Staatsversagen und Staatsverlangen – am Beispiel des geplanten „Epidemiegesetzes“ in Nordrhein-Westfalen

Wir alle hetzen in diesen wirren Zeiten von einer Meldung zur anderen und für die politischen Entscheidungsträger ist es wahrlich keine einfache Aufgabe, im Strudel der schwer bis gar nicht einzuordnenden Zusammenhänge den Überblick zu behalten und auch noch hilfreiche Entscheidungen treffen zu können. Zuweilen aber muss man den Eindruck bekommen, dass auf der einen Seite vor allem ein Mangel an einer klaren Perspektive auf die Hotspots der Corona-Krise und daraus abgeleiteter tatkräftiger und das heißt schneller und umfassender Maßnahmen zu beobachten ist, während sich parallel dazu der große Tanker Gesetzgeber über die grundsätzlich auch mal zu lobenden beherzte Rettungsgesetzgebung auf der Ebene des Bundes und der Länder hinsichtlich der Auffanglösungen für Unternehmen und Arbeitnehmer inklusive der Bereitstellung enormer Finanzmittel zur Überbrückung der krisenbedingten Ein- und Zusammenbrüche mittlerweile in eine ganz eigene Richtung in Bewegung gesetzt hat, die weniger auf die akute Notfallbehandlung zielt, sondern schwerwiegende strukturelle Veränderungen im komplexen Rechtsgefüge unseres Landes ansteuert bzw. schon auf den Weg gebracht hat, bei dem es auch um die Einschränkung bzw. sogar Aufhebung fundamentaler Grundrechte der Menschen geht.

Der Bund ist bereits vorgeprescht mit dem „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (Bundestags-Drucksache 19/18111 vom 24.03.2020), das ein aus Sicht des Bundes offensichtliches Problem zu adressieren versucht: Das „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen“ (Infektionsschutzgesetz – IfSG) wird im Wesentlichen von den Bundesländern als eigene Angelegenheit ausgeführt. Die Anordnung von Maßnahmen der Verhütung sowie der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten obliegt den nach Landesrecht zuständigen Behörden. Eine ergänzende Zuständigkeit des Bundes für Maßnahmen der Verhütung und insbesondere der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten ist bislang auch für den Krisenfall nicht vorgesehen. Genau das wollte und hat man geändert.

Mit dem neuen Gesetz werden das Bundesgesundheitsministerium und andere Bundesinstitutionen bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite »ermächtigt, durch Anordnung oder Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates Maßnahmen zur Grundversorgung mit Arzneimitteln, einschließlich Betäubungsmitteln, Medizinprodukten, Labordiagnostik, Hilfsmitteln, Gegenständen der persönlichen Schutzausrüstung und Produkten zur Desinfektion sowie zur Stärkung der personellen Ressourcen im Gesundheitswesen zu treffen.«

In diesem Beitrag geht es um die Pflege, darunter vor allem Altenpflege und um die dort arbeitenden Menschen. In diesem Zusammenhang sind diese beiden Punkte im neuen Gesetz von besondere Bedeutung (dazu Christian Rath unter der Überschrift Spahns Pläne für die National-Epi­demie):

➞ Um die Versorgung mit Arzneimitteln und Medizinprodukten zu gewährleisten, kann der Bund diese beschaffen oder beschlagnahmen, er kann die Preise festlegen und die Produktion anordnen.
➞ Um die Gesundheitsversorgung sicherzustellen, können Ärzte, Angehörige von Gesundheitsfachberufen und Medizinstudierende verpflichtet werden, bei der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten mitzuwirken..

Ein Blick in den Gesetzentwurf fördert die folgende Ausformulierung zu Tage:

Im § 5 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) neu (Epidemische Lage von nationaler Tragweite, Verordnungsermächtigungen) wird ein Absatz 2 („Das Bundesministerium für Gesundheit wird im Rahmen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite unbeschadet der Befugnisse der Länder ermächtigt“) eingefügt mit mehreren Unterpunkten.

Ein wichtiger Aspekt: Die noch von Christian Rath erwähnte „Zwangsverpflichtungsoption“ das medizinische Personal betreffend, die im Gesetzentwurf enthalten war, ist so nicht gekommen. Also auf Bundesebene. Dazu die Anmerkung von Anika Klafki in ihrem Beitrag Neue Rechts­grundlagen im Kampf gegen Covid-19: »Nr. 7 und 8 sehen Verordnungsermächtigungen vor, die das medizinische Personal betreffen. Die Regelungen sind im Vergleich zum ursprünglichen Referentenentwurf deutlich entschärft worden. In einer ersten Vorlage war noch vorgesehen, dass Ärzte und Pflegepersonal zur Berufsausübung verpflichtet werden können sollen. Es ist beruhigend, dass man von einer so einschneidenden Maßnahme Abstand genommen hat.«

Zu früh gefreut, könnte man an dieser Stelle einwenden. Denn auch die Bundesländer haben ihre Gesetzgebungsmaschinen angeworfen. Darunter das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen. Und deren Landesregierung hat den Entwurf eines Gesetzes zur konsequenten und solidarischen Bewältigung der COVID-19- Pandemie in Nordrhein-Westfalen und zur Anpassung des Landesrechts im Hinblick auf die Auswirkungen einer Pandemie vorgelegt und möchte/wollte dieses Gesetz im Turbo-Eilverfahren durch den Landtag in die Rechtswirklichkeit bugsieren.

➔ Damit allerdings ist der Ministerpräsident Laschet und seine Landesregierung vorerst aufgelaufen: »Die Opposition im nordrhein-westfälischen Landtag bremst den Plan von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) für weitgehende Regierungsbefugnisse im Kampf gegen das Coronavirus vorerst aus. Gut eine Woche nach der einstimmigen Verabschiedung eines 25-Milliarden-Rettungspakets im Landtag verweigerten SPD, Grüne und AfD, der CDU/FDP-Regierung am Mittwoch die rasche Zustimmung zum geplanten Epidemie-Gesetz zu geben. Die Opposition warnte Laschet, im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus die Rechte des Parlaments zu beschneiden«, kann man diesem Artikel entnehmen: Kein „Blan­ko­scheck“ für Laschet-Regie­rung. Der umstrittene Gesetzentwurf wurde nicht, wie ursprünglich von der Regierung geplant, im Eiltempo durch den Landtag gebracht, sondern zunächst in Ausschüsse überwiesen. Am 6. April sollen dann Sachverständige angehört und am 9. April eine Sonderplenarsitzung in den Osterferien einberufen werden.

Hier lohnt ein Blick in zwei Paragrafen des Gesetzentwurfs:

Da gibt es den § 14 des Entwurfs, unter der Überschrift „Verfügbares Material und medizinische Geräte“. Hier geht es um die Sicherstellungsmöglichkeiten non Material, um Verkaufsverbote usw. Diesen Ansatz finden wir ja auch auf der bundesgesetzlichen Ebene.

Dann aber der § 15 des Gesetzentwurfs – die Überschrift dieses Paragrafen ist mehr als eindeutig: „Verpflichtung zum Einsatz medizinischen und pflegerischen Personals“. Darin findet man diese Formulierungen – hier nur zwei Beispiele:

(1) Die zuständigen Behörden nach § 3 können von Personen, die zur Ausübung der Heilkunde befugt sind oder über eine abgeschlossene Ausbildung in der Pflege, im Rettungsdienst oder in einem anderen Gesundheitsberuf verfügen, die Erbringung von Dienst-, Sach- und Werkleistungen verlangen, soweit das zur Bewältigung der epidemischen Lage nach § 11 dringend erforderlich und angemessen ist. Die Behörden können jede Person nach Satz 1 unter gleichen Voraussetzungen auch zur Erbringung von Dienst-, Sach- und Werkleistungen an Einrichtungen der medizinischen oder pflegerischen Versorgung zuweisen und verpflichten.
(7) Die zuständigen Behörden nach § 3 können die Ärztekammern und die Kassenärztlichen Vereinigungen Nordrhein und Westfalen-Lippe verpflichten, ihnen kostenfrei Namen, Alter, ärztliche Fachrichtung und Kontaktdaten ihrer aktiven oder bereits im Ruhestand befindlichen Mitglieder zu übermitteln, die nach Maßgabe der zuständigen Behörden geeignet sind, einen für die Bewältigung der epidemischen Lage nach § 11zusätzlich erforderlichen ärztlichen Personalbedarf zu decken.

Da ist sie also wieder, die Zwangsverpflichtungsmöglichkeit. Dem bereits zitierten Artikel über das Bremsmanöver im Landtag kann man diesen Einwand entnehmen: »Kritik kam vom früheren Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs (VerfGH) Nordrhein-Westfalen, Michael Bertrams. Für „eine solche Beschneidung von Grundrechten, zu denen auch die Freiheit der Berufsausübung gehört, braucht es ein Höchstmaß an inhaltlicher Bestimmtheit der Voraussetzungen, unter denen ein solcher Grundrechtseingriff möglich sein soll“ … Daran mangele es dem Entwurf der schwarz-gelben Koalitionsregierung.«

Die eklatante Unwucht zwischen einem weit ausgreifenden Staatsverlangen und dem derzeit mehr als offensichtlichen Staatsversagen im Kernbereich pflegerischen Handelns

Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe hat sich mit einer Stellungnahme zu Wort gemeldet, die den Finger auf die Wunde legt. Hier wird deutlich unterschieden zwischen dem § 14 und dem §15 des Gesetzentwurfs:

»Wir begrüßen, dass in § 14 die Behörden ermächtigt werden, im Falle einer lebensbedrohlichen Pandemie Marktmechanismen aussetzen zu können und so dazu beizutragen, Schutzkleidung für das Gesundheitspersonal verfügbar zu machen. Wir erleben, dass gerade in einer Zeit großer Not die Profiteure solcher Krisen völlig ungehemmt Leid, Krankheit und Tot zur eigenen Gewinnmaximierung billigend in Kauf nehmen. Das interpretieren wir als Marktversagen. Wir fordern in aller Deutlichkeit, dass die Verfügbarkeit von Schutzkleidung für alle Pflegefachpersonen und Pflegehilfspersonen sowie andere Gesundheitsfachberufe absoluten Vorrang vor allen anderen Maßnahmen haben muss. Das ist im Moment nicht der Fall, und das bringt auch jetzt schon Pflegefachpersonen, Pflegehilfspersonen und die von ihnen zu Pflegenden in Lebensgefahr. Es gehört in die Chronik dieses skandalösen Vorgangs, dass das RKI in seinen Richtlinien eine Unterscheidung macht zwischen „Maßnahmen bei normaler Personalausstattung“ und „Maßnahmen bei relevantem Personalmangel“. Unabhängig davon, an welcher Stelle dieser Skandal entstanden ist und wie das aktuelle Gesetzgebungsverfahren ausgeht, muss sofort Schutzkleidung für Pflegefachpersonen und –hilfspersonen in Krankenhäusern, Einrichtungen der Altenhilfe, ambulanten Pflegediensten, Pflege-WG, Einrichtungen der Behindertenhilfe und Praxen verfügbar gemacht werden. Das muss vorrangiges Ziel aller Bemühungen sein.«

Dem kann man nur uneingeschränkt folgen. Dann aber die Anmerkungen zum § 15 des Gesetzentwurfs:

»Allein schon vor diesem Hintergrund protestieren wir mit Vehemenz gegen die Zwangsrekrutierung von Pflegefachpersonen, wie sie in § 15 des Entwurfes vorgesehen ist. Wir können nicht unkommentiert zuschauen, wie Pflegefachpersonen in diesem Bewusstsein mit Ansage in Gefahr gebracht werden, ohne Schutzkleidung zur Verfügung zu stellen. Des Weiteren erinnern wir daran, dass der Personalmangel in der Pflege systemimmanent ist und in der jetzigen Krisensituation besonders deutlich wird.«

Und der Berufsverband ergänzt seine Ablehnung der vorgesehenen Möglichkeit einer Zwangsrekrutierung:

»Nach unserem Verständnis ist es angebracht, bei der Bewältigung dieser Krise den ersten Schritt vor dem zweiten zu tun. Der erste Schritt besteht darin, auf die Freiwilligkeit und Solidarität der Berufsgruppe zu setzen und der Krise angemessene Anreize zu setzen, um eine Reserve zu mobilisieren. Diese Reserve sehen wir durchaus und auch die Bereitschaft, in den Beruf zurückzukehren, sofern es dafür einfache und unbürokratische Regelungen von Seiten des Gesetzgebers gibt. IN NRW gibt es hierfür bisher noch nicht einmal eine zentrale Anlaufstelle, bei der sich unterstützungsbereite Pflegefachpersonen freiwillig melden könnten. Dass die Landesregierung zuerst den zweiten Schritt geht und qua Gesetz eine Zwangsrekrutierung ermöglichen will, nehmen wir als eklatantes und unangemessenes Misstrauen in unsere Berufsgruppe wahr.«

Und darüber hinaus kann und muss man anmerken: Ein derart massiver Eingriff in die Grundrechte der Menschen, wie er mit der Zwangsrekrutierung vorgesehen ist, um die Spannweite des Zugriffs des Staates erheblich aus- bzw. zu überdehnen muss eben neben fundamentalen verfassungsrechtlichen Anfragen derzeit vor dem Hintergrund gesehen und bewertet werden, das gleichzeitig in praxi die Pflegekräfte, die da sind und die sich der Herausforderung stellen, einer massiven Gefährdung ausgesetzt sind, weil man nicht in der Lage ist, eine auch nur annähernd als akzeptabel zu bezeichnende Ausstattung mit Schutzmaterial für die tägliche Arbeit sicherzustellen.

Ganz im Gegenteil – gerade in den Institutionen, die sich zu Hotspots der schrecklichen Seite der Corona-Pandemie mit steigenden Infektions- und vor allem Sterbezahlen entwickeln, also die Pflegeheime, aber auch für die vielen, die in den ambulanten Pflegediensten tagtäglich mit vielen hoch gefährdeten Risikogruppen zusammenkommen, gibt es kaum bis keine Schutzausrüstung. Das wird sich in vielen Fällen in den nunmehr durch Besuchsverbote und sonstige Abschottungsmaßnahmen abgeriegelten Heimen bitter rächen.

Hier nur eine Impression aus der Berichterstattung von der „Front“ vor Or, die man einfach mal sacken lassen muss:

»Die Situation in der Pflege ist dramatisch. Den Einrichtungen im Landkreis Rastatt fehlen mehrere tausend Atemschutzmasken. Weil sie Angst hatten, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, haben bereits Pfleger hingeworfen«, so Dominic Körner in seinem Artikel „Fühlen uns verarscht“: Erste Pfleger in Mittelbaden kündigen wegen fehlender Schutzkleidung. Er zitiert Peter Koch, den Vorsitzenden des Pflegebündnisses Mittelbaden und Geschäftsführer der Gaggenauer Altenhilfe: »Die Gaggenauer Altenhilfe betreibt drei Einrichtungen und einen ambulanten Dienst. Um ihre Pfleger zumindest halbwegs zu schützen, sind laut Koch 10.000 Masken pro Monat notwendig. „Selbst dann müssten unsere Mitarbeiter mit ein bis zwei Masken pro Schicht auskommen“, erklärt er. In einem Brandbrief hatte Koch die Politik vor einigen Tagen verzweifelt um Hilfe gebeten. Wo die Ausrüstung aufgebraucht sei, gingen Pfleger oft ohne Schutz in die Wohnungen der Menschen. Am Freitag erhielt die Altenhilfe eine Lieferung vom Landratsamt. Im Paket: 20 Masken … Die ersten Pfleger haben schon ihre Konsequenzen gezogen. „Es gibt Kollegen, die aus Angst vor einer Infektion hingeworfen haben“, berichtet Koch. Es sei „schwer, die Mitarbeiter bei der Stange zu halten.“ … Für Unmut sorgt nun eine E-Mail der Stadt Baden-Baden an die Pflegeheime. Die Einrichtungen sollten ihren Bedarf an Schutzkleidung melden, hieß es darin. Es ging um die Verteilung einer „anzahlmäßig geringen Stückzahl“. Das Material müssten sie selbst abholen. Marius Schulze Beiering ist empört „Ich bekomme die absolute Handlungsunfähigkeit der politischen Akteure vor Augen geführt“, schreibt das Vorstandsmitglied des Pflegebündnisses Mittelbaden in einer Pressemitteilung … Auch Koch hat einen Hals auf die Politik. Mit Blick auf die Bedarfsabfrage sagt er: „Wir fühlen uns verarscht.“ Zuletzt hatte Baden-Badens Bürgermeister Roland Kaiser betont, die Stadt werde keine Schutzkleidung an freie Träger von Pflegeheimen abgeben. Sie hätten ihrer eigenen Pandemiepläne aufstellen und Vorsorge treffen müssen. Kochs Replik fällt deutlich aus: „Das ist eine bodenlose Frechheit. Hier geht es um Menschenleben.“ Alle Einrichtungen hätten einen Grundbestand. „Aber eine Lagerhaltung zahlt uns niemand – weder die Krankenkasse noch die Pflegekasse.“ Koch sieht ein strukturelles Problem, das sich kurzfristig kaum lösen lässt. „Das gesamte System ist auf Just in time ausgerichtet“, sagt er … Für ihn steht fest: Die Coronakrise muss ein Nachspiel haben. „Wir werden alles dafür tun, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“«

Und dann werden die Menschen, die (noch) in der Pflege arbeiten, neben der Diskussion über mögliche Zwangsrekrutierung wie in einer Kriegswirtschaft auch noch mit solchen Botschaften konfrontiert, die Ihnen verdeutlichen, dass sie ganz unten in den Kelleretagen angekommen sind (vgl. dazu den Beitrag Aus den Untiefen der Verletzlichsten und zugleich weitgehend Schutzlos-Gelassenen: Pflegeheime und ambulante Pflegedienste inmitten der Coronavirus-Krise vom 29. März 2020): Bereits am 23. März 2020 wurde über eine Zwei-Klassen-Welt beim Umgang mit infizierten Personen berichtet: RKI lockert Quarantäne-Emp­fehlungen für medizinisches Personal: »Das Robert-Koch-Institut hat seine Empfehlungen für COVID-19-Kontaktpersonen unter medizinischem Personal an Situationen mit relevantem Personalmangel angepasst.« Man kann auch sagen: Man kapituliert ein Stück weit vor dem Personalmangel, der sich durch die normalen Quarantäne-Vorschriften noch potenzieren würde. „Medizinisches Personal muss künftig nach engem ungeschützten Kontakt zu COVID-19-Erkrankten nicht mehr so lange in Quarantäne und darf bei dringendem Bedarf in Klinik oder Praxis arbeiten, solange keine Symptome auftreten“, so wird RKI-Präsident Lothar Wieler in dem Artikel zitiert. Und mit Blick auf die teilweise explodierenden Zahlen an COVID-19-Infektionen in Pflegeheimen werden die dort beschäftigten Menschen mit solchen Aussichten versorgt: Die niedersächsische Gesundheitsministerin hat ausgeführt, dass die infizierten Pflegekräfte mit den Infizierten Bewohnern auf einer separaten Station arbeiten sollen. Das zeigt nicht nur die Not und Überforderung, sondern sendet auch ein fatales Signal, dass bei dem einen oder anderen den Eindruck erwecken könnte, man solle sich opfern. Wie dem auch sei: Man kann es auch übertreiben mit der Ausbeutung der überdurchschnittlichen intrinsischen Motivation der Menschen, die in der Pflege, aber auch in anderen „systemrelevanten“ Berufen arbeiten.

Nachtrag am 11.04.2020:

Man kann auch immer wieder erfreuliche Entwicklungen beobachten – und die sollen dann auch nachgetragen werden: »Nach verfassungsrechtlichen Bedenken ist eine Zwangsverpflichtung von Medizinern in Nordrhein-Westfalen vom Tisch. Der Streit zeigt, auch in der Corona-Krise ist eine normale politische Debatte möglich. Die schwarz-gelbe Landesregierung wollte am 1. April ein Pandemie-Gesetz vom Landtag beschließen lassen. Es hätte medizinisches Personal per Erlass zum Dienst verpflichten sowie die Beschlagnahmung von medizinischem Gerät ermöglichen und allerlei andere Eingriffsmöglichkeiten der Landesregierung zulassen können. Und dies ohne parlamentarische Kontrolle, obwohl massiv in Grundrechte eingegriffen werden sollte. Das rief einigen Unmut hervor. Die Oppositionsparteien beschwerten sich, Fachverbände und Gewerkschaften meldeten massive Bedenken an, und Juristen stellten in Frage, ob das Gesetz verfassungsgemäß sei.
Schnell lenkte die Landesregierung ein, verständigte sich mit SPD und Grünen darauf, das Pandemie-Gesetz in einem schnellen, aber geordneten Verfahren zu beraten. Dazu gehörte eine Expertenanhörung, bei der fast alle Sachverständige massive Bedenken äußerten. Die Landesregierung entschärfte daraufhin das Gesetz und erarbeitete mit SPD und Grünen Änderungen. So ist die Zwangsverpflichtung vom Tisch, stattdessen soll es ein Freiwilligenregister geben. Maßnahmen wie die Beschlagnahmung von Medizintechnik bedürfen eines Landtagsbeschlusses.«
Quelle: Sebastian Weiermann: Einigung bei Pandemie-Gesetz, 11.04.2020.