Die Kurzarbeit als Sicherheitsnetz gegen einen Absturz in die Arbeitslosigkeit – mit einigen Löchern

Von Mitte März bis in die erste April-Woche haben 650.000 Betriebe Kurzarbeit angemeldet – mehr als zehn Mal so viel wie auf dem Höhepunkt der Finanz- und Weltwirtschaftskrise 2009. Das waren fast doppelt so viele Unternehmen wie im gesamten Zeitraum der Jahre von 2008 bis Februar 2020. Vgl. zu den Zahlen und den wahrhaft historischen Ausmaßen den Beitrag Kurzarbeit zwischen arbeitsmarktpolitischer Wunderwaffe und der bangen Frage, ob es diesmal auch so läuft wie 2009 vom 12. April 2020.

Mit Sicherheit werden wir eine weitaus höhere Zahl an Kurzarbeitern sehen als bei der bisherigen Rekord-Inanspruchnahme dieses Instruments im Krisenjahr 2009, da waren es in der Spitze 1,4 Millionen Menschen, im Jahresdurchschnitt gut 1,1 Million Kurzarbeiter. Die meisten davon aus den „klassischen“ Industrieunternehmen wie der Metall- und Elektroindustrie oder dem Maschinenbau. Das ist 2020 fundamental anders – und das erklärt auch die bis vor kurzem nicht vorstellbare Zahl an Betrieben, die Kurzarbeit angemeldet haben, denn nun sind durch den Shutdown vor allem die Dienstleistungsbranchen betroffen, die 2009 weiterhin ihren Geschäften nachgehen konnten und relativ ungeschoren davon gekommen sind, nun aber durch die Zwangsstilllegung von 100 auf Null ausgebremst wurden. Das trifft jetzt die besonders beschäftigungsintensiven Branchen unserer Volkswirtschaft.

Beispielsweise Hotels und Gaststätten. Bei denen geht es um die Existenz und es ist derzeit angesichts der Unsicherheiten die Dauer des Shutdowns noch nicht annähernd absehbar, wie viele trotz aller Überbrückungshilfen am Ende vom Markt verschwinden werden müssen.

Nun gab und gibt es sofort die Empfehlung, die arbeitsmarktpolitische Wunderwaffe der Kurzarbeit, die im Krisenjahr 2009 so gut funktioniert hat und einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindern konnte, eben auch jetzt einzusetzen und auf einen gleichen Effekt wie 2009 zu hoffen, dass also nach einem tiefen, aber kurzen Sturz in einer zweiten Phase dann ein rasanter Nachhol- und damit verbunden Wachstumsprozess einsetzt, der die Verluste der Gegenwart in mehr oder weniger kurzer Frist wieder kompensieren wird. Das ist offensichtlich sowohl die Hoffnung der Wirtschaftsforscher, die das Frühjahrsgutachten 2020 erstellt haben wie auch der sogenannten „Wirtschaftsweisen“ in ihrem Sondergutachten 2020. Das kann so kommen und dann wäre das sicher die „beste“ Variante unter den schlechten Szenarien. Aber möglicherweise kommt es diesmal anders, eben weil sich der Shutdown durch die Bereiche der Volkswirtschaft gefressen hat und dort vor sich hin wütet, die bislang immer außen vor geblieben sind bei den letzten Krisen und denen anderes als Großunternehmen der Industrie in deutlich kürzerer Zeit das Licht abgedreht werden muss, weil ihnen zum einen bereits vor der Corona-Krise oftmals das Wasser bis zum Hals oder darüber hinaus stand und zum anderen: selbst wenn die Wirtschaft in absehbarer Zeit wieder (wahrscheinlich relativ sicher) schrittweise hochgefahren wird, dann werden viele dieser Dienstleister eben nicht das nachholen können, was in den vergangenen Wochen oder am Ende Monate unter Normalbedingungen bei ihnen konsumiert worden wäre. Anders gesprochen: Die Menschen werden bestimmt im Sommer (oder Herbst?) nicht all die ausgefallenen Restaurantbesuche der Corona-Zeit nachholen und ein Mehrfaches als existenzrettende Bestellung an die gebeutelten Gastronomen weiterreichen.

Bleiben wir in der Gastronomie – und schauen auf die dort Beschäftigten. Auch denen soll die Kurzarbeit den Job retten und als Überbrückungshilfe fungieren. Angesichts des nicht nur Fachkräfte-, sondern sogar Arbeitskräftemangels, über den wir noch vor wenigen Wochen in der Prä-Corona-Welt debattiert haben, scheint es durchaus plausibel, dass die Unternehmen dieser Branche alles tun werden (müssen), um ihre Beschäftigten zu halten, so wie das die Auto-Hersteller und andere Industrieunternehmen 2009 auch gemacht haben, was ihnen dann ermöglichte, bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 2009 die Produktion wieder nach oben zu fahren, als die Nachfrage vor allem durch die weltweiten Konjunkturprogramme angeheizt wurde, was natürlich für die exportorientierte deutsche Wirtschaft ein echter Segen war. Man konnte dann sogleich mit eingearbeiteten und über die Kurzarbeit im Unternehmen gehaltenen Belegschaften den Absturz überwinden und schnell wieder auf Wachstumskurs wechseln. Und den 2009 besonders von Kurzarbeit betroffenen Belegschaften vieler Industrieunternehmen hat damals die Tatsache, dass sie mit den Industriegewerkschaften starke Interessenvertreter an ihrer Seite hatten, dazu verholfen, dass das Kurzarbeitergeld von 60 bzw. (mit Kind) 67 Prozent des Nettoentgelts für den Arbeitszeitausfall von den Arbeitgebern auf deutlich höhere Nettoersatzraten seitens der Unternehmen aufgestockt wurde.

Die Beschäftigten in der Gastronomie – am Ende der Nahrungskette

»Die Schließung von Bars, Gaststätten und Restaurant trifft die Mitarbeiter besonders hart. Sie verlieren bei Kurzarbeit deutlich von ihren ohnehin schon geringen Netto-Einkommen«, so Christof Rührmaier in seinem Artikel Kurzarbeit: Mitarbeiter in Gastronomie verlieren deutlich. Auch er weist darauf hin, dass es nicht „die“ Kurzarbeiter gibt, sondern man kann und muss tatsächlich von einer Art „Klassengesellschaft“ sprechen: »Entscheidend dafür, ob am Ende bis zu 40 Prozent oder deutlich weniger vom Nettoeinkommen fehlen, ist vor allem, ob es im Tarifvertrag oder in Betriebsvereinigungen Regeln zur Aufstockung gibt.«

Im Gastgewerbe »trifft es die Mitarbeiter hart. Es gibt keine Aufstockungsregelungen und die Branche ist „überdurchschnittlich und als erstes“ betroffen, wie die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) betont. Viele Betriebe hätten komplette Kurzarbeit angemeldet – also die Arbeitszeit auf Null gesetzt. Hinzu kommt, dass die Löhne im Gastgewerbe nicht besonders hoch sind und beim Servicepersonal auch noch die Trinkgelder wegfallen.«

Die Gewerkschaft NGG versucht das mit dem Beispiel von einer Köchin in Berlin zu illustrieren:

»Vor der Corona-Krise hatte eine Köchin (keine Kinder, Steuerklasse I) einen Nettolohn von ca. 1.531 Euro pro Monat. In Kurzarbeit Null bekommt sie nur noch rund 918 Euro pro Monat (60% des letzten Netto, Kurzarbeit Null).«

Übrigens: Ihr Arbeitgeber bekommt die Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von rund 686 Euro pro Monat von der Bundesagentur für Arbeit erstattet. Das war „früher“ anders, da mussten die Arbeitgeber die Hälfte der zu zahlenden Sozialversicherungsbeiträge selbst finanzieren. Die als Entlastung der Arbeitgeber gedachte vollständige Übernahme der Sozialbeiträge durch die BA und damit aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung wurde gleich am Anfang der Corona-Krise, als die Auswirkungen noch gar nicht vorstellbar waren, beschlossen (vgl. dazu den zu dieser Zeit noch durchaus skeptisch und fragend gehaltenen Artikel Wenn Arbeitgeber nach mehr Staat rufen: Mit Kurzarbeit wertvolle Arbeitskräfte in viralen Zeiten hamstern und die Unternehmen auch bei den Sozialbeiträgen entlasten? vom 8. März 2020).

Und was fordert die Gewerkschaft NGG, die dieses Beispiel aufgerufen hat? Nach den gewerkschaftlichen Forderungen sollen sich die Arbeitgeber beteiligen, also einen Teil der gewährten staatlichen Subventionierung an die Arbeitnehmer weiterzureichen: »Die Gewerkschaften fordern, dass der Arbeitgeber das Kurzarbeitergeld mindestens mit dem Arbeitnehmeranteil der neuerdings von der Bundesagentur übernommenen Sozialversicherungsbeiträge aufstockt.«

Was das für die betroffene Köchin aus dem Rechenbeispiel der NGG bedeuten würde? »Die Köchin hätte dann wenigstens: ca. 918 Euro (Kurzarbeitergeld) + ca. 343 Euro (50% der Sozialversicherungsbeiträge): ca. 1.261 Euro.«

343 Euro mehr bedeutet bei diesen Einkommensverhältnissen, die übrigens auf Millionen Arbeitnehmer zutreffen, eine ganze Menge.

Und der DGB hat nachgelegt: »Laut DGB müssen Angestellte in der Gastronomie, deren Arbeitsplätze derzeit vollständig geschlossen sind, derzeit mit 720 Euro im Monat auskommen, Gebäudereiniger mit 780 Euro. Besonders schwer betroffen sind Angestellte, die bisher in Teilzeit beschäftigt waren. Von ihnen mussten laut DGB nun viele Hartz IV beantragen«, so der Beitrag DGB will mehr Geld für Kurzarbeiter vom 9. April 2020.

Was man mit Blick auf die erkennbare „Hierarchie“ der Kurzarbeitergeld-Bezieher nicht vergessen sollte – gerade wenn man die Gastronomie als besonders hart getroffene Branche aufgerufen hat: Die zahlreichen geringfügig Beschäftigten haben überhaupt keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld, da sie nicht in der Arbeitslosenversicherung abgesichert sind. Sie werden die ersten sein, die von Entlassung und Beschäftigungsverlust ohne irgendeine Teil-Kompensation des Verdienstausfalls betroffen sind.

Was könnte/müsste sich ändern im Land der Kurzarbeit?

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) findet die derzeitige Regelung – die Kurzarbeiter erhalten von der Bundesagentur für Arbeit 60 Prozent (ohne Kinder) oder 67 Prozent (mit Kindern) ihres entgangenen Nettoeinkommens – zu niedrig und fordert eine Aufstockung. Für die Monate Mai bis Juli sollten die Kurzarbeiter einen 20-Prozentpunkte-Aufschlag erhalten – also 80 bis 87 Prozent ihres entgangenen Nettolohns.

Eine solche Forderung wird viele Arbeitgeber nicht beunruhigen. Einer auf drei Monate befristeten Aufstockung könnten selbst viele Arbeitgeber zustimmen, solange das Geld aus der Staatskasse bzw. in diesem Fall konkreter: der Arbeitslosenversicherung kommt.

Der DGB steht nicht alleine mit der Forderung nach einer Aufstockung. Der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat eine allgemeine Erhöhung ins Spiel gebracht und angekündigt, mit Arbeitgebern und Gewerkschaften darüber zu reden. Die SPD bevorzugt eine pauschale Anhebung des Lohnersatzes, etwa auf 80 Prozent. Den Grünen ist das zu wenig, sie verlangen gestaffelte Sätze von bis zu 90 Prozent je nach Einkommen.

Und der Sozialflügel der Union hat sich ebenfalls zu Wort gemeldet: »Die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) dringt in der Corona-Krise auf ein Mindestkurzarbeitergeld. “Wir wollen für alle ein Einkommen auf Mindestlohnniveau sichern. Deshalb fordert die CDA ein Mindestkurzarbeitergeld”, heißt es in einem Papier des Sozialflügels der CDU«, kann man diesem Artikel entnehmen: Corona-Krise: Der CDU-Sozialflügel fordert Mindestkurzarbeitergeld. “Ich sehe mit Sorge, dass besonders Geringverdiener unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie leiden”, wird Karl-Josef Laumann, CDA-Bundesvorsitzender und Arbeitsminister in Nordrhein-Westfalen, zitiert. “Wer ohnehin nur ein geringes Einkommen hat, der kann nicht auf 40 Prozent seines Lohnes verzichten. Diese Menschen dürfen wir nicht im Regen stehen lassen.” Ein Mindestkurzarbeitergeld könne Geringverdienern dabei besser helfen als eine pauschale Anhebung des Kurzarbeitergelds. Erreicht der oder die Beschäftigte mit dem Kurzarbeitergeld kein Einkommen über dem Mindestlohn, dann soll die Bundesagentur für Arbeit (BA) das Kurzarbeitergeld auf diesen Betrag aufstocken, so die konkrete Forderung der CDA. Dazu ausführlicher das CDA-Papier Mindest-Kurzarbeitergeld jetzt umsetzen! Dort wird die eben nicht generelle, sondern auf Geringverdiener fokussierte Anhebung des Kurzarbeitergeldes mit zwei Argumenten legitimiert:

➞ »Der besondere Akzent auf Geringverdiener ist auch deshalb gerechtfertigt, weil der Staat für jeden Euro, der mehr verdient wird, auch höhere Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitgebers ausgleicht. Je höher das Einkommen liegt, desto mehr zahlt der Staat. Bei einem Einkommen von 3000 Euro sind dies ca. 280 Euro mehr im Monat als bei einem Mindestlohnverdiener.«
➞ »Mit einer pauschalen Anhebung über alle Branchen und Einkommensgruppen hinweg, würde … die Grundlage für zahlreiche tarifvertragliche und freiwillige Regelungen entfallen … IG BCE, IG Metall, IG BAU, NGG und Ver.di haben solche tariflichen und betrieblichen Vereinbarungen ausgehandelt, die Tarifverträgen Aufstockungen von 80 bis 90 Prozent bzw. teilweise bis zum vollen Ausgleich vorsehen. Solche Lösungen sollen auch weiterhin Vorrang haben … Wir wollen die Betriebe nicht pauschal aus der Verantwortung für ihre Beschäftigten entlassen. Viele können sich weiterhin noch hohe Dividenden und Vorstandsprämien leisten. Solche Betriebe können dann auch selbstständig das Kurzarbeitergeld aufstocken.«

Die CDA führt weiterhin aus: »Das Mindest-Kurzarbeitergeld kann im Falle einer Vollzeitbeschäftigung geringes Einkommen erheblich verbessern. Eine pauschale Anhebung des Kurzarbeitergeldes z.B. auf 80 bzw. 87 Prozent hingegen nicht … Wer weniger als 2000 Euro brutto verdient, das sind rund 15 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland, steht mit dem Mindest-Kurzarbeitergeld bei jedem Euro, den er weniger verdient, besser da.« Dazu wird ein Rechenbeispiel geliefert: »Der Mindestlohn liegt bei ca. 1.620 brutto, das sind ca. 1.200 Euro netto, und dieser Betrag würde auch dem Mindest-Kurzarbeitergeld entsprechen. Wer in Vollzeit 1.620 Euro brutto verdient und in Kurarbeitergeld fällt, erhält bei einer pauschalen Kurzarbeitergeld-Anhebung 960 Euro (80 Prozent von 1.200 Euro) bzw. 1.044 Euro (bei 87 Prozent von 1200 Euro, bei einer anzunehmenden günstigeren Steuerklasse und höherem Nettoeinkommen wären es ca. 1.100 Euro).«

Man könnte natürlich auch hingehen und den bereits teilweise beschrittenen Weg einer arbeitgeberseitigen Aufstockung des Kurzarbeitergeldes ausbauen und auf andere, bislang ausgeschlossene Arbeitnehmer-Gruppen erweitern. Die derzeitige Situation ist ein bunter Flickenteppich – Christof Rührmair hat in seinem Artikel nicht nur darauf hingewiesen, dass es im Gastgewerbe keine Aufstockungsregelungen gibt, sondern er nennt auch Beispiele von Branchen, wo Gewerkschaften solche Aufstockungen mit den Arbeitgebern vereinbart haben:

➞ In der Systemgastronomie (also Unternehmen wie McDonald’s & Co.) profitieren die Mitarbeiter von einer jüngst getroffenen Aufstockungsregel und bekommen 90 Prozent des letzten Nettoeinkommens. Ein typischer Wert sind hier laut der Gewerkschaft NGG gut 1.220 Euro – bei kompletter Kurzarbeit blieben dann rund 1.100.
Einzelhandel: »In kaum einer Branche hat die Corona-Krise eine so große Bandbreite an Auswirkungen. Im Lebensmittelhandel sei Kurzarbeit kein Thema, heißt es vom Handelsverband Deutschland (HDE). Im sogenannten Non-Food-Bereich seien viele Händler allerdings wegen der Ladenschließungen „auf Kurzarbeitsregelungen dringend angewiesen“. Eine tarifliche Vereinbarung zum Kurzarbeitergeld gibt es laut Verdi und HDE nur in Nordrhein-Westfalen. Anfangs wird dort auf 100, dann auf 90 Prozent aufgestockt, begrenzt bis zur Jahresmitte. Allerdings existieren noch zusätzliche Vereinbarungen bei einzelnen Arbeitgebern, nach Verdi-Angaben unter anderem bei H&M oder Primark.«
Metall- und Elektroindustrie: »Mit rund 3,8 Millionen Beschäftigten gehört die Branche zu den absoluten Schwergewichten. Die Regelungen zum Kurzarbeitergeld sind hier allerdings der IG Metall zufolge sehr unterschiedlich. In Baden-Württemberg gibt es in den tarifgebundenen Unternehmen beispielsweise eine Aufstockung auf 85 bis 95 Prozent. Der bereits in einigen Ländern geltende Pilotabschluss aus Nordrhein-Westfalen sieht zwar keine direkte Aufstockung vor, beinhaltet aber andere Maßnahmen, durch die laut Gewerkschaft das Einkommen auf rund 80 Prozent des letzten Nettoeinkommens steigt … Zudem gibt es bei vielen Unternehmen Vereinbarungen, die über die Regelungen hinausgehen – Audi beispielsweise stockt auf 95 Prozent auf. Auch VW, BMW und Daimler gleichen große Teile der Einkommensverluste aus.«
Kfz-Handwerk: »Hier gibt es – je nach Tarifgebiet – unterschiedliche Regelungen in den tarifgebundenen Unternehmen. In Niedersachsen, Bayern und Sachsen gibt es eine Aufstockung auf 90 Prozent, in Baden-Württemberg und Berlin-Brandenburg auf 80 Prozent. Ein typischer Beschäftigter in Niedersachsen bekommt laut IG Metall normalerweise gut 2.100 Euro netto. Bei kompletter Kurzarbeit blieben ihm durch die Aufstockung noch gut 1.900 Euro. Ohne Aufstockung und ohne Kinder wären es nur knapp 1.300.«
Chemisch-pharmazeutische Industrie: »Der Tarifvertrag sieht in der Branche eine Aufstockung auf 90 Prozent vor.«
Öffentlicher Dienst: »Für die meisten Bereiche dieser Branche sei Kurzarbeit „überhaupt kein Thema“ heißt es von Verdi. Wo es doch dazu kommt, erleiden die Mitarbeiter nur vergleichsweise geringe Einbußen: Das Kurzarbeitergeld wird bei den schlechter bezahlten Lohngruppen auf 95 Prozent, bei den besser bezahlten auf 90 Prozent aufgestockt.«
Filmwirtschaft: »Auch hier gibt es eine Vereinbarung für die Corona-Krise: Bei Filmproduktionen wird laut Verdi auf 90 Prozent aufgestockt.«
Textile Dienste: »Zu dieser Branche zählen unter anderem Reinigungen. Hier werden rund 80 Prozent des Nettolohns erreicht.«
(Quelle: Christof Rührmair: Kurzarbeit: Mitarbeiter in Gastronomie verlieren deutlich, in: Berliner Zeitung Online, 13.04.2020)

Eine Übersicht über neue Vereinbarungen zur Kurzarbeit in einzelnen Branchen hat das WSI-Tarifarchiv ins Netz gestellt. Dort findet man solche Aktualisierungen: Eurowings Kabine: Tarifvertrag mit 90 Prozent Kurzarbeitergeldaufstockung vereinbart (08.04.2020) oder Branchentarifvertrag Kurzarbeit für die deutschen Seehäfen erzielt (07.04.2020). Man sieht, da ist eine Menge Bewegung, aber zum einen setzt dieser Weg eine entsprechende Tarifbindung voraus und eine damit verbundene Einflussstärke der Gewerkschaften, zum anderen sind das alles notwendigerweise partikulare Regelungen. Das strukturelle Problem liegt auf der Hand: Gerade im Niedriglohnbereich ist die Tarifbindung hundsmiserabel und das begrenzt natürlich alle entsprechenden Aufstockungsaktivitäten der Gewerkschaften.

Exkurs: Der vergleichende Blick in andere Länder

Eine vergleichende Übersicht über die Regelungen zur Kurzarbeit in Deutschland und anderen europäischen Ländern hat das gewerkschaftsnahe WI-Tarifarchiv vorgelegt:

➔ Thorsten Schulten und Torsten Müller (2020): Kurzarbeitergeld in der Corona-Krise. Aktuelle Regelungen in Deutschland und Europa. Policy Brief WSI Nr. 38, Düsseldorf: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI), April 2020

Ausgangspunkt ist diese richtige Feststellung: »Anders als in der Krise 2008/2009 sind es diesmal aber nicht nur vorwiegend Industriebetriebe, die Kurzarbeit anmelden. Durch den weitgehenden Shutdown des öffentlichen Lebens sind diesmal auch viele Unternehmen aus dem Dienstleistungssektor (Tourismus, Kultur, Gastronomie, Teile des Einzelhandels, Events usw.) betroffen. Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen überdurchschnittlich viele Beschäftigte arbeiten, die nur ein sehr geringes Entgelt bekommen. Gerade für diese Gruppen ist deshalb die Höhe des Kurzarbeitergeldes von entscheidender Bedeutung.« (S. 3)

Zur Situation in anderen Ländern berichten Schulten/Müller (2020: 6 f.): »Regelungen zur Kurzarbeit oder andere ähnlich gelagerte Instrumente zur Überbrückung vorübergehender Krisensituationen sind mittlerweile innerhalb Europas sehr weit verbreitet … In einigen Ländern wie z. B. Deutschland, Belgien, Italien und Österreich haben Regelungen zur Kurzarbeit bereits eine sehr lange Tradition. In anderen – darunter vor allem den mittel- und osteuropäischen Ländern wie z.B. Bulgarien, Polen oder Tschechien – wurde die Möglichkeit zur Kurzarbeit im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008/2009 eingeführt. Vor dem Hintergrund der Corona-Krise sind nun ähnlich wie Deutschland viele Länder dazu übergegangen, ihre etablierten Kurzarbeiter-Regelungen an die neue Lage anzupassen und ihre Nutzungsmöglichkeiten teilweise deutlich zu erweitern. Andere Länder mit einer weniger ausgeprägten Tradition von Kurzarbeitsregelungen haben demgegenüber neue Krisenprogramme aufgelegt, die ebenfalls darauf abzielen, einen temporären Arbeitsausfall mit zeitweiligen staatlichen Lohnersatzleistungen aufzufangen. Zu dieser zuletzt genannten Gruppe gehören viele mittel- und osteuropäische Länder aber auch Großbritannien und Irland. In Dänemark und Österreich verständigten sich Arbeitgeber, Gewerkschaften und Regierung im Rahmen tripartistischer Krisenabkommen auf neue Regelungen zur Kurzarbeit.«

»Ein wesentlicher Unterschied bei den nationalen Regelungen zum Kurzar- beitergeld besteht zunächst darin, ob sich die Lohnersatzleistungen auf das Brutto- oder Nettoentgelt beziehen. In den meisten Ländern wird dabei das Bruttoentgelt zugrunde gelegt, so dass sich netto sogar noch eine deutlich höhere Lohnkompensation ergeben kann. So liegt z. B. in Frankreich das Kurzarbeitergeld bei 70 Prozent des Bruttoentgeltes. Da das Kurzarbeitergeld jedoch steuerfrei ist, entspricht dies 84 Prozent des Nettoentgeltes.«

Interessant vor dem Hintergrund der hier bereits dargestellten Forderung der CDA nach einem Mindestkurzarbeitergeldes: »In einigen Ländern wie z. B. Frankreich, Litauen, Polen, Portugal und Rumänien existiert auch eine absolute Untergrenze für das Kurzarbeitergeld, die durch den gesetzlichen Mindestlohn fixiert wird. Eine solche Regelung soll vor allem Beschäftigten im Niedriglohnsektor während der Kurzarbeit ein bestimmtes Mindesteinkommen sichern.«

Interessant ist die krisenbedingte Regelung das Kurzarbeitergeld in Österreich betreffend:

Quelle: Schulten/Müller (2020, S.9)

Zum österreichischen Modell vgl. auch ausführlicher den Beitrag von Charlotte Reiff: Kurzarbeit: Arbeitsmarktpolitik in Zeiten von COVID-19/Corona vom 25. März 2020.

Zum Abschluss: Das war und ist leider zu erwarten – Gelegenheit macht Diebe

Das Kurzarbeitergeld wird für Millionen Menschen in diesen Tagen und in den kommenden Woche eine elementare Leistung zu Sicherung des Lebensunterhalts. Es ist sozialpolitisch von größter Bedeutung. Allein vor diesem Hintergrund ist jede missbräuchliche Inanspruchnahme dieser Leistung eine Schweinerei, aber leider kann es nicht überraschen, dass auch jetzt wieder – wie beim letzten groß dimensionierten Einsatz der Kurzarbeit im Krisenjahr 2009 (vgl. dazu beispielsweise diesen Artikel vom 2. Januar 2010: »Abzocker täuschen Bundesagentur für Arbeit: Die Behörde hat in einer Zwischenbilanz zur Kurzarbeit Hunderte Verdachtsfälle von Missbrauch bei der Kurzarbeit entdeckt. Meist versuchen kleine Betriebe, bei dem Zuschussgeld zu betrügen. Immer wieder muss die Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden.«) – Berichte über Betrügereien an die Öffentlichkeit getragen werden. Dazu nur als ein Beispiel der Artikel Der Schmu mit der Kurzarbeit von David Böcking und Florian Diekmann: »So einfach wie heute gab es noch nie so viel Kurzarbeitergeld. Da lockt der Betrug: Subvention kassieren und dennoch voll arbeiten lassen. Doch das Risiko ist hoch.«

Das Kurzarbeitergeld scheint hinsichtlich der missbräuchlichen Inanspruchnahme seitens einiger schwarzer Schafe verlockend zu sein. »Umso mehr, als die Bundesregierung die Hürden dafür deutlich gesenkt und es noch attraktiver gemacht hat, indem nun auch die Sozialbeiträge erstattet werden. In sozialen Medien berichten Arbeitnehmer bereits davon, dass ihr Arbeitgeber Kurzarbeit für sie anmelden wolle – sie aber dennoch in gleichem Umfang weiterarbeiten sollen wie bislang.«

Man muss das Problem auch sehen vor dem Hintergrund, welche unvorstellbare Antragsflut die BA zu bewältigen hat, in einem Umfang, der weit über das hinausgeht, was wir 2009 gesehen haben. Und bereits für damals galt: »Steigt die Zahl der Anträge auf Kurzarbeit, so erschwert das die Kontrollen. Zu diesem Schluss kam der Bundesrechnungshof, als er die Genehmigungspraxis nach der Finanzkrise prüfte. In mehr als der Hälfte der untersuchten Fälle erkannte die BA Anträge schon dann an, wenn die Unternehmen nur behaupteten, der Arbeitsausfall beruhe auf der Wirtschaftskrise. Teilweise zahlte die BA sogar Kurzarbeitergeld für bereits gekündigte Arbeitnehmer oder für einen angeblichen Ausfall an arbeitsfreien Feiertagen aus. In mehreren Fällen kassierten zudem Familienangehörige eines Arbeitgebers Kurzarbeitergeld, während alle anderen Arbeitnehmer nicht vom Arbeitsausfall betroffen waren. Die BA reagierte damals auf die Kritik und stellte mehr Personal zur Prüfung der Anträge ab. Der Rechnungshof zeigte sich nach einer Kontrollprüfung zufrieden: Nur noch in 15 Prozent der Fälle seien Anträge nun ohne nähere Begründung bewilligt worden.«

»Ein gewerkschaftlich organisierter Zollbeamter bestätigt, dass ein Missbrauch der Kurzarbeit zwar normalerweise sehr selten geschehe, nun aber ein erneuter Anstieg zu erwarten sei: „Das wird sicherlich in der zweiten Jahreshälfte zum Thema werden.“«