Die höchst umstrittene „Reform“ der außerklinischen Intensivpflege wurde vom Bundestag nach Änderungen beschlossen. Ist jetzt alles gut geworden?

Seit Monaten erleben wir massive Proteste von außerklinischer Intensivpflege betroffener Menschen und ihren Angehörigen sowie von Aktivisten aus der Behindertenbewegung. Es geht um das mittlerweile als Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (GKV-IPReG, Bundestags-Drucksache 19/19368 vom 20.05.2020) bezeichnete und nunmehr nach einigen Änderungen auch vom Bundestag verabschiedete Gesetz, mit dem angeblich nur Gutes getan werden soll: „Intensivpflegebedürftige sollen dort versorgt werden können, wo es für sie am besten ist. Das darf keine Frage des Geldbeutels sein“, so der Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Daher würden nun verbindliche Qualitätsvorgaben für die Intensivpflege zu Hause festgeschrieben. Außerdem werde Intensivpflege in stationären Einrichtungen „endlich bezahlbar“. Das kann man beispielsweise diesem Artikel entnehmen: Bundestag beschließt umstrittene Reform der Intensivpflege. Das hört sich doch erst einmal gut an und dieser Eindruck wird dann auch durch solche Ausführungen bestärkt: »Die Reformpläne waren nach Protesten von Ärzten, Patientenvertretern und Sozialverbänden noch geändert worden. Die Kritik entzündete sich vor allem daran, dass Intensivpflege in der eigenen Wohnung ursprünglich nur noch eine Ausnahme sein sollte. Vielfach wurden Zwangseinweisungen in Heime befürchtet. Stattdessen ist nun vorgesehen, dass außerklinische Intensivpflege grundsätzlich in Pflege- und Behindertenheimen, Wohneinheiten und auch „in der eigenen Häuslichkeit“ erbracht werden kann. „Berechtigten Wünschen der Versicherten ist zu entsprechen“, heißt es im Gesetz. SPD-Fraktionsvize Bärbel Bas betonte: „Wenn ein Mensch gut zu Hause gepflegt wird, dann wird das auch in Zukunft möglich sein.“«

Sollten die zahlreichen und beeindruckenden Proteste der Betroffenen und der sie unterstützenden Organisationen wie auch der Druck seitens der Oppositionsparteien im Bundestag am Ende ihre Wirkung entfaltet haben? Erst vor wenigen Tagen wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Kann eine ungewöhnliche Allianz von Grünen, FDP und Linken das „Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz“ (IPReG) auf den letzten Metern noch aufhalten? Was ist wirklich herausgekommen?

Ein notwendiger Rückblick: Von das kann weg über das kann weg, aber wir verpacken das semantisch netter bis zu …?

Ursprünglich gestartet wurde der Vorstoß des Gesetzgebers noch unter dem Kürzel RISG, das für Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz steht. In dem Beitrag RISGantes Vorhaben: Beatmungspatienten zukünftig (fast) immer ins Heim oder in eine Intensivpflege-WG? Von vermeintlich guten Absichten, monetären Hintergedanken und einem selbstbestimmten Leben vom 24. August 2019 wurde hier aus dem damaligen Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministeriums zitiert:

»Die Leistungen der außerklinischen Intensivpflege werden künftig regelhaft in vollstationären Pflegeeinrichtungen, die Leistungen nach § 43 des Elften Buch Sozialgesetzbuch erbringen, oder in speziellen Intensivpflege-Wohneinheiten, die strengen Qualitätsanforderungen unterliegen, erbracht. Die Eigenanteile, die die Versicherten bei der Inanspruchnahme von Leistungen der außerklinischen Intensivpflege in diesen vollstationären Pflegeeinrichtungen zu leisten haben, werden erheblich reduziert. In Ausnahmefällen kanndie außerklinische Intensivpflege auch im Haushalt des Versicherten oder sonst an einem geeigneten Ort erbracht werden.« (Hervorhebungen nicht im Original).

Genau das war der Punkt, der zu den Protesten geführt hat. Der Regelfall soll also ein Pflegeheim oder eine Intensivpflege-WG werden – und das, was sich in den vergangenen Jahren bei vielen als Wunschmodell herausgebildet hat, also die intensivpflegerische Betreuung im Privathaushalt – zu Hause – soll es nur noch in Ausnahmefällen geben (dürfen). Das wäre nichts anderes als ein Systemwechsel.

Man muss an dieser Stelle – auch mit Blick auf die nunmehr beschlossene Neuregelung – nicht nur aus historischem Interesse daran erinnern, wie die Regelungswelt vor der „Reform“ ausgesehen hat. Nämlich so:

Bislang war diese Form der häuslichen Krankenpflege seit 1988 im § 37 SGB V geregelt (und 1997 wurde die Versorgung mit häuslicher Krankenpflege als eigenständige Rechtsvorschrift im § 132a SGB V übernommen). Im Absatz 1 des § 37 SGB V heißt es schlicht und unmissverständlich: »Versicherte erhalten in ihrem Haushalt, ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort, insbesondere in betreuten Wohnformen, Schulen und Kindergärten, bei besonders hohem Pflegebedarf auch in Werkstätten für behinderte Menschen neben der ärztlichen Behandlung häusliche Krankenpflege durch geeignete Pflegekräfte, wenn Krankenhausbehandlung geboten, aber nicht ausführbar ist, oder wenn sie durch die häusliche Krankenpflege vermieden oder verkürzt wird.«

Mit dem RISG-Entwurf, der später zum IPReG mutiert ist, sollte nun ein neuer § 37c SGB V (Außerklinische Intensivpflege) eingefügt werden. Der im ursprünglichen Entwurf in aller Klarheit erkennbare Systemwechsel kann solchen Formulierungen entnommen werden – hier der § 37c Abs. 2 SGB V in der Fassung des RISG-Referentenentwurfs*:

»Der Anspruch auf außerklinische Intensivpflege besteht in vollstationären Pflegeeinrichtungen, die Leistungen nach § 43 des Elften Buches erbringen, oder in einer Wohneinheit … Wenn die Pflege in einer Einrichtung nach Satz 1 nicht möglich oder nicht zumutbar ist, kann die außerklinische Intensivpflege auch im Haushalt oder in der Familie des Versicherten oder sonst an einem geeigneten Ort erbracht werden. Bei der Prüfung der Zumutbarkeit sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände angemessen zu berücksichtigen; bei Versicherten bis zum vollendeten 18. Lebensjahr ist die Pflege außerhalb des eigenen Haushalts oder der Familie in der Regel nicht zumutbar.« (Hervorhebungen nicht im Original).

*) § 37c Absatz 2 SGB V nach dem Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Rehabilitation und intensiv-pflegerischer Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz – RISG), August 2019

»Die mit dem Referentenentwurf beabsichtigte Umsteuerung der Patientenströme von der ambulanten Versorgung in der eigenen Häuslichkeit in die vollstationäre Pflege dient mithin nicht in erster Linie der Qualitätsverbesserung der Versorgung. Wahres Ziel dieser Gesetzesinitiative ist vielmehr eine Reduzierung der Ausgaben für die behandlungspflegerische Versorgung.« So die klare Stellungnahme des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) zum ersten Entwurf, die Hervorhebung findet sich im Original.

Aber der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat doch die vielstimmige Kritik aufgegriffen und den ursprünglichen Entwurf entschärft? Ja, aber …

Neustart für umstrittenes Reha-Gesetz, so beispielsweise die „Ärzte Zeitung“: »Nach der Kritik an dem im August erstmals vorgelegten Entwurf soll nun die Pflicht für Beatmungspatienten gestrichen werden, sich stationär versorgen zu lassen. Wer außerklinische Intensiv-Leistungen erhält, soll Bestandsschutz genießen.« Und an anderer Stelle heißt es: »Der Gesundheitsminister entschärft das Intensivpflegegesetz: Stationäre Versorgung soll nicht mehr Vorrang haben. Jeder Fall wird geprüft«, so Barbara Dribbusch unter einer Überschrift, mit der offensichtlich Skepsis ausgedrückt werden soll, ob wir denn wirklich eine grundsätzliche Umkehr des Ministeriums verbuchen können: Spahn rudert vorsichtig zurück: »Der Vorrang der stationären Pflege für Beatmungspatienten soll aus dem Referentenentwurf des Gesetzes zur Stärkung der Intensivpflege wieder gestrichen werden, bestätigte … das Gesundheitsministerium. Damit können BeatmungspatientInnen wie bisher auch mit Hilfe von ambulanten Pflegekräften rund um die Uhr zuhause betreut werden.«

Diese Berichte bezogen sich auf eine Pressemitteilung aus dem Hause Spahn, mit der die Wogen wieder geglättet werden sollten:  Wir machen Intensivpflege besser: mit hohen Qualitätsstandards, klaren Regeln und einer Bestandsschutz-Garantie, so ist die überschrieben. Und da heißt es: »Der Gesetzentwurf greift Anregungen von Betroffenen auf und räumt Missverständnisse aus: Durch die neue Regelungen können Intensiv-Pflegebedürftige weiterhin soweit wie möglich am sozialen Leben teilhaben und ein selbstbestimmtes Leben führen.« Also es lohnt sich offensichtlich doch, die Stimme zu erheben.

Darüber wurde hier unter der Überschrift Ein entschärftes RISGantes Vorhaben? Das geplante außerklinische Intensivpflege-Gesetz wird nach Protesten (scheinbar) nachgebessert: Vom RISG zum GKV-IPREG am 16. Dezember 2019 berichtet. Dort wurde darauf hingewiesen, dass erfahrene Berufsskeptiker misstrauisch werden könnten (und müssen), wenn sie lesen: »… weiterhin soweit wie möglich am sozialen Leben teilhaben und ein selbstbestimmtes Leben führen.« Was wird da zum Ausdruck gebracht? „Soweit wie möglich“ – Ist das wirklich eine Abkehr von dem ursprünglich anvisierten Systemwechsel?

»Es ist ein Wort, das die Be­troffenenverbände auf die Barrikaden treibt: „angemessen“. Wünschen der Schwerstkranken, zu Hause versorgt zu werden, ist zu entsprechen, „soweit sie angemessen sind und die medizinisch-pflegerische Versorgung an diesem Ort sichergestellt ist“ … Misstrauisch stimmt, dass die Prüfungen vor Ort, welche Versorgung angemessen ist, laut Gesetz künftig die Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MDK) vornehmen sollen … „Das Problem liegt im Wort ‚angemessen‘“, sagt die behindertenpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, Corinna Rüffer, „angemessene Wünsche sind Wünsche, die keine unverhältnismäßigen Mehrkosten verursachen“«, so Barbara Dribbusch im Dezember 2019 unter der Überschrift Worte, die Angst machen. Selbst der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, kritisierte den Bundesgesundheitsminister, dass nicht mehr die Betroffenen selbst, sondern die Krankenkassen entscheiden sollen, wo der Patient behandelt wird – ob zu Hause, im Pflegeheim oder in einer speziellen Einrichtung für Intensivpflege. Dem Medizinischen Dienst soll dabei eine Schlüsselrolle zukommen. Dies widerspreche dem Recht, selbst zu entscheiden, wo man leben wolle.

Und der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung erkannte natürlich auch den Mechanismus, mit dem man (weiterhin) das Ziel einer Verlagerung der außenklinischen Intensivpflege in den Bereich der Pflegeheime (oder der Pflege-WGs) erreichen will: Der Entwurf sieht vor, dass die Kosten für Beatmungspatienten in Pflegeheimen künftig vollständig von den Krankenkassen übernommen werden, auch die Kosten für Unterkunft und Verpflegung, wofür Pflegebedürftige normalerweise selbst aufkommen müssen. Damit setzt der Entwurf aus Sicht des Behindertenbeauftragten einen finanziellen Anreiz für eine Pflege im Heim.

Der damalige seitens des Bundesgesundheitsministers reklamierte Fortschritt im Sinne einer Berücksichtigung der Proteste, zugleich die berechtigte Quelle des Misstrauens der Kritiker, findet sich im neuen, geänderten Entwurf des § 37c SGB V:

»Wünschen der Versicherten, die sich auf den Ort der Leistung nach Satz 1 richten, ist zu entsprechen, soweit sie angemessen sind und die medizinisch-pflegerische Versorgung an diesem Ort sichergestellt ist. § 104 Absatz 2 und 3 des Neunten Buches gilt entsprechend. Die Feststellung der Voraussetzungen nach den Sätzen 1 bis 3 erfolgt durch die Krankenkasse nach persönlicher Begutachtung des Versicherten und des Leistungsorts durch den Medizinischen Dienst.«

Zugleich muss darauf hingewiesen werden, dass der „Gemeinsame Bundesausschuss“ (G-BA) damit beauftragt werden soll, das Feld zu definieren (und abzugrenzen bzw. zu begrenzen).

Mein Fazit im Dezember des vergangenen Jahres: »Die eigentliche Grundsatzfrage wird aber weiterhin so beantwortet wie im ersten Entwurf: Keine uneingeschränkte Wahlfreiheit bei der Wahl des Ortes der Versorgung. Scheinbar ist die Versorgung auch in Zukunft in den eigenen vier Wänden möglich, aber die vielen Einzelfälle werden eingebunden in ein System der Beantragung und des Bewilligungsvorbehalts eines ausdifferenzierten Apparates.«

Neues Jahr, neuer Versuch – trotz Corona-Krise (oder vielleicht gerade in deren Windschatten)

Wenn der Apparat einmal in Bewegung gesetzt wird, dann lässt er sich vielleicht verlangsamen, aber kaum noch aufhalten. Selbst die bis heute andauernde Corona-Krise hat daran nichts geändert. Nach den Entwürfen und den beschriebenen „Korrekturen“ wurde das Vorhaben des Gesetzgebers in den vergangenen Monaten wieder voran- und in das Parlament getrieben:

➔ Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von intensivpflegerischer Versorgung und medizinischer Rehabilitation in der gesetzlichen Krankenversicherung
(Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz – GKV-IPReG), Bundestags-Drucksache 19/19368 vom 20.05.2020

Dieser sich der Zielgeraden nähernde Entwurf wurde am 21. Juni 2020 hier unter der Überschrift Vom RISG zum GKV-IPReG: Außerklinische Intensivpflege und die Angst vor einer fremdbestimmten Abschiebung aus dem eigenen Haushalt besprochen.

In dem Gesetzentwurf aus dem Mai 2020 findet man auf den S. 7-9 den neuen § 37c SGB V (Außerklinische Intensivpflege). Hat sich was geändert?

Der erste Satz dieses Paragrafen lautet so: »Versicherte mit einem besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege haben Anspruch auf außerklinische Intensivpflege.« Und dann kommt der entscheidende Passus am Anfang von § 37c Absatz 2 SGB V:

»Wünschen der Versicherten, die sich auf den Ort der Leistung nach Satz 1 richten, ist zu entsprechen, soweit die medizinische und pflegerische Versorgung an diesem Ort tatsächlich und dauerhaft sichergestellt werden kann. Dabei sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände zu berücksichtigen. Die Feststellung, ob die Voraussetzungen nach Absatz 1 und den Sätzen 1 bis 3 erfüllt sind, wird durch die Krankenkasse nach persönlicher Begutachtung des Versicherten am Leistungsort durch den Medizinischen Dienst getroffen. Die Krankenkasse hat ihre Feststellung jährlich zu überprüfen und hierzu eine persönliche Begutachtung des Medizinischen Dienstes zu veranlassen. Liegen der Krankenkasse Anhaltspunkte vor, dass die Voraussetzungen nach Absatz 1 und den Sätzen 1 bis 3 nicht mehr vorliegen, kann sie die Überprüfung nach Satz 5 zu einem früheren Zeitpunkt durchführen.« (Hervorhebungen nicht im Original)

Der Schlüssel für eine kritische Interpretation des nur leicht modifizierten Gesetzentwurfs ist die Formulierung, dass dem Wunsch der Betroffenen nach einer Versorgung im eigenen Haushalt zu folgen ist, »soweit die medizinische und pflegerische Versorgung an diesem Ort tatsächlich und dauerhaft sichergestellt werden kann.« 

Was bedeutet das? Der Leistungsberechtigte hat im Rahmen einer Überprüfung des MDK in der eigenen Häuslichkeit nachzuweisen, dass die Leistungserbringung in der erforderlichen Qualität auch erbracht werden kann.

»Die Last des Nachweises der Möglichkeit einer dauerhaften Sicherstellung in der eigenen Wohnung, verschiebt die Beratungsverpflichtung, die Unterstützungsnotwendigkeit und den Versorgungsauftrag in unzulässiger Weise von der verpflichteten Krankenkasse auf den/die Leistungsempfänger«, so Horst Frehe von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland – ISL in seiner Stellungnahme als Einzelsachverständiger bei der Anhörung des Gesundheitsausschusses am 17. Juni 2020.

Und erneut brach sich nun auf den letzten Metern des Gesetzgebungsverfahrens der Unmut Bahn. Am 24. Juni 2020 wurde dann hier unter der Überschrift Kann eine ungewöhnliche Allianz von Grünen, FDP und Linken das „Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz“ (IPReG) auf den letzten Metern noch aufhalten? berichtet: Nun »hat sich offensichtlich eine große Koalition der Oppositionsfraktionen im Bundestag, in diesem Fall seitens der Grünen, der Linken und der FDP, gebildet, die auf den letzten Metern des Gesetzgebungsverfahrens, das am 2. Juli 2020 beendet werden soll mit der Verabschiedung des Entwurfs im Bundestag, versucht, den angesprochenen Systemwechsel aufzuhalten.« In einem gemeinsamen Änderungsantrag wollten die drei Fraktionen Änderungen in letzter Minute erreichen.

In dem Änderungsantrag der FDP, Linken und Grünen (Bundestags-Drucksache 19/20746 vom 01.07.2020) wurde die folgende Ausgestaltung des § 37c Abs. 2 SGB V beantragt:

»Versicherte erhalten außerklinische Intensivpflege
….
4. in ihrem Haushalt oder in ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort, insbesondere in betreuten Wohnformen, Schulen, Kindergärten und in Werkstätten für behinderte Menschen.

Wünschen der Versicherten, die sich auf den Ort der Leistung nach Satz 1 richten, ist zu entsprechen. Der Medizinische Dienst überprüft auf Veranlassung der Krankenkasse jährlich durch persönliche Begutachtung, ob die medizinische und pflegerische Versorgung am Ort der Leistungserbringung qualitätsgerecht sichergestellt ist. Dabei sind die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände zu berücksichtigen. Abweichend von Satz 3 empfiehlt der Medizinische Dienst Zeiträume von bis zu drei Jahren zwischen den Überprüfungen, wenn er bei zwei aufeinander folgenden Überprüfungen zum Ergebnis kommt, dass die Versorgung qualitätsgerecht sichergestellt ist …Kommt der Medizinische Dienst zu dem Ergebnis, dass die medizinische und pflegerische Versorgung nicht qualitätsgerecht sichergestellt ist, schafft die Krankenkasse Abhilfe am Ort der Leistungserbringung. Das Ergebnis der Überprüfung ist transparent darzustellen und den Versicherten verständlich zu erläutern.«

In der Begründung zu dieser Ausgestaltung werden wichtige Hinweise gegeben:

Die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sich »mit Artikel 19 der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK), zu gewährleisten, dass „Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“. Dies gilt nach Artikel 26 – wie nach anderen Artikeln der Konvention auch – gleichermaßen für alle Menschen mit Pflegebedarf infolge ihrer meist dauerhaften Beeinträchtigungen.
Ein Gesetzestext, der der Krankenkasse ein Entscheidungsrecht über den Aufenthaltsort des Versicherten einräumt wird diesen Normen nicht gerecht. Der Änderungsantrag zu Absatz 2 stellt dagegen sicher, dass Versicherte selbst entscheiden, wo sie leben wollen, und die Krankenkasse diesen Wünschen zu entsprechen hat … Die Krankenkassen werden verpflichtet, bei etwaigen Mängeln Abhilfe zu schaffen und damit ihrem Sicherstellungsauftrag nachzukommen, ohne dass sich dies zu Lasten der intensivpflegebedürftigen Person auswirkt …
Bei der Überprüfung sind vom Medizinischen Dienst die persönlichen, familiären und örtlichen Umstände zu berücksichtigen (Satz 4). Damit wird sichergestellt, dass die Überprüfung personenzentriert erfolgt. Zeigen sich bei der Überprüfung Mängel, sind diese von der Krankenkasse zu beseitigen (Satz 5). Dies entspricht ihrem Si- cherstellungsauftrag, wie auch ihrem gesetzlichen Auftrag nach § 2 in Verbindung mit § 2a des Fünften Buches, nach der die Krankenkassen den Versicherten die Leistungen zur Verfügung zu stellen und dabei die besonderen Belange von Menschen mit Behinderungen Rechnung zu tragen haben. Klargestellt wird, dass die Überprüfung durch den Medizinischen Dienst nicht der Kontrolle der Versicherten dient, sondern etwaigen Handlungsbedarf für die Krankenkassen ermittelt.«

Das wäre eine richtige Klarstellung des Selbstbestimmungsrechts der betroffenen Menschen und zugleich eine unmissverständliche Formulierung des eigentlichen Auftrags der Krankenkassen.

Was ist nun daraus geworden?

Innerhalb der Regierungsfraktionen gab es hektische Verhandlungen, wie man die Kuh noch vom Eis bekommt, denn aus den Reihen der SPD-Fraktion gab es Signale, dass man dem Regierungsentwurf aus dem Hause Spahn so nicht zustimmen könne. Kurz vor Toresschluss wurden dann diese Änderungen zum ursprünglichen Entwurf aufgenommen – und die sind auch verabschiedet worden (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit, Bundestags-Drucksache 19/20720 vom 01.07.2020):

Quelle der Tabelle: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss), Bundestags-Drucksache 19/20720 vom 01.07.2020, S. 13

Auf der einen Seite kann man gerade im Vergleich zu der bisherigen Entwurfsfassung eine Abschwächung der kritisierten Punkte hinsichtlich der Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen erkennen, es bleibt aber ein „Aber“. Dazu beispielsweise Bundestagsabgeordnete Corinna Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen: „Es ist einzig und allein das Verdienst der Behindertenbewegung, dass das Thema IPReG an die Öffentlichkeit gekommen ist und Jens Spahn mit seinem Ziel, beatmete Menschen heimlich und leise in Heime zu verlegen, gescheitert ist. Die Änderungen, die die Koalition vorgelegt hat, entschärfen diese Gefahr zwar wesentlich, schaffen aber immer noch keine Rechtssicherheit. Es ist anzunehmen, dass Kostenträger versuchen werden, die Regelungen des Gesetzes zu nutzen, um ihr Ziel der Kostenreduktion doch noch zu erreichen … Auch die Formulierung „berechtigte Wünsche“ lässt breiten Raum für restriktive Verwaltungsentscheidungen, wie wir aus der Praxis wissen.“

Die erste Stellungnahme des Sozialverbands VdK kommt grundsätzlich positiv daher: Intensivpflegegesetz: Betroffene können aufatmen: »Die Krankenkassen haben nun den Willen der Betroffenen zu berücksichtigen. Der geänderte Gesetzentwurf sieht ein sogenanntes Teilhabeplanverfahren vor, so wie es bereits im Sozialgesetzbuch IX vorgeschrieben ist. VdK-Präsidentin Verena Bentele begrüßt den Kompromiss: „Die Betroffenen können aufatmen. Jetzt heißt es, den Krankenkassen genau auf die Finger zu schauen. Wir erwarten, dass die Kassen auch tatsächlich mit den Betroffenen zusammenarbeiten. Es darf niemand dazu gezwungen werden, sein Zuhause zu verlassen. Wenn die Krankenkassen nicht kooperieren und Entscheidungsvorbehalte geltend machen, werden wir das vor den Sozialgerichten angreifen. Wir lassen da nicht locker!“«

Man muss sich allerdings klar machen, dass die Betroffenen – die sich nun wirklich in einer existenziell schwierigen Lebenslage befinden – und ihre Angehörigen in Situationen getrieben werden (können), bei denen man neben dem Aufwand des „Teilhabeplanverfahrens“ möglicherweise auch noch vor Gericht ziehen muss. Und die Vereinzelung des Verfahrens erhöht die Risiken, dass man von den großen Systemen überrollt wird, denn es ist ja nicht automatisch sichergestellt, dass sich die Akteure an irgendeine sicher gut gemeinte Philosophie halten. Das kennt man aus vielen Bereichen des Sozialrechts.

Und weitere Stimmen: „Die Wahlfreiheit der Versicherten zum Versorgungsort wurde nachgebessert, aber ob ihre Wahl berechtigt ist, entscheiden weiterhin andere. Damit bleibt die Unsicherheit für Versicherte weiter bestehen“, so Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste e.V. (bpa), anlässlich der Verabschiedung des mehrfach überarbeiteten Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPReG) im Bundestag in einer Pressemitteilung.

Der Vorschlag der grün-rot-magentafarbenen Oppositionskoalition ist da wesentlich eindeutiger und verständlicher und die Aufgabenzuschreibung an die Krankenkassenseite ist klarer. Aber das wurde vom Tisch gewischt.

Nun werden wir uns darauf einstellen müssen, dass es in der vor uns liegenden Zeit eine eigene Welt der Diskussion über die Frage geben wird, was denn – siehe Beschlusslage nach dem Änderungsantrag der Regierungsfraktion – „berechtigte Interessen“ sind und wie die von Menschen beurteilt werden sollen/können, die in ganz anderen Welten leben als diejenigen, um die es hier geht. Und man darf sicher sein, dass sich die großen Apparate in Bewegung setzen werden und das in jedem Einzelfall. Man kann dann hoffen, dass man es mit Menschen zu tun hat, die verstehen, dass das eigentliche Ziel doch sein sollte, den Betroffenen ihre äußerst schwierige Lebenslage soweit wie möglich zu erleichtern und sie zu unterstützen. Man kann hoffen, sicher aber ist das nicht.

Und abschließend noch der Hinweis: Das ganze restriktive und wahrscheinlich (?) aufwändige Unterfangen gilt nur für die außerklinische Intensivpflege zu Hause, in den eigenen vier Wänden der Betroffenen. Die Unterbringung in Heimen hingegen ist voraussetzungslos. Aber ist da die Welt wirklich umstandslos so in Ordnung, dass man davon ausgehen kann und darf, dass die einen Beatmungspatienten wirklich gut versorgen? Sollten die Berichte über Qualitätsprobleme schon bei der Versorgung „normaler“ pflegebedürftiger Menschen nicht allen Grund zur Sorge geben? Dazu kein Wort seitens der Bundesregierung.