichend von dem Passus aus dem vergangenen Jahr wenigstens von einem kleinen Wachstum der Löhne, allerdings bezieht sich das nicht wie 2019 auf das mittlere Einkommen, sondern auf alle Einkommen in der Branche – und selbst das sieht schlecht aus zum Vergleich:
»Vom Boom der Post-, Kurier- und Expressdienste profitierten die Beschäftigten der Branche nur teilweise. So fiel der Verdienstzuwachs in der Branche in den vergangenen zehn Jahren nur etwas mehr als halb so hoch aus wie in der Gesamtwirtschaft: Im Vergleich zum Jahr 2010 stieg der Bruttomonatsverdienst aller Beschäftigten in der Branche Post-, Kurier- und Expressdienste um 15,6 %. Im selben Zeitraum legten die Verdienste insgesamt um 25,6 % zu.«
Und dann wird noch genauer hingeschaut:
»Die Post-, Kurier- und Expressdienste gehören innerhalb des Produzierenden Gewerbes und Dienstleistungsbereichs zu den Branchen mit den niedrigsten Verdiensten. Vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Branche verdienten 2019 durchschnittlich 2.924 Euro brutto im Monat und damit rund 1.000 Euro weniger als der Durchschnitt aller Beschäftigten (3.994 Euro brutto monatlich). Bei den rund 92 % der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die als Fachkraft, angelernte oder ungelernte Kraft arbeiteten, lag der durchschnittliche monatliche Bruttoverdienst teilweise deutlich niedriger: Fachkräfte verdienten durchschnittlich 2.907 Euro, angelernte Kräfte 2.403 Euro und ungelernte im Schnitt 2.019 Euro.«
Diese unterdurchschnittliche Lohnentwicklung muss vor dem Hintergrund einer gleichzeitig überdurchschnittlichen Zunahme der Beschäftigtenzahlen in diesem Bereich gesehen werden:
»Von den relativ niedrigen Löhnen ist eine wachsende Zahl von Beschäftigten betroffen: Die Zahl der Erwerbstätigen bei den Post-, Kurier- und Expressdiensten stieg von 2010 bis 2018 um 17,3 % auf rund 521.000 Personen. Damit wuchs der Personalbestand dieser Branche stärker als die Beschäftigtenzahl der deutschen Wirtschaft insgesamt, in der es im gleichen Zeitraum 9,3 % mehr Erwerbstätige gab.«
Wir sprechen hier also über eine Branche, in der mehr als eine halbe Million Beschäftigte unterwegs sind.
Wie kann das sein? Natürlich spielen hier mehrere Faktoren eine Rolle. Dass diese Entwicklung auch und gerade etwas damit zu tun hat, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad der in der Branche beschäftigten Arbeitnehmer mehr als überschaubar, in Teilbereichen überhaupt nicht vorhanden ist, überrascht jetzt nicht wirklich als einer der Erklärungsansätze für die unterdurchschnittliche Lohnentwicklung. Zugleich spielt auch eine Rolle, dass in der Branche jahrelang auf den Import billiger Arbeitskräfte vor allem aus Osteuropa gesetzt wurde und wird. Eine Entwicklung, die wir ja auch aus anderen hochproblematischen Bereichen kennen wie den Schlachthöfen. Dass die damit einhergehenden Ungleichgewichte zuungunsten der Arbeitnehmerseite so groß sind, dass im Zusammenspiel mit der nur rudimentären, teilweise sogar gar nicht vorhandenen gewerkschaftlichen Gegenmacht sogar Schutzmaßnahmen seitens des Staates durch gesetzgeberisches Handeln notwendig erscheint, hat im vergangenen Jahr das „Paketboten-Schutz-Gesetz“ verdeutlicht (vgl. dazu den Beitrag Mit dem „Paketboten-Schutz-Gesetz“ will der Bundesarbeitsminister den Wilden Westen der Paketzustellung einhegen. Die Nachunternehmerhaftung soll kommen. Aber das wird nicht reichen vom 19. September 2019).
Auf der Unternehmensseite bildet die breite und überaus heterogene Schicht von Subunternehmen, die im Auftrag der Paketdienste arbeiten, die Grundlage für das ausgeprägte Ungleichgewicht zugunsten der Arbeitgeberseite (wobei viele der „selbstständigen“ Subunternehmen selbst nur als Opfer bezeichnet werden können). Das schlägt sich dann auch in den nüchternen Zahlen hinsichtlich einer Polarisierung der Unternehmensstrukturen in der Branche wieder, von denen das Statistische Bundesamt berichtet:
»Die rund 16.100 Unternehmen der Branche erzielten 2018 einen Gesamtumsatz von 42,6 Milliarden Euro … Die Branche wird von vielen kleinen umsatzschwachen und wenigen großen umsatzstarken Unternehmen dominiert. Allein die 26 umsatzstärksten Unternehmen erzielten im Jahr 2018 zusammen einen Jahresumsatz von rund 34 Milliarden Euro (80 % des Gesamtumsatzes).«
So ist das (schon seit langem). In der Medienberichterstattung wurden die neuen Zahlen der Bundesstatistiker aufgegriffen: Paketboom geht an Zustellerinnen und Zustellern vorbei, so ist einer der Artikel dazu überschrieben. Oder sehr treffend: Viel Arbeit, wenig Lohn. In diesen Artikeln wird aber auch noch auf eine weitere scheinbare Überraschung hingewiesen: Es geht – scheinbar – noch schlimmer, also sinkende Löhne in boomenden Branchen:
»Verkäuferinnen und Verkäufer in deutschen Supermärkten haben 2020 im Schnitt weniger verdient als im Vorjahr. Das geht aus Zahlen des Statistischen Bundesamtes hervor«, die von der Bundestagsfraktion der Linken abgefragt wurden. »Der durchschnittliche monatliche Bruttoverdienst von Beschäftigten im Lebensmitteleinzelhandel fiel demnach von 1.471 Euro im zweiten Quartal 2019 auf 1.411 Euro im zweiten Quartal dieses Jahres. Der Rückgang um 60 Euro entspricht einem Lohnverlust von etwa vier Prozent. Bei Vollzeitbeschäftigten sank der durchschnittliche monatliche Bruttolohn von 2.421 Euro im zweiten Quartal 2019 auf 2.254 Euro im zweiten Quartal dieses Jahres. Das sind 7 Prozent weniger.«
»Kassiererinnen wurden anfangs als Heldinnen der Corona-Krise gefeiert. Doch die Prämien fielen bescheiden aus. An den strukturellen Problemen hat sich nichts geändert«, bilanziert Katharina Schuler in ihrem Beitrag Ausgerechnet ein Reisegutschein als Dankeschön. Was waren das für gefühlvolle Worte, die im März dieses Jahres von der Bundeskanzlerin der Bevölkerung zugemacht wurden:
„Wer in diesen Tagen an einer Supermarktkasse sitzt oder Regale befüllt, der macht einen der schwersten Jobs, die es zurzeit gibt. Danke, dass Sie da sind für ihre Mitbürger und buchstäblich den Laden am Laufen halten“. (Fernsehansprache der Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 18.03.2020).
Während sich viele andere Angestellte ins Homeoffice zurückziehen konnten, blieben Kassierer und Verkäuferinnen weiterhin einem hohen Infektionsrisiko ausgesetzt.
Aber wie immer muss man genauer hinschauen, bevor jetzt ein Shitstorm über Lidl & Co. ausgeschüttet wird, denn die von der linken Bundestagsfraktion präsentierten Zahlen »beziehen sich … nicht auf Supermärkte, sondern auf all jene Geschäfte, die ausschließlich Lebensmittel verkaufen: Bäcker, Fleischer, Konditoreien«, so das Statistische Bundesamt, berichtet Schuler in ihrem Artikel. In diesem Bereich sank gleichzeitig die wöchentliche Arbeitszeit wegen Kurzarbeit von 40,2 auf 36,4 Stunden, was den Lohnrückgang erklärt. Das Kurzarbeitergeld taucht nicht in der Lohnstatistik auf, da es eine staatliche Transferleistung und eben kein Lohn ist.
»Ähnliches gilt für jene Unternehmen, die Statistikerinnen unter der Rubrik „Einzelhandel mit Waren verschiedener Art“ erfassen und zu denen die Supermärkte gehören. Auch hier gab es im zweiten Quartal 2020 zwar tatsächlich einen Rückgang der durchschnittlichen monatlichen Bruttolöhne (von 3.411 Euro 2019 auf 3.302 Euro in diesem Jahr bei einer Vollzeitstelle). Aber auch hier ging gleichzeitig die durchschnittliche Wochenarbeitszeit zurück (von 38,8 auf 37,7 Stunden bei Vollzeitbeschäftigten). Der Stundenlohn stieg dagegen für Voll- und Teilzeitbeschäftigte leicht von 18,06 Euro auf 18,25 Euro.«
Eine wichtige Korrektur selektiv herausgegriffener Zahlen. Aber da war doch noch was anderes? Genau, die Prämien:
Was aber ist aus den Prämien geworden, die Angestellte im Einzelhandel für ihren harten Dienst am Land eigentlich erhalten sollten – genau wie Pflegekräfte? Die Frage wirft auch Katharina Schuler auf:
»Tatsächlich haben die meisten Supermarktketten in den Monaten nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zusätzlich entlohnt – in der Regel allerdings nicht in Form von Bargeld, sondern mittels eines Rabattgutscheins, den die Beschäftigten dann im eigenen Laden einsetzen konnten. Für die Unternehmen also die denkbar günstigste Variante. Bei Rewe beispielsweis erhielten Vollzeitbeschäftigte in den Monaten März und April eine 200-Euro-Prämie, Marktleiter bekamen 400 Euro, geringfügig Beschäftigte 50 Euro. Die Bonuszahlung wurde als Guthaben auf die Mitarbeiterkarten gebucht. Mit einer Beilage zur Gehaltsabrechnung für den Monat November erhalten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Rewe und Penny zudem weitere Boni, diesmal in Form von steuerfreien Gutscheinen. Allerdings ausgerechnet Reisegutscheine des konzerneigenen Reiseunternehmens. Immerhin sind diese drei Jahre gültig.«
Das sind dann doch wenigstens Perspektiven für die Nach-Corona-Zeit.