Ein scheinbares Durcheinander: Konjunktur und Arbeitsmarkt auf „Erholungskurs“ – und zugleich berechtigte Sorgen um „gute“ bisherige und neue, zukünftige Jobs

Es ist ein wenig wie auf einer Achterbahnfahrt: Am Anfang der Corona-Krise wurde das verheerende Ausmaß der Krise sowohl auf die Wirtschaft insgesamt wie auch auf den Arbeitsmarkt eher unterschätzt. Schauen wir kurz zurück: »Die Ausbreitung des neuen Corona-Virus wird die Konjunktur in Deutschland dämpfen. Die Unsicherheit über die damit verbundenen Folgen ist derzeit erheblich. Größere Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind gleichwohl unwahrscheinlich«, so Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit am 9. März 2020 in einem Beitrag unter der Überschrift Corona-Virus: Konjunktur schwächer, Arbeitsmarkt voraussichtlich robust.  So »dürften stärkere Auswirkungen auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit in Deutschland nach aktuellem Stand eher unwahrscheinlich sein. Denn die Arbeitsmarktentwicklung erweist sich schon seit zehn Jahren als sehr robust gegenüber konjunkturellen Schwankungen … Auch die Ausbreitung eines Virus hätte einen solchen vorübergehenden Konjunktureffekt zur Folge, der somit kaum auf den Arbeitsmarkt durchschlagen würde.«

Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung dieser Einschätzung der möglichen (Nicht-)-Folgen werden wir dann mit dieser Botschaft aus dem gleichen Haus konfrontiert: IAB: Der Arbeitsmarkt gerät massiv unter Druck. Offensichtlich hat sich die Sichtweise auf die volkswirtschaftlichen Folgen innerhalb kürzester Zeit gedreht: »Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) erwartet im Jahr 2020 einen drastischen Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von zwei Prozent. Vorübergehend schrumpft das BIP sogar um mehr als sechs Prozent.«

Aber auch diese an sich schon pessimistische Einschätzung wurde in den nachfolgenden Wochen als deutlich zu positiv über Bord geworfen und die prognostizierten Werte das BIP betreffend wurden nach unten gedrückt. In den vergangenen Wochen hingegen ging es wieder aufwärts mit den an die Wand geworfenen Vorhersagen.

»Von März bis Juni senkten Konjunkturforscher ihre Prognosen für das deutsche Bruttoinlandsprodukt immer weiter. Ende März gingen die Wirtschaftsweisen von einem Rückgang zwischen 2,8 und 5,4 Prozent aus. Ende April erwartete die Bundesregierung für 2020 einen Einbruch der Wirtschaftsleistung um 6,3 Prozent, die EU folgte Anfang Mai mit einer Schätzung von -6,5 Prozent. Die OECD sagte Anfang Mai ein Minus zwischen 6,6 und 8,8 Prozent voraus. Ende Juni prognostizierte der Internationale Währungsfonds einen Einbruch des deutschen Bruttoinlandsprodukts um 7,8 Prozent.
Doch seit einigen Wochen korrigieren die Konjunkturexperten ihre Prognosen übereinstimmend wieder nach oben. Die meisten großen Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland veröffentlichten im September neue Vorhersagen, denen zufolge für 2020 noch ein Minus zwischen 4,7 und 6,2 Prozent zu erwarten ist. Auch die Bundesregierung legte Anfang September eine neue Schätzung vor, in der sie optimistischer ist als im April und ein Minus von 5,8 Prozent prognostiziert.« So die Zusammenfassung von David Rose in seinem Beitrag Prognose-Probleme in der Corona-Krise. Er zitiert den Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier: „Die Talsohle ist durchschritten.“ Der Aufschwung nach dem Lockdown gehe „schneller und dynamischer vonstatten als wir es zu hoffen gewagt hatten“.

Wird jetzt alles wieder schneller wieder gut? Man könnte den Eindruck bekommen

»Ein Stimmungsbild zur Entwicklung der Konjunktur zeigt: Die meisten Ökonomen blicken zuversichtlich auf die deutsche Wirtschaft.« Das wird dann mit diesem Zitat untermauert: „Inzwischen zeichnet sich ab, dass – zumindest in Deutschland – die Lage doch nicht ganz so düster ist, wie die Stimmung zwischenzeitlich war“, so Jens-Oliver Niklasch von der Landesbank Baden-Württemberg in einer Umfrage der Deutschen Presse-Agentur. „Die Zeichen stehen auf Erholung. Das zeigen die Frühindikatoren, das zeigen auch die harten Fakten zu Produktion und Konsum.“ Das kann man diesem Artikel entnehmen, dessen Überschrift allerdings bereits eine Einschränkung beinhaltet: Viele Volkswirte optimistisch – aber nicht alle. Die Noch (?)-Skeptiker verweisen auf solche Faktoren: »Eine Insolvenzwelle, vor allem bei Kleinbetrieben, Anfang des kommenden Jahres sei nicht auszuschließen. Unsicherheiten über den Wahlausgang in den USA im November und den Brexit kämen als Risiken von außen hinzu. Zu bedenken sei auch, dass die Corona-Krise – anders als vor mehr als zehn Jahren die Finanzkrise – tief in die Wirtschaftsstrukturen eingreife.« Warnende Worte kommen beispielsweise von der Allianz-Volkswirtin Katharina Utermöhl: „Die Flitterwochen-Phase der derzeitigen Konjunkturerholung neigt sich dem Ende entgegen.“ Schon im Herbst dürfte es nach ihrer Ansicht wieder ungemütlich werden.

»Der Arbeitsmarkt habe sich als robuste Stütze der Konjunktur gezeigt, auch dank der staatlichen Hilfen, etwa beim Kurzarbeitergeld … Deutschlands Beschäftigte seien „überraschend robust und mit dem „Doping“ der staatlich finanzierten Kurzarbeit durch die Krise gekommen.“«

Die durchaus berechtigten Einwände der Skeptiker halten andere nicht von ganz anderen Einschätzungen ab: »Die Stimmung in den deutschen Unternehmen verbessert sich deutlich – so sehr, dass das Ifo-Institut sogar schon die Phase des Aufschwungs durchschritten sieht«, so dieser Artikel: Ifo-Konjunkturforscher sehen Deutschland im „Boom“. Aber auch hier kommen die Skeptiker zu Wort: »Nach dem Corona-Schock und dem Lockdown im März und April haben viele Unternehmen wieder aufgeholt. Die Belebung dürfte nach Einschätzung vieler Experten jedoch an Tempo einbüßen. „Der anfangs hohe Schwung der wirtschaftlichen Erholung ebbt ab, die Zahl der Corona-Neuinfizierten steigt – eine ungesunde Mischung zum Beginn des Herbstes“, sagte KfW-Chefvolkswirtin Fritzi Köhler-Geib. „Der leichte Teil der Erholung ist vorbei.“«

»Die Konjunktur befindet sich nach dem Einbruch in der Corona-Krise wieder auf Erholungskurs« – so optimistisch beginnt die neueste Prognose des am Anfang dieses Beitrags bereits zitierten Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. »Für das Jahr 2020 wird eine Schrumpfung des realen Bruttoinlandsprodukts von 5,2 Prozent erwartet. In 2021 könnte die Wirtschaftsleistung dem IAB zufolge wieder um 3,2 Prozent zulegen. Die Zahl der Arbeitslosen steigt laut der IAB-Prognose im Jahresdurchschnitt 2020 um 440.000, im Jahr 2021 könnte sie wieder um 100.000 zurückgehen.« Und mit Blick auf die Beschäftigtenzahlen: »Die Zahl der Erwerbstätigen wird der IAB-Prognose zufolge 2020 um rund 400.000 sinken und im Jahr 2021 um rund 130.000 … steigen.« Auch hier taucht er wieder auf – Enzo Weber, Leiter des IAB-Forschungsbereichs „Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen“: »Der Arbeitsmarkt geriet massiv unter Druck, die Entlassungszahlen blieben angesichts des immensen wirtschaftlichen Schocks jedoch vergleichsweise begrenzt. Der Arbeitsmarkt stürzte auch aufgrund der Stabilisierungsmaßnahmen nicht ins Bodenlose. Infolge der schnellen und weitgehenden Lockerungen sei bereits zum Ende des zweiten Quartals eine deutliche Erholung in Gang gekommen.« Aber sicherheitshalber wird auch hier angemerkt: »Kritisch seien aber die anhaltende Zurückhaltung bei den Neueinstellungen und die schwierigen Transformationsprozesse beispielsweise bei der Automobilindustrie und dem Einzelhandel. Nicht durch die Prognose abgedeckt seien eine große Insolvenzwelle oder ein zweiter Shutdown.«

Interessant sind die Erwartungen hinsichtlich der „Verlierer“ und der „Gewinner“ der Beschäftigungsentwicklung im noch laufenden und im kommenden Jahr:

„Verlierer“: Die höchsten Beschäftigungsverluste prognostizieren die IAB-Forscher im Bereich „Handel, Verkehr, Gastgewerbe“ (-230.000 im Jahr 2020, Jahresdurchschnitt 2021 auf dem Niveau von 2020). Bei den „Sonstigen Dienstleistungen“, in denen alle Dienstleistungen rund um den Sport, die kulturellen Veranstaltungen und die Erholung verortet sind, ergibt sich für 2020 ein Rückgang von 110.000 Beschäftigten und ebenfalls keine Änderung im Jahresdurchschnitt 2021. Im Produzierenden Gewerbe gab es insbesondere im zweiten Quartal 2020 einen deutlichen Stellenabbau, der auch 2021 anhalten wird. Im Jahresdurchschnitt 2020 fallen hier 160.000 und 2021 nochmal 60.000 Stellen weg.

„Gewinner“: Beschäftigungszuwächse erwarten die IAB-Forscher dagegen vor allem im Bereich „Öffentliche Dienstleister, Erziehung und Gesundheit“ (jeweils +190.000 in beiden Jahren). Bezogen auf die Größe der Branche ist der Anstieg im Bereich „Information und Kommunikation“ mit 30.000 Beschäftigten in 2020 und 50.000 in 2021 am höchsten. »Diese positive Entwicklung hängt mit dem Trend zur Wirtschaft 4.0 zusammen, also mit der Digitalisierung und Vernetzung von Produktions- und Dienstleistungsprozessen. Zudem werden Digitalisierungsprozesse, insbesondere im Bereich der Kommunikation durch die Covid-19-Pandemie zusätzlich verstärkt«, so Enzo Weber vom IAB.

Wer das alles im Detail nachlesen möchte, wird hier fündig:

➔ Anja Bauer, Johann Fuchs, Hermann Gartner, Markus Hummel, Christian Hutter, Susanne Wanger, Enzo Weber und Gerd Zika (2020): IAB-Prognose 2020/2021: Arbeitsmarkt auf schwierigem Erholungskurs. IAB-Kurzbericht 19/2020, Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), September 2020

Die der IAB-Prognose entnommene Differenzierung in Beschäftigungs-„Verlierer“ und -„Gewinner“ verweist bereits darauf, dass die Arbeitsmarktauswirkungen der Corona-Krise durchaus unterschiedlich ausfallen können, schon auf der immer noch sehr groben Ebene der Branchen. Weitere Differenzierungen ergeben sich, wenn man die unterschiedliche regionale Betroffenheit berücksichtigt (vgl. dazu ausführlicher die Hinweise in dem Beitrag Ist das Schlimmste schon vorbei und geht es jetzt wieder aufwärts? Die sichtbaren und die prognostizierten coronabedingten Folgen für den Arbeitsmarkt vom 6. September 2020). Und auch zwischen den Personengruppen lassen sich erhebliche Unterschiede erkennen. Nur ein Beispiel dazu: Am stärksten nahm die Corona-bedingte Arbeitslosigkeit bei Menschen ohne Ausbildung zu. Bei Ausländern stieg sie dreimal so stark wie bei Deutschen: »Menschen mit ausländischem Pass. Da steigt die Arbeitslosigkeit dreimal so stark wie bei einheimischen Menschen und da gibt es eben ein Zusammentreffen von Merkmalen, möglicherweise schlechte deutsche Sprachkenntnisse, beschäftigt in der Zeitarbeit oder befristet, also auch fragil beschäftigt, und schlecht oder wenig qualifiziert, die trifft es zurzeit am härtesten. Das kann man gar nicht anders sagen«, so Detlef Scheele, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 20.09.2020.

Wenn das eine zum anderen kommt: Die berechtigten Sorgen um bisherige „gute“ Jobs in den Kernbereichen der deutschen Industrie

Aber es sind nicht „nur“ die üblichen Verdächtigen, die man auf der Schattenseite der krisenbedingten Arbeitsmarktentwicklung finden kann und muss, also vor allem die Menschen in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes, die schon vorher unter oftmals schwierigen bis unmöglichen Bedingungen gearbeitet haben und die nun zuerst „freigesetzt“ werden oder keine Anschlussbeschäftigungen finden können.

Eine besondere Auffälligkeit ist der massive Stellenabbau bzw. die angekündigten Jobverluste in dem für die deutsche Volkswirtschaft so bedeutsamen Bereich der Industrie – und hierbei vor allem bei den Automobilherstellern und deren Zulieferer. Und hier sprechen wir keineswegs von Jobs im Niedriglohnsektor, der Regelfall hier sind noch immer gut bezahlte und tariflich abgesicherte Arbeitsplätze.

An diesem Beispiel kann man zugleich die Problematik aufzeigen, dass sich die Debatte über die weitere Entwicklung des Arbeitsmarktes nicht begrenzen sollte auf die Frage nach den möglichen Effekten der Corona-Krise, denn hier überlagern sich unterschiedliche, bereits vor Corona wirksame Entwicklungslinien. Die aktuellen Auswirkungen der zugleich nachfrage- wie auch angebotsseitigen Krise im Gefolge der Corona-Pandemie vermischen sich mit einer fundamentalen Strukturkrise dieser so bedeutsamen Branche und das alles steht auch im Zusammenhang mit der lange nach Corona andauernden Herausforderung durch den Klimawandel.

Die Automobilwirtschaft ist heute der beschäftigungsstärkste Industriezweig des Landes. Diese Aussage findet man in der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag: Arbeitsplatzverluste in der Automobil- und Zuliefererindustrie, Bundestags-Drucksache 19/18518 vom 03.04.2020. Den Vorbemerkungen der Fragestellern kann man auch entnehmen, dass die offensichtlichen Strukturprobleme der Branche schon vor Corona beobachtbar waren und diskutiert wurden: »Die deutsche Automobil- und Zuliefererindustrie beschäftigte im Jahr 2018 insgesamt 834.000 Mitarbeiter und ist damit einer der wichtigsten Arbeitgeber des Landes. Doch die Nachrichten über Stellenabbau und abgesagte Investitionen in der Branche häufen sich. Seit Mai 2019 kündigten Zulieferer (u. a. Bosch, Continental, ZF und Schaeffler) sowie Hersteller (u. a. Audi, BMW und Daimler) den Abbau von insgesamt knapp 58.650 Stellen an. Das „Center for Automotive Research der Universität Duisburg-Essen“ (CAR) warnte bereits, dass im Rahmen des Umstieges auf die Elektromobilität bis 2030 knapp 125.000 Arbeitsplätze wegfallen, wenn zwei Drittel der in Deutschland produzierten Fahrzeuge rein batterieelektrisch angetrieben werden.«

In diese Gemengelage vor Corona sind die massiven Auswirkungen durch Corona in Form von so noch nie erlebten Nachfrage- und auch Produktionsausfällen dazu gekommen (»Alles in allem rechnet der Autoverband 2020 mit einem Rückgang der weltweiten Autoverkäufe um 17 Prozent auf rund 66 Millionen Fahrzeuge. Besonders stark bricht der Markt in Europa mit 24 Prozent ein. Für Deutschland geht der VDA von rund 2,8 Millionen Pkw-Neuzulassungen aus, das entspricht einem Rückgang um 23 Prozent«, so diese Meldung von Anfang Juli 2020: Produktion auf dem Stand von 1975). Das alles vermischt sich – zugleich ist es nicht wirklich überraschend, wenn Unternehmen Strukturprobleme, die sie mit einem Stellenabbau (in Deutschland) „lösen“ wollen, nun auf die aktuelle Corona-Krise schieben und die anstehenden Jobverluste als unvermeidlich darzustellen versuchen.

»Die Zahl schockiert: Allein in den Branchen der IG Metall haben Firmen binnen zwölf Monaten angekündigt, mehr als 200 000 Stellen abzubauen – von Auto bis Stahl, vom Flugzeug bis zur Küche. Die Gewerkschaft wirft Firmen wie Conti oder Schaeffler nun vor, Corona als Vorwand zu nehmen. „Eine Reihe Arbeitgeber nutzt die Krise, um in Deutschland zum Kahlschlag anzusetzen und Arbeit in Billiglohnländer zu verlagern“.« So wird der IG-Metall-Chef Jörg Hofmann in der Süddeutschen Zeitung zitiert: IG-Metall-Chef wirft Konzernen Kahlschlag vor. »Corona, sagen die Manager der Autobranche, habe der Industrie in den vergangenen Monaten den Rest gegeben. Für die große Krise aber habe man keinen Virus gebraucht – die hatte man auch so schon. Es geht um sehr einfache Zusammenhänge in dieser Branche, die gerade mitten im Umbruch steckt: Um ein Elektroauto zu bauen, braucht man weitaus weniger Menschen als für die Produktion eines Autos mit Benzin- oder Dieselmotor. Und: Man braucht andere Menschen.«

Und in dem Artikel werden sie explizit angesprochen – die vielen Unternehmen der Zulieferindustrie, die jetzt im Gefolge der Automobilkrise in den Seilen hängen: »Besonders stark trifft es diejenigen, die den Autoherstellern zuliefern. Zum Beispiel Schaeffler aus Herzogenaurach, ein Unternehmen mit fast 85.000 Mitarbeitern. Bis 2022 sollen an die 4.400 Jobs gestrichen werden, mehrere Werke sollen verschwinden. Oder der Hannoveraner Zulieferer Continental, bei dem weltweit an die 30.000 Jobs auf der Kippe stehen, 13.000 davon allein in Deutschland. Sie könnten neu ausgerichtet werden, so heißt es. Oder verlagert werden. Oder verschwinden.«

Immer wieder gibt es an dieser Stelle den Hinweis auf den (angeblich) unvermeidlichen Strukturwandel, der zwar dazu führen werde, dass viele Jobs in der Automobilwirtschaft verloren gehen, aber gleichzeitig entstehen an anderer Stelle doch neue Jobs, so dass sich die betroffenen Arbeitnehmer eben („nur“) umorientieren müssen, dann wird das schon +/- 0 ausgehen. Während die IG Metall den bereits laufenden und sich verschärfenden Strukturwandel ja nicht ausblendet, sondern im Sinne ihrer Mitglieder gestalten will durch eine entsprechende Qualifizierungspolitik sowie entsprechende Investitionen in Forschung und Entwicklung, um die Branche also umzubauen, aber hier zu halten einschließlich von möglichst vielen Beschäftigten, steht eine andere und leider durchaus realistische Variante von „Strukturwandel“ im Raum:

»Welche Art von Wandel für Arbeitnehmer fatal werden könnte, zeigt ein Blick ins bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen. Hier sind es autonahe Industriebetriebe mit vergleichsweise gut bezahlten und mitbestimmten Arbeitsplätzen, die den größten Stellenabbbau angekündigt haben. Thyssenkrupp bis zu 6.000, Hella bis zu 1.350, Deutz bis zu 1.000. Zugleich sucht die Deutsche Post mehr als 10.000 Paketzusteller für die Hochsaison um Weihnachten herum. Doch solche Tätigkeiten sind traditionell weniger gut bezahlt als in der Industrie, wo die Gewerkschaften hohe Löhne durchgesetzt haben. Ach ja, der Motorenbauer Deutz will zwar mehr als ein Fünftel aller Stellen in Deutschland abbauen, aber künftig mehr Komponenten in China herstellen«, so Thomas Fromm, Alexander Hagelüken und Benedikt Müller-Arnold in ihrem Artikel.

Fallbeispiel: Der Job-Kahlschlag bei Conti

Die Continental AG, kurz Conti, ist ein börsennotierter deutscher Automobilzulieferer mit Sitz in Hannover. Das Unternehmen beschäftigt mehr als 240.000 Mitarbeiter an ca. 430 Standorten in 60 Ländern (Stand 2020) und hat sich von einem reinen Reifenhersteller zu einem der größten Automobilzulieferer entwickelt. Conti nach der Robert Bosch GmbH der größte Automobilzulieferer der Welt. Die Schaeffler-Holding, im Alleinbesitz von Georg (80 %) und Maria-Elisabeth Schaeffler (20 %), hat eine beherrschende Beteiligung von 46 Prozent an der Continental.

»Der Vorstand von Continental verschärft seinen im Herbst 2019 wegen der Transformation beschlossenen Sparkurs erheblich. Rund 13.000 Stellen sollen wegen der Corona-Nachfrageflaute gestrichen werden, unter anderem durch Standortschließungen. Alleine am weltweit größten Standort Regensburg sollen rund 2.100 Jobs wegfallen«, berichtete die IG Metall Anfang September 2020.

Die IG Metall berichtet am 24.09.2020 unter der Überschrift Continental: Die Wut wächst – wie auch der Widerstand: »Von rund 13.000 der aktuell noch 63.000 Beschäftigten in Deutschland will sich der Continental-Vorstand trennen. 2.100 Menschen sollen alleine am großen Conti-/Vitesco-Standort Regensburg ihren Arbeitsplatz verlieren, ein Großteil bereits im Jahr 2021. Die Automotive-Standorte Roding (520 Arbeitsplätze) und Karben (1.088), der ContiTech-Standort Oppenweiler (340) sowie das profitable Aachener Reifenwerk (1.800) stehen nach den Plänen der Conti-Manager vor der Schließung, wegen Überkapazitäten in der Corona-Krise und der Transformation. Der Automotive-Standort Babenhausen soll die Fertigung und damit bis 2025 etwa 2.570 der aktuell noch rund 3.600 Beschäftigten einbüßen. Auch zahlreiche weitere Betriebe wie etwa die Automotive/Vitesco-Standorte Limbach-Oberfrohna (850 Stellen), Frankfurt am Main (457), Rheinböllen (308), Nürnberg (229), Schwalbach (220), Bebra-Mühlhausen (218), Ingolstadt (199), Villingen-Schwenningen (169), Markdorf (52), Wetzlar (51) sollen massiv Arbeitsplätze verlieren. Aber selbst die von der Transformation kaum betroffenen Gummi-Werke sollen „bluten“. Für die ContiTech-Werke Hannover, Hannoversch Münden, Hedemünden, Korbach, Northeim, Ödelsheim und Waltershausen sind insgesamt 1.200 Arbeitsplätze, für den Reifen-Standort Hannover-Stöcken genau 223 Stellen zur Streichung vorgesehen, um den Profit zu erhöhen. Der Konzern will mit diesem radikalen Stellenabbau ab dem Jahr 2023 brutto mehr als 1 Milliarde Euro jährlich an Entgelten sparen.«

Die Gewerkschaft hat für alle, die das gerne in einer Übersicht haben möchten, eine „Karte des Kahlschlags“ erstellt:

Alexander Hagelüken hat das unter der Überschrift Die grauen Jahre so kommentiert: »An dieser Stelle ist zu kritisieren, wie Industriefirmen wie Conti, Schaeffler und MAN handeln. Sie streichen so massiv Arbeitsplätze, dass sich zweifeln lässt, ob ihnen dies wirklich Corona und der Strukturwandel diktieren. Die Bundesregierung greift der Wirtschaft in der Rezession mit Kurzarbeit und anderen Hilfen stark unter die Arme, um drastischen Stellenabbau zu verhindern. Dies lässt sich durchaus mehr nutzen, als es diese Firmen tun. Wenn sie konkret oder perspektivisch tausende Jobs in Billigländer verlagern, erwecken sie den Verdacht, dass es ihnen um etwas anderes geht als um die Bewältigung des Wandels: um möglichst rasche Gewinne in einem Moment, in dem sie stattdessen gesellschaftliche Verantwortung übernehmen könnten.« Das alles kann und muss in einen übergreifenden Trend eingeordnet werden: »Am Arbeitsmarkt anderer Volkswirtschaften war schon früher als bei uns eine Polarisierung zu beobachten, die der US-Ökonom David Autor so formuliert: Hochqualifizierte Tätigkeiten sind stärker gefragt, ebenso mäßig bezahlte Jobs als Paketbote oder als Sicherheitsmann. Die Mitte, zu der Facharbeiter in der Fabrik zählen, dünnt dagegen aus. Für Arbeitnehmer in der deutschen Industrie ist das eine Bedrohung.«

Aber es sollen doch auch neue „gute“ Jobs entstehen? Das Beispiel Tesla

Die Sorgen angesichts des Arbeitsplatzabbaus gerade in den industriellen Kernbereichen unserer Volkswirtschaft beziehen sich vor allem auf die Tatsache, dass wir es hier eben nicht mit Jobs zu tun haben, die im Niedriglohnsektor angesiedelt sind, sondern die – auch und gerade aufgrund des hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrades und der in der Vergangenheit erfolgreichen Tarifpolitik der Industriegewerkschaften – für die Arbeitnehmer von guter Qualität und die gut bezahlt sind. Dazu Alexander Hagelüken: »Man sollte sich einen Moment klarmachen, welche Arbeitsplätze Industriefirmen da gerade streichen. Es sind Jobs, bei denen mitgliederstarke Gewerkschaften hohe Löhne durchgesetzt haben. Dienstleister, bei denen die Arbeitnehmer der Industrie grundsätzlich neue Beschäftigung finden können, bezahlen häufig schlechter. In fast keinem westlichen Land spielt die Industrie noch eine so große Rolle wie in Deutschland. Um diese Bedeutung auch für die Beschäftigung geht es jetzt.«

Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dass neben all den Klagen über hier wegfallende Industriearbeitsplätze doch auch neue geschaffen werden – und dann auch noch in den Bereichen, denen man die Zukunft der Automobilherstellung zuschreibt, also der Produktion von Autos mit Elektroantrieb:

In Grünheide in Brandenburg wird derzeit die erste Tesla-Fabrik auf deutschem Boden gebaut – die Gigafactory Berlin-Brandenburg. Ab Sommer 2021 sollen dort jährlich etwa 500.000 Elektroautos vom Band gehen. An dem Standort sollen 12.000 Arbeitsplätze entstehen. Und noch mehr wird in Aussicht gestellt: »Demnach könnten im Werk nach seinem Endausbau der Phase 3 zwei Millionen Autos im Jahr produziert werden. „Bei der Infrastrukturplanung gehen Gutachter davon aus, dass an diesem Standort in künftigen Phasen erheblich mehr Autos produziert werden könnten. Perspektivisch geht Tesla – je nach Markthochlauf – von bis zu 40.000 Mitarbeitern aus“«, wird der Wirtschaftsminister von Brandenburg, Jörg Steinbach (SPD), zitiert.

„Bitte arbeiten Sie bei Giga Berlin! Es wird super Spaß machen!!“ twitterte Elon Musk am 10. September.

Da möchte man nun wirklich nicht Spaßverderber spielen. Die Bundesagentur für Arbeit hat schon Hand angelegt: »Die Arbeitsagentur sucht gemeinsam mit Tesla nach Beschäftigten für die geplante Fabrik bei Grünheide. Schon im nächsten Sommer sollen dort rund 8.000 Menschen arbeiten. In Frankfurt (Oder) werden Arbeitsvermittler geschult«, berichtet Michael Nowak in seinem Beitrag Frankfurter Arbeitsagentur sucht rund 8.000 Mitarbeiter. »Eine Projektgruppe der Agentur für Arbeit Frankfurt (Oder) schult in den nächsten Wochen rund 500 Arbeitsvermittler in Berlin und Brandenburg. Sie sollen künftig nach ganz unterschiedlichen Berufsgruppen für Tesla suchen – von Lager-Mitarbeitern über Ingenieure für Drucktechnik bis zu Führungskräften.« Die Arbeitsagentur geht dabei neue Wege: »Es sei das erste Mal, dass sie mit einem Konzern auf diese Art und Weise zusammenarbeiteten, sagte der Leiter der Arbeitsagentur, Jochem Freyer, am Freitag. „Üblicherweise vermitteln und beraten wir aus den Agenturen heraus und besuchen Unternehmen im Einzelfall, um Einzelfragen zu klären“, so Freyer weiter. „Hier haben wir uns anders entschieden, da es ein besonderes Projekt ist und da auch die Dimension mit perspektivisch bis zu 12.000 Mitarbeitern enorm sind.“«

Die große Zahl ist das eine – aber zu welchen Bedingungen werden die zukünftigen Tesla-Arbeitskräfte arbeiten müssen? Eine gewisse Skepsis ist ja nicht umplausibel bei diesem Unternehmen. Die Ausführungen der Arbeitsagentur zu diesem Thema beruhigen auf den ersten Blick:

»Der Konzern will sich bei den Gehältern nach Auskunft der Agentur für Arbeit am Tarif der Metall- und Elektroindustrie orientieren. Die Einstiegsgehälter sollen bei mehr als 2.700 Euro brutto im Monat liegen.« Und der Leiter der Arbeitsagentur Frankfurt (Oder), Jochem Freyer, wird mit diesen Worten zitiert: „Man wird vor allem auch Quereinsteiger akzeptieren, für einfache Tätigkeiten, und gern auch Arbeitslose“, sagte Freyer weiter. Auch Menschen ohne Berufsabschluss kämen in Frage, auch die bekämen Tarifgehalt. „Das ist ein Lohn, den wir hier ja lange nicht so kannten.“ Bekommen die Tariflohn – oder einen Lohn, der sich am Tarif „orientiert“? Eine wichtige Frage, denn die Unterschiede können gewaltig sein – die Gewerkschaften haben damit durchaus ihre Erfahrungen machen müssen, man denke hier an eine andere US-amerikanische „Jobmaschine“ in Deutschland, also Amazon. Und dass es bei den Gewerkschaften eine gehörige Portion Skepsis gibt, kann man diesen Wortmeldungen entnehmen: IG Metall fordert von Tesla Einhaltung deutscher Arbeitnehmerrechte. Das neue Tesla-Werk in Brandenburg „dürfe kein zweites Amazon werden“, so nicht nur Gewerkschafter.

»Tesla dürfe nicht „zu einem zweiten Amazon in Deutschland werden“ und übliche Systeme von Mitbestimmung und Betriebsrat ignorieren, sagte der Bundesvize der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) in der CDU, Christian Bäumler … „Auf die Dauer werden sich ein Betriebsrat und Tarifbindung ohnehin nicht vermeiden lassen“, sagte der Vorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA), Klaus Barthel … Fraglich sei nur, ob es darüber einen längeren Konflikt gebe.«

Man spürt beim genauen Lesen der Formulierungen, dass hier eine Menge Skepsis mitschwingt. Was sagt die Gewerkschaft?

»Die Industriegewerkschaft IG Metall beklagte, Musk wolle die Fabrik als Europäische Aktiengesellschaft (SE) organisieren – ohne klassische Mitbestimmungsinstrumente. „Wir erwarten, dass Tesla die deutsche Mitbestimmungskultur respektiert, die gerade in der deutschen Automobilindustrie intensiv und erfolgreich gelebt wird“, sagte IG-Metall-Bezirksleiter Stefan Schaumburg der Zeitung. Auf ein entsprechendes Gesprächsangebot der Gewerkschaft über tarifliche Regelungen vom März habe Tesla bislang nicht reagiert.«