Der „beste Niedriglohnsektor“, der in Europa geschaffen wurde, bleibt weiterhin eine Konstante der deutschen Arbeitsmarktverhältnisse: 2018 gab es 8 Millionen Niedriglohnjobs

Im Januar 2005 – Hartz IV hatte gerade das Licht der Welt erblickt – lobte der damalige Noch-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) in seiner Rede auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos sein ganz besonderes Kind: „Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.“

Millionen arbeitende Menschen mussten in den vergangenen Jahren die Erfahrung machen, was es heißt, in einem Niedriglohnjob zu arbeiten. Das Statistische Bundesamt hat uns nun mit konkreten Zahlen versorgt, über wie viele Menschen wir hier sprechen: 8 Millionen Niedriglohnjobs im Jahr 2018, so ist eine Pressemitteilung vom 21. Oktober 2020 überschrieben. »Gut jede und jeder fünfte abhängig Beschäftigte (21 %) in Deutschland arbeitete im April 2018 im Niedriglohnsektor. Damit wurden rund 8 Millionen Jobs unterhalb der Niedriglohnschwelle (11,05 Euro brutto je Stunde) entlohnt.«

Wo arbeiten die meisten Niedriglohnbeschäftigten? Die Anteilswerte (bezogen auf die Vollzeitbeschäftigten ohne Auszubildende) in den einzelnen Wirtschaftsbereichen überraschen nicht:

Natürlich sind die hier ausgewiesenen Wirtschaftsbereiche unterschiedlich groß, was die Zahl der Beschäftigten fort angeht. Eine erste Einordnung kann man dieser Abbildung entnehmen:

Das Statistische Bundesamt selbst hat dieser Visualisierung vorgenommen, wo unter Berücksichtigung der Größe (gemessen an der Beschäftigtenzahl insgesamt) der einzelnen Wirtschaftsbereiche nicht nur der Anteil der Niedriglöhner, sondern auch der durchschnittliche Bruttostundenlohn ausgewiesen wird:

»Mit 1,5 Millionen wurden die meisten Niedriglohnjobs im Handel gemeldet, im Gastgewerbe waren es 1,2 Millionen. Damit lagen gut zwei Drittel (67 %) aller Beschäftigungsverhältnisse im Gastgewerbe im Niedriglohnbereich, mehr als in jeder anderen Branche. Zum Vergleich: Im Handel lag der Niedriglohnanteil bei 29 %, am zweithöchsten war der Anteil in der rund 310.000 Beschäftigte zählenden Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft mit 54 %.«

Der am Median gemessene durchschnittliche Bruttostundenverdienst lag 2018 in Deutschland über alle Wirtschaftsbereiche bei 16,58 Euro pro Stunde. Die Spannweite zwischen den Wirtschaftsbereichen ist erheblich: »Die höchsten Bruttostundenverdienste (Median) wurden in der Energieversorgung (27,18 Euro), den Finanz- und Versicherungsdienstleistungen (24,11 Euro) sowie im Bereich Information und Kommunikation (23,74 Euro) gezahlt. Im Gegensatz dazu entlohnte das Gastgewerbe lediglich mit 10,00 Euro brutto je Stunde und die Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft mit 10,74 Euro.«

Nun muss man bekanntlich immer aufpassen, wenn mit Durchschnittswerten gearbeitet wird. Wichtig ist auch die Streuung der Einzelwerte um den Durchschnitt. Für die in Vollzeit sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmer (ohne Auszubildende) im Jahr 2018 zeigen die genauen Daten der Verdienstsstrukturerhebung 2018 diese Verteilung:

Wie sind die Bundesstatistiker zu den Zahlen gekommen? Grundlage sind Ergebnisse der Verdienststrukturerhebung 2018. Alle vier Jahre werden mit einer geschichteten Stichprobe von 60.000 Betrieben Angaben zu Verdiensten und Arbeitszeiten der abhängig Beschäftigten erhoben. Zum Niedriglohnbereich zählen alle Beschäftigungsverhältnisse, die mit weniger als zwei Drittel des mittleren Verdienstes (also brutto 11,05 Euro je Stunde im April 2018) entlohnt werden. Auszubildende werden bei dieser Analyse ausgeschlossen. Der Median ist der mittlere Wert einer aufsteigend geordneten Datenreihe. Ober- beziehungsweise unterhalb des Medians des Bruttostundenverdienstes liegt jeweils die Hälfte der Beschäftigungsverhältnisse im April 2018 (ohne Auszubildende). Verglichen mit dem arithmetischen Mittel ist der Median weniger durch (mögliche) Ausreißereffekte verzerrt. Im April 2018 lag der Medianverdienst in der Gesamtwirtschaft wie bereits erwähnt bei 16,58 Euro brutto je Stunde.

Und wo steht der „beste Niedriglohnsektor“ im europäischen Vergleich? Deutschland spielt ganz oben mit

Auch auf der europäischen Ebene werden für die einzelnen Mitgliedsstaaten die jeweiligen Niedriglohnanteile ermittelt. Berits im Juni 2017 wurde hier in dem Beitrag Der nach Gerhard Schröder „beste Niedriglohnsektor“, der in Europa geschaffen wurde, betrifft mehr als jeden fünften Arbeitnehmer in Deutschland darauf hingewiesen, dass Deutschland im Vergleich der EU-Staaten tatsächlich ganz oben zu finden ist, wenn man „oben“ übersetzt mit einem sehr großen Niedriglohnanteil. Die derzeit aktuellsten Daten auf der EU-Ebene stammen ebenfalls aus dem Jahr 2018 und an dem Bild hat sich für Deutschland nichts geändert:

Das ist schon mehr als „beeindruckend“ – im europäischen Vergleich befindet sich Deutschland in einer Spitzengruppe mit osteuropäischen Ländern wie Bulgarien, Polen, Estland, Litauen und Lettland. Dass es auch anders geht, zeigen die skandinavischenLänder wie Schweden, Finnland, Dänemark, aber auch Staaten wie Portugal oder Frankreich.

Man muss diese Zahlen natürlich auch vor dem Hintergrund sehen, dass sie aus dem Jahr 2018 stammen, in dem wir seit Jahren eine an sich gute Arbeitsmarktentwicklung hatten. Dennoch hat sich der Niedriglohnsektor, auf der hier betrachteten Anteilsebene, verfestigt.

Interessant ist natürlich auch die immer wieder gestellte Frage, ob eine Beschäftigung im Niedriglohnsektor, so unangenehm das natürlich auch sein mag, dahingehend zu relativieren wäre, als dass wir es mit einem nur vorübergehenden Phänomen zu tun haben, also die Menschen fangen da an und klettern dann zügig die Lohnleiter nach oben. Eine gar nicht so einfach zu beantwortende Frage, denn dazu braucht man natürlich über längere Zeiträume laufende Individualdaten der Beschäftigten, um das nachzeichnen zu können.

Um ein Beispiel zu zitieren: Markus M. Grabka und Carsten Schröder haben 2019 zum Niedriglohnsektor und speziell der Frage nach der Aufwärtsmobilität geschrieben:

➞ Anteil der Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland hat zwischen 1995 bis 2008 stark zugenommen, seitdem stagniert er bei etwa einem Viertel.
➞ Die absolute Zahl der Niedriglohnbeschäftigungsverhältnisse liegt zuletzt bei neun Millionen – inklusive Nebentätigkeiten.
➞ Mindestlohn hat Bruttostundenlöhne im untersten Dezil überproportional steigen lassen, aber Anteil der Niedriglohnbeschäftigten nicht gesenkt
➞ Lohnmobilität aus dem Niedriglohnsektor heraus ist gering und steigt nicht

Quelle: Markus M. Grabka und Carsten Schröder (2019): Der Niedriglohnsektor in Deutschland ist größer als bislang angenommen, in: DIW Wochenbericht Nr. 14/2019

Zum Thema Lohnmobilität kann man dem Beitrag von Grabka/Schröder (2019) entnehmen:

»Mit der Ausweitung des Niedriglohnsektors war die Hoffnung verbunden, Arbeits- oder Erwerbslosen ein Sprungbrett in Beschäftigung zu bieten, sowie, dass sich diese Berufserfahrung später in höheren Löhnen widerspiegeln würde … Insgesamt zeigt sich …, dass über die Hälfte der Beschäftigten, die auch drei Jahre später abhängig beschäftigt waren, in ihrem Lohnsegment verblieben sind … Am unteren Ende der Lohnverteilung unterscheidet sich die Mobilität im Zeitraum 2014 bis 2017 nicht von der zu Mitte der 1990er Jahre. Ein Aufstieg findet vorwiegend in das direkt darüber liegende Lohnsegment statt. Aufstiege in die obere Hälfte der Lohnverteilung sind dagegen die Ausnahme. Etwas mehr als ein Drittel der Niedriglohnbeschäftigten schafft auf mittlere Sicht den Aufstieg in eine (etwas) besser entlohnte abhängige Tätigkeit. Die Aufstiege in obere Lohnkategorien betreffen zum erheblichen Maße Personen, die während ihrer Ausbildung einfachen Tätigkeiten nachgegangen sind und später in ihrem erlernten Beruf einsteigen und deutlich höhere Löhne bekommen. Über 60 Prozent aller Niedrigbeschäftigten verharrt weiterhin in gering entlohnten Tätigkeiten.«

Ach ja, der Mindestlohn

Der Vollständigkeit halber sei hier natürlich noch der gesetzliche Mindestlohn aufgerufen. Der liegt zur Zeit bei 9,35 Euro brutto pro Stunde. Zum 1. Januar 2021 wird er auf 9,50 Euro steigen, um dann ab Juli 2022 mit 10,45 Euro erstmals die Zehn-Euro-Grenze zu reißen. Damit wird selbst ab dem Sommer 2022 die gesetzliche Lohnuntergrenze unterhalb der Niedriglohnschwelle des Jahres 2018 liegen, die wie bereits beschrieben damals schon bei 11,05 Euro verortet wurde. Arbeitet man zu den Bedingungen des gesetzlichen Mindestlohns, dann bleibt man auch in den nächsten Jahren eingemauert im Niedriglohnsektor.