Corona-Infektionen, weil die Rumänen „ein geselliges Volk“ sind? Über ein Geschäftsmodell mit osteuropäischen Billigarbeitern und ein Staatsversagen beim Arbeitsschutz (nicht nur) in viralen Zeiten

Über die Menschen, die als Erntehelfer für die Landwirtschaft nach Deutschland geholt wurden (und werden), sowie deren teilweise menschenunwürdige Behandlung auf den Feldern und Höfen des Landes (die übrigens auch in den Vorjahren immer wieder beklagt wurde), kann man in diesem Beitrag vom 1. Mai 2020 einiges erfahren: Was ist eigentlich aus den rumänischen Erntehelfern geworden, die zur Rettung des deutschen Spargels eingeflogen wurden? Von medialen Blitzlichtern und einer Ministerin, die für Landwirte alle Register zieht. Die Register, die hier von Seiten des Staates zugunsten der Spargel- und sonstigen Bauern gezogen werden unter Inkaufnahme nicht nur logischer, sondern auch Menschenleben gefährdender Widersprüche zu den ansonsten geltenden Restriktionen für den Gesundheitsschutz aller Menschen, zeigen eindrücklich, welche „systemrelevante“ Bedeutung die Arbeitskräfte aus Osteuropa hier in Deutschland haben. Das kann man mit vielen guten Argumenten kritisieren und mit Blick auf die Zukunft und das dann sicher abnehmende Potenzial an ausbeutbaren Menschen (zumindest aus Osteuropa) zu einem Auslaufmodell erklären, wie das beispielsweise Vladimir Bogoeski in seinem Beitrag Die Teufelsmühle macht: »Eine menschliche Lieferkette aus Osteuropa sorgt für Spargel auf den Tellern und Pflege für die Alten. Eine Zukunft hat das jedoch nicht.«

Das mag (hoffentlich) so sein, aber derzeit sieht es noch anders aus (was aber nur deshalb für einen Moment an die Aufmerksamkeitsoberfläche gespült wird, weil der Nachschub an billigen Osteuropäern durch die Corona-bedingten Unterbrechungen innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft stockt bzw. blockiert ist – wie der Fluss von Rohstoffen und Vorprodukten in anderen Branchen durch gestörte bzw. brachliegende Lieferketten): Denn es sind ja nicht nur die Erntehelfer aus den Armenhäusern der EU, die hier den Laden am Laufen halten und die Spargel- und später die nachfolgenden Ernten sichern. Man denke an die vielen Frauen, die als Betreuungskräfte in deutsche Privathaushalte kommen und monatelang bleiben, um etwas zu tun, was es eigentlich nicht geben darf: Eine „Rund-um-die-Uhr“-Versorgung älterer, pflegebedürftiger Menschen. Oder wie wäre es mit den vielen osteuropäischen Lkw-Fahrern, die den Fluss der Waren im Wirtschaftskreislauf des Landes aufrechterhalten? Oder schauen wir auf die zahlreichen Baustellen des Landes und hören uns einfach die Sprachen an, mit denen die Bauarbeiter dort untereinander sprechen. Und die vielen Discounter-Kunden unter uns, also wir alle (von den vegan bzw. vegetarischen ausgerichteten Exemplaren abgesehen), kaufen selbstverständlich überaus günstige, man muss gerade im europäischen Vergleich sagen: billige Fleischprodukte ein – und die kommen aus den großen Schlachthöfen und Fleischfabriken der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt, in denen überwiegend osteuropäische Werkvertragsarbeitnehmer schuften. Und die deshalb so kostengünstig schlachten und weiterverarbeiten können, dass die Nachbarstaaten Deutschland schon vor geraumer Zeit eine Beschwerde bei der EU-Kommission eingelegt haben, weil sie mit den bei ihnen fälligen Löhnen keine Chance haben gegen die Dumping-Anbieter aus Deutschland.

Das Coronavirus wütet auch unter den Unsichtbaren in den für die meisten Menschen unsichtbaren Fleischfabriken

Und nun werden wir inmitten der Corona-Krise mit so einer Nachricht konfrontiert: »300 rumänische Werkvertragsarbeiter von Müller Fleisch in Pforzheim haben sich mit dem Coronavirus infiziert.« Das berichtet Nils Klawitter unter der Überschrift Die Fabrik der Infizierten. Und er fügt einen interessanten Hinweis an: »Das Geschäftsmodell einer in Schrottimmobilien abgeschobenen Armee osteuropäischer Billigarbeiter könnte kippen.«

Bereits am 22. April 2020 hatte die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) unter der Überschrift Freddy Adjan: Unternehmen müssen auch für Hygiene bei der Unterbringung sorgen gemeldet: »Beim Frischfleischproduzenten Müller Fleisch in Birkenfeld (Pforzheim) sind inzwischen 168 ausländische Werkvertragsbeschäftigte von insgesamt 800 Beschäftigten positiv auf das Coronavirus getestet worden. Alle anderen Beschäftigten des Unternehmens stehen unter Quarantäne, arbeiten aber bis weitere Testergebnisse, die in den nächsten Tagen erwartet werden, vorliegen.« Und weiter: »Freddy Adjan, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), hat den Umgang des Unternehmens mit der Gesundheit der Beschäftigten scharf kritisiert und das Verhalten von Gesundheitsamt und Landrat als skandalös bezeichnet.«

Interessant ist der ausdrückliche Hinweis der Gewerkschaft auf die Unterbringung der ausländischen Werkvertragsarbeitnehmer. So wird Freddy Adjan mit diesen Worten zitiert: „Nach unseren langjährigen Erfahrungen ist die Unterbringung der Beschäftigten ein wesentlicher Faktor, der zur Verbreitung von Infektionen in Unternehmen der Fleischindustrie beiträgt.“ Häufig zu kleine und überbelegte Wohnungen, zu wenig Sanitärräume, mangelnde Hygiene, aber auch die körperliche Belastung begünstigten Krankheiten, bei denen die körpereigene Abwehr entscheidend sei. „Wir kennen ausufernde Viruserkrankungen bei den ausländischen Beschäftigten der Fleischunternehmen seit langer Zeit. Im vergangenen Jahr war es eine Hepatitis-Infektion im Emsland.“

Und mit Blick auf den (Nicht-)Arbeitsschutz hat die Gewerkschaft NGG bereits frühzeitig beklagt, dass »die Entscheidung des örtlich zuständigen Gesundheitsamtes, dass Müller Fleisch seine Tätigkeit bei 168 positiven Corona-Tests unverändert fortsetzen kann, ein Skandal (sei). Die Aussage des Landrats Bastian Rosenau, wonach keine Gefahr für den Verbraucher bestehen, ist ebenfalls fahrlässig.«

Zwischenzeitlich ist die Zahl der Infizierten weiter gestiegen, wie man dem Artikel von Nils Klawitter entnehmen kann: »Ein Drittel der 900 Arbeiter in Schlachtung, Zerlegung und Verpackung ist infiziert. Die meisten sind Werkvertragskräfte aus Rumänien. 500 Rumänen arbeiten für Müller, oft schon über Jahre. Sie sind dort aber nicht angestellt, sondern bei Subunternehmen.« Die gesamte Müller-Zentrale in Birkenfeld bei Pforzheim ist vom Landkreis unter Quarantäne gestellt worden – was aber keinesfalls bedeutet, dass nun nicht mehr gearbeitet werden darf:

»Selbst die Nicht-Infizierten müssen direkt nach der Arbeit ohne Umwege nach Hause. Sie dürfen nicht einkaufen oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen.« Man beachte: Nach der Arbeit. Aus dem nahegelegenen Schwarzwaldort Höfen wird berichtet: Die Arbeiter säßen wegen ihrer beengten Wohnsituation „stundenlang auf Parkbänken“. Da ist er wieder, der Hinweis auf die miserable Unterbringung. Das geht konkreter:

»In einem heruntergekommenen Gebäude … ist das Elend zu besichtigen: Hier leben nach Auskunft der Gemeinde 16 Personen auf 117 Quadratmetern in einer Vierzimmerwohnung. Eine Regelung wie in Niedersachsen, die mindestens acht Quadratmeter Nutzfläche pro Person vorsieht und Kindern den Aufenthalt in derartigen Monteurunterkünften verbietet, gibt es in Baden-Württemberg nicht. „Uns sind die Hände gebunden“, sagt der Höfener Bürgermeister.«

»Dass die Infektionswelle weniger mit Geselligkeit als vielmehr mit seinem Geschäftsmodell zusammenhängt, also der Auslagerung von Arbeit an osteuropäische Billigarbeitskräfte und deren prekäre Unterbringung, das halte er für ausgeschlossen, sagte Stefan Müller … in einer Telefonkonferenz mit der Regionalpresse.« Stefan Müller ist der Geschäftsführer von Müller Fleisch bei Pforzheim. Und der hat seine ganz eigene Sichtweise auf die hohe Zahl an Infizierten unter den Mitarbeitern seines Betriebs: »Womöglich lag alles ja nur daran, dass die Rumänen ein geselliges Volk sind. Sie kämen eben aus einem Kulturkreis, in dem gern gemeinsam gefeiert werde.« Das muss man erst einmal sacken lassen und der gute Mann schiebt noch einen hinterher: »Man liefere „Care-Pakete“ an die Mitarbeiter in häuslicher Quarantäne.« Wahrscheinlich würde er sich über eine Auszeichnung als Wohltäter in coronalen Zeiten freuen.

Und was hat man mit den Infizierten gemacht? Sie wurden in einem Tagungszentrum untergebracht, »das der Landkreis neben einem aktuell leer stehenden Hotel und einer leer stehenden Rehaklinik zur Unterbringung der Corona-Infizierten angemietet hat. Die Kosten dafür trägt bisher die Allgemeinheit, sie werden schätzungsweise einige Hunderttausend Euro betragen.« Aus Steuermitteln also.

Das muss man auch vor dem Hintergrund einordnen, um was für ein Unternehmen es sich bei Müller Fleisch handelt und für wen und was die stellvertretend stehen:

»Das Unternehmen beliefert fast alle Discounter, macht über eine halbe Milliarde Euro Umsatz und beherrscht wohl gut die Hälfte des Fleischmarkts in Baden-Württemberg. Seine Verantwortung hat es an Subunternehmer ausgelagert. Mit einem guten halben Dutzend solcher Firmen wird in Birkenfeld gearbeitet. Solche Dienstleister steuern eine Schattenarmee von Hunderttausenden osteuropäischen Arbeitern, die in Deutschland Spargel ernten, Fleisch zerteilen, Alte pflegen oder Kreuzfahrtschiffe zusammenbauen.«

Auch auf Baustellentreffen vor allem die Arbeiter ganz unten auf das Virus – und was das mit fundamentalen Problemen des Arbeitsschutzes zu tun hat

Am 22. April 2020 berichtet Oliver Wenzel unter der Überschrift Quarantäne 21: »Auf der Stuttgart-21-Baustelle haben sich mehrere Arbeiter mit dem Coronavirus infiziert, was die Stadt erst nach Presse-Anfragen einräumte. Der Fall wirft ein Licht auf eine zu unkritische Begleitung des Großprojekts ­– und auf grundsätzliche Probleme des Arbeitsschutzes im Land, die sich in der Pandemie drastisch zuspitzen.«

Grundsätzliche Probleme des Arbeitsschutzes – da wird sich der eine oder andere möglicherweise an diesen Artikel erinnern, der hier am 23. September 2018 veröffentlicht wurde: Der Arbeitsschutz zwischen Staatsversagen und „Vision Zero“. Darin: »Deutschland gehöre beim Arbeitsschutz zu den Schlusslichtern in Europa. Das habe der Sachverständigen-Ausschuss des Europarates festgestellt, der in allen Ländern die Einhaltung der sozialen Standards überprüft: „2014 hat der Sachverständigen-Ausschuss zum ersten Mal festgestellt, dass Deutschland im Arbeitsschutz nicht mehr den vorgeschriebenen Standard erreicht. Und wir haben uns eingereiht bei Bulgarien und Ungarn. Und das ist allerdings in Deutschland wenig zur Kenntnis genommen worden.“ So ein O-Ton von Wolfhard Kohrte von der Universität Halle-Wittenberg. Er sieht darin ein Staatsversagen.«

Anders als in vielen anderen europäischen Ländern ruht das deutsche Baugewerbe nicht in der Corona-Pandemie. »Es wird aber … berichtet, dass vielen Arbeitern ziemlich mulmig ist, weil die Abstandsgebote kaum einzuhalten sind, weil besonders ausländische Bautrupps oft in engen Wohncontainern oder Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind. Und außerdem seien Kontrollen momentan wegen Corona seltener geworden.«

Also wieder zurück auf die Baustelle Stuttgart 21: »Mittlerweile gibt es laut Stadt sechs mit SARS-CoV-2 infizierte Arbeiter einer türkischen Baufirma, 92 weitere seien in Quarantäne (Stand 21. April).« Es wird darauf hingewiesen, »dass sich die Stadt erst äußerte, nachdem der Journalist Jörg Nauke für die „Stuttgarter Zeitung“ deswegen angefragt hatte und die Fälle am 17. April öffentlich machte. Das erweckt zwangsläufig den Eindruck, hier sollte etwas unter den Tisch gekehrt werden.« Der Fall wurde überhaupt erst bekannt, nachdem dem Stuttgarter Linken-Stadtrat Tom Adler Informationen von türkischen Arbeitern zugespielt wurden, die er dann öffentlich machte. Die Infizierten und unter Quarantäne stehenden Arbeiter sollen dem türkischen Unternehmen Erfa angehören, einem Subunternehmen der Firmen Hochtief und Züblin.

Gerade bei so einem Großprojekt wie Stuttgart 21 wäre funktionierende Baustellenkontrolle dringend erforderlich, aber die ist doppelt geschwächt bzw. nicht vorhanden:

➔ »Zum einen wegen Corona: Nach Presseanfragen hat das Wirtschaftsministerium eingeräumt, dass momentan „die aktive Überwachung von Betrieben in verminderter Form durchgeführt wird“ – um die eigenen Mitarbeiter zu schützen. Eigeninitiierte Kontrollen durch die Gewerbeaufsicht gebe es nicht, Beschwerden würden telefonisch bearbeitet, denn Außentermine seien gerade nicht gestattet. Arbeitsschutzkontrolle aus dem Homeoffice ist schwierig.«

Das wäre dann ja durch die aktuelle Ausnahmesituation fast noch zu „entschuldigen“, wenn sich das nicht kombiniert mit grundsätzlichen Problemen die Aufstellung des Arbeitsschutzes betreffend:

➔ »Die andere Schwächung ist eine strukturelle: 2005 wurden in Baden-Württemberg im Zuge der Verwaltungsreform die bis dahin Staatlichen Gewerbeaufsichtsämter aus Spargründen aufgelöst und deren Aufgaben den Landratsämtern und Kommunen zugewiesen. Und die sind damit heillos überfordert, weil chronisch unterbesetzt. Der Chef der Gewerbeaufsicht in Stuttgart, Michael Koch, „hat errechnet, dass es in der Stadt rund 60.000 Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz gibt“, sagte der zu diesem Thema recherchierende Journalist Hermann G. Abmayr 2018 … „Doch seine Behörde kann allenfalls 60 oder 70 davon im Jahr ahnden. Und das ist in anderen Regionen ähnlich.“ Abmayr sprach daher auch von einem „Staatsversagen“.«

Da sind wir dann (wieder) bei einem Kernproblem des grundsätzlich und das auch schon vor der Corona-Krise in den Seilen hängenden Arbeitsschutzes. Dazu aus dem Beitrag Der Arbeitsschutz zwischen Staatsversagen und „Vision Zero“ aus dem Jahr 2018:

Man muss »in der Bilanz … darauf hinweisen, dass die enorme Zersplitterung der Arbeitsschutzlandschaft und das föderale Durcheinander mit dazu beitragen, dass wir erhebliche strukturelle Probleme zuungunsten der Arbeitnehmer zu verzeichnen haben und dass wir wieder einmal lernen müssen, wie wichtig eine „große Lösung“ wäre, also eine schlagkräftige Arbeitsbehörde zu schaffen und zu haben, die alle Teilbereiche vernünftig und mit entsprechendem Organisationswissen hinterlegt bearbeiten müsste. Das wäre eigentlich eine Aufgabe für eine große Koalition (gewesen), aber die ist ja mit anderen Dingen beschäftigt.«

Dem ist auch im Mai 2020 nichts mehr hinzuzufügen.