Nach Bremen im Frühjahr sowie Sachsen und Brandenburg im September findet am 27. Oktober 2019 die letzte Landtagswahl in diesem Jahr statt. Und das ostdeutsche Bundesland Thüringen ist insofern ein besonders interessanter Landstrich, als das hier zum einen seit fünf Jahren ein – und der einzige – Ministerpräsident der Linken regiert, in einer rot-rot-grünen Koalition. Zum anderen steht eine bestimmte Person an der Spitze der AfD, die gleichsam symbolhaft den national-sozialen, also extrem rechten Flügel innerhalb der sich offensichtlich radikalisierenden Partei vertritt: Björn Höcke. Insofern warten viele gespannt auf das heutige Wahlergebnis, wenngleich man argumentieren könnte, dass die Wahl in einem Bundesland mit lediglich 2,1 Mio. Einwohnern, darunter 1,7 Mio. Wahlberechtigte, doch wahrlich nicht überbewertet werden sollte in dem weitaus größeren Gefüge der Bundesrepublik Deutschland.
Die letzten Umfragen vor der Wahl lassen eine schwierige Konstellation für eine Regierungsbildung erkennen. Rot-Rot-Grün könnte die Regierungsmehrheit verlieren. Die CDU hat im Vorfeld Bündnisse mit der Linken und der AfD ausgeschlossen. CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring hatte sich für eine Viererkoalition seiner Partei mit Grünen, SPD und FDP ausgesprochen, wobei die FDP an der 5-Prozent-Hürde kratzt und keinesfalls sicher ist, dass sie den Sprung darüber schaffen wird. Die AfD wird im Vergleich zu 2014, wo sie auf 10,6 Prozent der Stimmen kam, ihr Ergebnis sicher verdoppeln, aber der zwischenzeitliche Höhenflug in den Umfragen mit bis zu 25 Prozent hat sich kurz vor der heutigen Wahl wieder abgeschwächt (in Brandenburg kam die AfD auf 23,5 Prozent), in Sachsen sogar auf 27,5 Prozent).
Auch in diesem Beitrag wird am Ende erneut die Figur Höcke auf die Bühne gerufen, aber in einem ersten Schritt sollte man die personalisierende und damit immer auch gleich verengende Analyse meiden und grundsätzliche Fragen an die bislang anhaltende Erfolgsgeschichte der AfD stellen. Wir sprechen hier u.a. über die derzeit größte Oppositionspartei im Deutschen Bundestag (91 Sitze), vor der FDP (80), den Linken (69) und den Grünen (67). Und manche werden vermutet bzw. gehofft haben, dass sich die AfD wie so viele rechte Vorgängerparteien als ein vorübergehender Ausrutscher erweisen wird, der dann angesichts der eigenen Unfähigkeit im realen parlamentarischen Getriebe von alleine an Attraktion verlieren und irgendwann verschwinden wird wie ein Pubertät-Pickel. Aber derzeit muss man einen anderen Befund zur Kenntnis nehmen:
»Der Osten fungiert … als Avantgarde und mögliche Vorwegnahme dessen, was im Westen auch passieren kann – der Aufstieg der AfD zur neuen Volkspartei. Mit den Wahlen in Brandenburg und Sachsen wurde dafür ein wichtiger Grundstein gelegt. Zum ersten Mal hat die AfD eine Wiederwahl erfolgreich bestanden und dabei ihre Stimmanteile gleich verdoppelt bzw. sogar verdreifacht. Mit 23,5 Prozent in Brandenburg und 27,5 in Sachsen ist die AfD nach 20,8 in Mecklenburg-Vorpommern und 24,2 in Sachsen-Anhalt die neue Volkspartei des Ostens, genauer: die neue „Volksprotestpartei“.« So Albrecht von Lucke in seinem Artikel Die rechte Wende: Der ganz normale Osten, der in der Oktober-Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ veröffentlicht wurde. Und Lucke warnt zugleich vor einer innerdeutschen Reduktion, die vor allem in Westdeutschland anzutreffen ist: »Wer jedoch glaubt, dass es sich dabei um eine ostdeutsche Abnormität handelt, verkennt die Dramatik der Lage: Ostdeutschland steht für die europäische „Normalität“. In weiten Teilen Europas, von Italien über Österreich bis nach Schweden, rangieren Rechtspopulisten an zweiter Stelle des Parteiensystems, wenn sie nicht bereits wie in Ungarn und Polen als Nummer eins faktisch die Macht übernommen haben. Die „europäische Normalisierung“ der Bundesrepublik entpuppt sich damit heute – völlig anders als vor zwölf Jahren erhofft – nicht als eine linke, sondern als eine rechte.«
Und wieder mit dem speziellen Blick auf Ostdeutschland, wo sich die AfD – das wird auch das heutige Wahlergebnis in Thüringen ein weiteres Mal unterstreichen – ist hinsichtlich der Ursachensuche auch dieser Hinweis von Lucke relevant: »Speziell für die Linkspartei entpuppt sich das Jahr 2015 als eine brutale Zäsur: Während sich im Zuge der Weltfinanzkrise 2008 samt anschließender Bankenrettung der Protest als ein linker, kapitalismuskritischer äußerte, steht die Flüchtlingskrise für das Gegenteil. Der Protest richtet sich nun nicht mehr gegen „die da oben“, also gegen das Kapital, sondern gegen „die da unten“, die Flüchtlinge. Ihre Ankunft hat tiefliegende völkische Ressentiments freigesetzt, die nun für dauerhafte rechte Mehrheiten sorgen könnten. Hier zeigt sich, auf welch schmalem Grat die Wahlentscheidung für linke oder eben rechte Parteien verläuft: Im Augenblick des Erlebens von Globalisierung als Migrationsbewegung kippen vormals progressive, kapitalismuskritische Einstellungen ganz schnell nach rechts. Entscheidend für den Niedergang der Linkspartei war, dass sie in der Flüchtlingskrise ihren Status sowohl als Protestpartei als auch als die Kümmererpartei des Ostens verloren hat. Früher gab die Linkspartei, und mehr noch die vormalige PDS, den Unzufriedenen speziell in Ostdeutschland eine (teilweise fatal antiwestliche) Stimme. Heute übernimmt auch diese Rolle immer stärker die Rechte.«
Auch der Soziologe Heinz Bude versucht sich auf dieser Ebene in einer Ursachensuche. In dem Interview „Ein heimatloser Antikapitalismus stiftet irre Allianzen“ führt er aus: »Es ist eindeutig so, dass die AfD mit der Verstärkung des ostdeutschen Teilbewusstseins eine Blüte erlebt. Die Rolle als Stimme der Ostdeutschen hat sie der Linkspartei erfolgreich streitig gemacht … Leider hat vor allem die politische Rechte sich der Sehnsucht nach einem schützenden Wir bemächtigt. Allein machen sie dich ein. Die aufgeklärte politische Linke steht dem relativ hilflos gegenüber, weil sie nur einen Liberalismus des schlechten Gewissens zu bieten hat. Man verteidigt die liberalen Freiheitsrechte gegen die Vorstellung einer exklusiven Solidarität des Volkes, aber hat keinerlei Idee einer „normalen Anständigkeit“, die Bindungen zwischen den Menschen schafft und Verpflichtungen für den einzelnen mit sich bringt.«
Die besondere Bedeutung einer scheinbar nach links blinkenden national-sozialen Sozialpolitik
In dieser Gemengelage kann es nicht überraschen, dass die Vertreter des völkischen Flügels in der AfD eine (scheinbare) „Sozialpolitik für die kleinen Leute“ als Hebel entdeckt und instrumentalisiert haben. Gleichsam lehrbuchhaft erscheint in diesem Kontext der Versuch, die für viele Menschen (gerade in Ostdeutschland) hoch relevante und schmerzhafte Rentenpolitik aufzugreifen – sowohl im strategischen Sinne einer „sozialpolitischen Enthauptung“ der sowieso schon geschwächten Linken wie auch mit Blick auf die unter den bestehenden Bedingungen unausweichlich kommende Welle an altersarmen Menschen nicht nur, aber auch und gerade in Ostdeutschland (darauf wurde und wird in diesem Blog bei der Analyse des Themenfeldes Altersarmut immer wieder hingewiesen).
Gerade Björn Höcke und seine „Flügel“-Gruppe hat die Brisanz des Rententhemas frühzeitig erkannt und den Versuch gestartet, eine eigenständige Alternative, mit der man gut, weil parteiübergreifend hausieren gehen kann:
»Die neoliberale Ideologie, die von allen Altparteien getragen wird und Staaten zu Wurmfortsätzen global agierender Konzerne gemacht hat, entzieht den Volkswirtschaften dringend benötigtes Investitionskapital und senkt in den westlichen Industrienationen die Löhne zugunsten der Kapitalrendite. Die Folgen für den Sozialstaat und die Renten sind verheerend.« Und er führt weiter aus: Die gesetzliche Rentenversicherung sei zugunsten von privaten Versicherungen und Banken ausgehöhlt worden. CDU und SPD haben mit der Ausweitung der Leiharbeit Niedriglöhne auf breiter Front etabliert und das Lohngefüge zugunsten der Kapitalrendite gedrückt. Und die private Vorsorge war ein Irrweg.
Man könnte das für Ausführungen linker Politiker halten – wenn da nicht dieser Begriff der „Altparteien“ wäre, der auf eine andere Urheberschaft andeutet, in diesem Fall auf eine aus den Reihen der AfD, die damit gerne hantiert.
➞ Nur als Anmerkung: Der Begriff „Altparteien“ wurde schon in der Weimarer Republik von der NSDAP verwendet und vor diesem Hintergrund wird er heute verständlicherweise kritisiert. Aber es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass er schon vor der jetzigen Instrumentalisierung seitens der AfD verwendet wurde: Die Grünen bezeichneten in den 1980er Jahren – als sie erstmals in den Bundestag einzogen – CDU/CSU, SPD und FDP als „Altparteien“.
Das Zitat wurde dem Beitrag entnommen, der hier am 2. Juli 2018 veröffentlicht wurde: Die Rentenfrage als Lackmustest? Die AfD und ihre weiter ungeklärte sozialpolitische Ausrichtung. Und wenige Wochen vorher wurde am 7. Juni 2018 ebenfalls kritisch auf die rentenpolitischen Entwicklungen innerhalb der AfD geschaut: Von neoliberaler Kritik am „Rentensozialismus“ bis hin zu einem „völkischen“ Rentenkonzept des national-sozialen Flügels: Anmerkungen zum rentenpolitischen Nebel in der AfD, so ist der Beitrag überschrieben. Den Anfang einer die AfD-Diskussionen über sozialpolitische Fragen mit besonderer Schwerpunktsetzung auf die Rentenpolitik begleitenden Berichterstattung in diesem Blog setzte der Beitrag Konturen einer rechtspopulistischen Sozialpolitik? „Solidarischer Patriotismus“ als umstrittenes Angebot innerhalb der AfD und was das mit der Rente und Betriebsräten zu tun hat vom 1. Februar 2018. In den genannten Beiträgen kann man die nicht nur, aber vor allem rentenpolitischen Klimmzüge innerhalb der AfD nachvollziehen – in einer Partei, in der es aber auch einen ganz anderen „Flügel“ gibt, für den Meuthen und auch Weidel stehen: der neoliberalen Flügel, bei deren Vertretern sogar von einer Abschaffung der umlagefinanzierten Rentenversicherung – vgl. dazu beispielsweise AfD-Chef fordert Abschaffung des bisherigen Rentensystems – in einer Art und Weise phantasiert wird, dass Hardcore-Vertreter des Kapitals ihren Freudentränen nicht Einhalt gebieten können.
Die rentenpolitischen Forderung des völkischen AfD-Flügels kulminieren hingegen in dem Vorschlag einer Art „Staatsbürgerrente“. Konkret wird gefordert: Das Rentenniveau soll generell auf 50 Prozent über das Jahr 2045 hinaus festgeschrieben werden. Darüber hinaus erhalten deutsche Staatsbürger einen steuerfinanzierten Aufschlag, wenn sie weniger als 1.500 Euro Rente erhalten und mindestens 35 Jahre in die Beitragskasse eingezahlt haben. Diesen Aufschlag sollen sie ohne Prüfung durch das Sozialamt erhalten. Ausländer haben keinen Anspruch, auch wenn sie in die Beitragskasse eingezahlt haben. „Familienpolitische“ Aspekte dürfen in so einem Konzept nicht fehlen: In Zukunft sollen von Unternehmen und abhängig Beschäftigten paritätisch drei zusätzliche Prozentpunkte eingezahlt werden. Wer Kinder hat, bei dem fällt jeweils ein Punkt pro Kind weg. Außerdem erhalten Eltern eine zusätzliche Zahlung pro Kind zur Rente. Für das erste Kind gibt es 95 Euro mehr, für das zweite Kind erhalten sie 100 Euro und 125 Euro für das dritte Kind. Wer sich für dieses AfD-Konzept interessiert, kann sich das Original hier anschauen:
➔ AfD Fraktion im Thüringer Landtag (2018): Es geht um Wertschätzung. Produktivitätsrente – Ein Konzept der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, Erfurt, Juni 2018
Interessanterweise war es gerade Höcke, der die Sozialpolitik zum Thema eines eigenen Bundesparteitags der AfD machen wollte, rechtzeitig vor den Landtagswahlen in Ostdeutschland. Schon auf dem Bundesparteitag der AfD im Dezember 2017 hatte der radikal-rechte Flügel um Höcke den Vorstand verpflichten wollen, für die Erarbeitung einer „klaren sozialpolitischen Programmatik“ im Laufe des Jahres 2018 zu sorgen. Besonders intensiv sollten Rente und Krankenversicherung debattiert werden. Dieser Themen-Parteitag wurde bislang aber erfolgreich verschoben, denn spätestens auf einer solchen Veranstaltung wird allen klar werden, wie tief gespalten die AfD hinsichtlich zentraler sozialpolitischer Positionen ist.
Von Seiten der Kritiker hat man zwischenzeitlich immer wieder versucht, die scheinbar an einem fundamentalen Problem der gegenwärtigen Sozialpolitik orientierten Pläne eines Teils der AfD zu entlarven. Vgl. dazu als ein Beispiel den Beitrag Antisozialer Patriotismus: Die Rentenpläne der AfD von Christoph Butterwegge aus dem September 2019. Nach einer Analyse der unterschiedlichen Strömungen innerhalb der AfD kommt Butterwegge zu diesem Fazit: »Wie sich die Gesamtpartei in dem vielleicht über ihre Zukunft entscheidenden Renten- und Richtungsstreit positionieren wird, ist bislang nicht abzusehen. Tragfähige Formelkompromisse zu finden, dürfte der AfD im Hinblick auf ihr Rentenkonzept schwerfallen. Allerdings sprechen die zunehmende Öffnung weiter Teile der Partei zu rechtsextremen Kreisen sowie die unübersehbare Radikalisierung ihrer Mitgliedschaft eher für den „Thüringer Weg“ eines „solidarischen Patriotismus“. Profitieren dürften davon vor allem Björn Höcke und seine Kameraden: Wegen des verschobenen Sonderparteitages können sie ihr Konzept im derzeitigen Wahlkampf in den ostdeutschen Bundesländern als Parteilinie der AfD verkaufen – ob es im nächsten Jahr auch zu dieser gerinnt, ist für den Wahlkampf vorerst unerheblich. Zu befürchten ist auch, dass absehbare Stimmengewinne Höcke und seinen Mitkämpfern für einen völkisch-nationalistischen Kurs ordentlich Rückenwind geben werden.«
Die AfD als Partei der Arbeitslosen, Arbeiter und Gewerkschaftsmitglieder?
Und selbst der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat sich zwischenzeitlich in Bewegung gesetzt und versucht, in kleinen Broschüre nachzuweisen, dass man keineswegs von einer arbeitnehmerorientierten Sozialpolitik bei der AfD sprechen könne:
➔ DGB (2019): Eine »Arbeiterpartei für Deutsche«? Der Sozialpopulismus der AfD, Berlin, Juni 2019
Diese Aktivitäten muss man auch vor dem Hintergrund sehen, dass nicht nur Arbeiter (hier kam die AfD bei den Landtagswahlen in Brandenburg auf 44 Prozent, in Sachsen auf 41 Prozent) und Arbeitslose (Brandenburg: 43 Prozent, Sachsen: 41 Prozent) überdurchschnittlich die AfD wählen. Selbst Gewerkschaftsmitglieder scheinen eine Anziehungskraft seitens der AfD zu verspüren, konkret: Die Wahlergebnisse der AfD unter Gewerkschaftsmitgliedern seien teilweise sogar höher als im Durchschnitt der Bevölkerung, sagen jedenfalls die Wahlforscher mit ihren Wahlanalysen.
Dieser Aspekt wird auch aufgegriffen von Klaus Dörre, der an der Universität Jena arbeitet und dort im Kolleg „Postwachstumsgesellschaften“ unterwegs war und ist. Mit Blick auf die Landtagswahl in Thüringen hat er sich in der Frankfurter Rundschau mit diesem Beitrag zu Wort gemeldet: Die AfD will von der Ungleichheit profitieren. Darin beschreibt er in einem ersten Schritt die seiner Meinung nach relevanten Ausgangsbedingungen speziell in Thüringen:
»Das kleine Bundesland hat eine erstaunliche Entwicklung hinter sich. Mit der Optoelektronik oder der Auto- und Zulieferindustrie haben sich Wachstumskerne herausgebildet, die gemeinsam mit sozialen Dienstleistungen zu Beschäftigungsaufbau und dem Verschwinden der Massenarbeitslosigkeit geführt haben. Grund für Zufriedenheit, sollte man meinen. Erhebliche Teile der Bevölkerung empfinden jedoch anders. Gerade weil die Wirtschaft über mehr als zehn Jahren gewachsen ist, wird der Abstand zum Westniveau umso schmerzhafter erlebt … Wie im gesamten Osten beruhte der wirtschaftliche Erfolg in Thüringen über viele Jahre auf Strategien, die mit niedrigen Löhnen und „überzähligen“ Fachkräften konkurrierte. Selbst bei vergleichbaren Qualifikationen und Tätigkeiten liegen die Löhne im gesamten Osten noch immer um mehr als 16 Prozent unter Westniveau … In der Thüringer Zulieferindustrie beträgt der Abstand 33 Prozent. Man mag dies mit nachgelagerten Positionen in Wertschöpfungsketten, fehlenden Forschungs- und Entwicklungsabteilungen und vornehmlich kleinbetrieblichen Strukturen begründen. Für qualifizierte junge Leute ist das kein Grund zu bleiben. Auch weil sich der Arbeitsmarkt von einem Käufer- in einen Anbietermarkt verwandelt, wachsen die Ansprüche an Entlohnung und Arbeitsbedingungen. Doch die Gewerkschaften und die Tarifbindung sind zu schwach, um diese Ansprüche durchzusetzen. So musste die IG Metall jüngst die Tarifverhandlungen zur Einführung der 35-Stunden-Woche ergebnislos abbrechen. Die gewerkschaftlichen Kräfte reichen offenbar nicht aus, um im Osten durchzusetzen, was im Westen längst Standard ist … Der überdimensionale Niedriglohnsektor mit weit mehr als 30 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse, die Abwertung von nun vorwiegend mit Frauen besetzten Segmenten in sozialen Dienstleistungen, Gesundheits- und Bildungsberufen sowie die Überschichtung der Ostgesellschaften durch den Elitenexport aus dem Westen tragen mit dazu bei, dass sich erhebliche Teile der Bevölkerung in den neuen Ländern als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse empfinden.«
In diese angedeutet Lücke will und kann die AfD stoßen, so Dörre: »Die AfD deutet die soziale Frage in einen Innen-Außenkonflikt um, der zwischen kulturell angeblich nicht integrierbaren Migranten und einer nationalen Gemeinschaft der Volksdeutschen ausgetragen wird. Ökologischen Gefahren beantwortet diese Rechte mit Leugnung des menschengemachten Klimawandels und Plädoyers zugunsten von Braunkohle und Verbrennungsmotor. Der Sehnsucht nach intakten Sozialbeziehungen sucht sie mit Plädoyers zugunsten konservativer Werte und Geschlechterbilder zu entsprechen. Und auf das verbreitete Empfinden von Kontrollverlust antwortet sie mit fiktiver Aufwertung der Ostdeutschen. „Wir holen uns unser Land zurück!“, „Vollendet die Wende“ oder „Seid dabei, wenn wir Geschichte machen“, lauten die Botschaften, die in allen Teilen der Bevölkerung, weit überdurchschnittlich aber bei männlichen Arbeitern und Gewerkschaftsmitgliedern verfangen. In Brandenburg haben deutlich über 40 Prozent der Arbeiter AfD gewählt. In Sachen wurde die extreme Rechte mit 34,1 Prozent bei den männlichen Gewerkschaftsmitgliedern stärkste Partei; in Brandenburg votierte ein Viertel der Gewerkschaftsmänner für die AfD.«
Exkurs: Der große Widerspruch zwischen Eindruck und Realität. Ein Blick in das Wahlprogramm der AfD Thüringen
Nun könnte man es auf der kognitiv-analytischen Ebene versuchen und den Menschen, die den Eindruck haben, mit einer Stimme für die AfD würden sie eine Partei unterstützen, die ihre Interessen als Arbeitslose oder Arbeiter vertreten, zurufen: Vergesst es. Dazu beispielsweise ein Blick in das Wahlprogramm der AfD Thüringen (2019). Was wird dort beispielsweise für die Hartz IV-Empfänger und die Arbeitslosen gefordert?
Gleich am Anfang des Kapitels zur Sozial- und Gesundheitspolitik findet man diese Diagnose: »Die wachsende Zahl von Schul- und Ausbildungsabbrechern sowie von Niedriglohnbeschäftigten, die anhaltend hohe Zahl von Langzeitarbeitslosen und auch eine sich ausbreitende Altersarmut zeigen die Schieflage der bestehenden Wirtschafts- und Sozialordnung.« Da werden jetzt bestimmt konkrete Forderungen zur Lösung dieser Probleme kommen, denkt der unbefangene Beobachter. Aber weit gefehlt:
Zum Thema Hartz IV findet man – nichts. Das Wort taucht gar nicht auf. Punkt und Ende. Falls sich Betroffene irgendwelche Verbesserungen ihrer Lebenslagen versprechen, sollten sie nicht auf konkrete Forderungen der AfD hoffen.
Na gut, dann wenigstens was zur Rente, wenn das Thema von Höcke & Co. schon so vorangetrieben wurde. Und immerhin 13 Treffer zum Wort „Rente“ kann man bei einer Analyse des Wahlprogramms identifizieren: Die Partei lobt sich selbst, wie sie angeblich die Vertreter der – da sind sie wieder – Altparteien vor sich hertreiben, beispielsweise bei »der von uns angestoßenen Diskussion um eine Reform der Rente vor uns hertreiben.« (S. 6). Und was soll passieren? Man fordert, mit Blick auf eine umgarnte Wählergruppe, »die Leistungen aus der Feuerwehrrente für die ehrenamtlich Tätigen zu erhöhen.« (S. 17). Sicher , die Feuerwehren sind eine wichtige Sache, aber das erscheint doch recht kleinteilig. Wie wäre es damit? »Die Position der AfD Thüringen ist klar: Wir stehen zur umlagefinanzierten Rentenversicherung! … Uns geht es um Wertschätzung! Insbesondere Eltern müssen deutlich besser gestellt werden. Sie zahlen Beiträge und erziehen zukünftige Beitragszahler. Ihre Erziehungsleistung muss daher viel stärker berücksichtigt werden als bisher. Um die geforderten Maßnahmen umsetzen zu können, muss die Finanzierungsbasis des Rentensystems erweitert werden. Darüber hinaus dürfen private Rentenprodukte wie die sogenannte Riester- und die Rürup-Rente nicht länger staatlich subventioniert werden.« (S. 24). Das war es dann auch schon.
Das wirkt dann doch alles mehr als dünn, um nicht zu sagen: eine Leerstelle. Aber wenigstens eine konkrete Forderung zu dem in Ostdeutschland so bedeutsamen und von vielen Seiten als zu niedrig kritisierten Mindestlohn wird man dann sich wohl finden? Einen Passus gibt es dazu auf der Seite 41 und der geht so: »Gesetzlicher Mindestlohn und Soziale Marktwirtschaft widersprechen sich nicht zwingend. Der gesetzliche Mindestlohn korrigiert im Bereich der Entlohnung die schwache Lohnverhandlungsposition der Niedriglohnempfänger. Darüber hinaus garantiert er als verbindliche Lohnuntergrenze den Wert menschlicher Arbeit und gewährleistet eine Existenz jenseits der Armutsgrenze. Die AfD Thüringen ist sich jedoch bewusst, dass der Mindestlohn dauerhaft keine Lösung für sozialpolitische Probleme sein kann. Entscheidend ist eine langfristig gute Lohnentwicklung, um dadurch den Mindestlohn überflüssig zu machen.« Das hätte jetzt auch von der FDP oder anderen kommen können, die einer Diskussion der konkreten Höhe des gesetzlichen Mindestlohnes ausweichen möchten.
Abschließend wieder zurück zu Höcke und seiner Türöffner-Funktion für Grenzüberschreitungen bis hin zu völkischen Gewaltphantasien
Am 27. Oktober 2019 steht nicht nur die AfD zur Wahl in Thüringen, sondern explizit auch die Führungsfigur Björn Höcke. Und auch wenn man seine Rolle und reale Bedeutung in der AfD sicher differenziert und das bedeutet konkret: kleiner einschätzen sollte (vgl. dazu die entsprechende Hinweise u.a. bei Albrecht von Lucke: »Der Osten steht auf«: Die AfD als Führerpartei sowie in dem lesenswerten Interview mit dem Historiker und Rechtsextremismusforscher Helmut Kellershohn: „Er ist kein eigenständiger Denker“), sollte man seine durchaus medienwirksame Türöffner-Funktion für rechtsextreme Positionen nicht unterschätzen. Ob er da nun wirklich einen eigenen Beitrag leistet (was viele bezweifeln) oder in Wirklichkeit als sprechender Papagei instrumentalisiert wird seitens obskurer Gestalten wie Götz Kubitschek und dessen sogenanntes Institut für Staatspolitik (IfS) mit Sitz auf dem „Rittergut Schnellroda“ im sachsen-anhaltinischen Steigra, wozu auch die Zeitschrift „Sezession“ gehört, sei hier mal dahingestellt.
Björn Höcke macht als Person Ansagen, die man klar zur Kenntnis nehmen sollte und muss. Und wenn man die folgenden Zitate liest, dann sollte später kein einziger mehr auf die Idee kommen, dass man „das“ doch nicht haben wissen können. Höcke fabuliert klar, was mit einer „völkischen Machtergreifung“ verbunden wäre (zum Begriff „völkisch“, der auch hier für diese Richtung in der AfD verwendet wird, vgl. beispielsweise die Ausführungen von Hajo Funke (2017): Volk, völkisch, Volksgemeinschaft – historische Konzepte. Die Rechtspopulisten heute und die Gesellschaft der Vielfalt, in: Einsicht 18. Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Herbst 2017).
Ein „Zuchtmeister“, der den „Stall ausmistet“ mit „wohltemperierter Grausamkeit“. Die Sprache des Thüringer AfD-Politikers Björn Höcke offenbart seine Gefährlichkeit – so Hajo Funke in einer Analyse, die am 24. Oktober 2019 unter der bezeichnenden und vieles zusammenfassenden Überschrift Höcke will den Bürgerkrieg in der Online-Ausgabe der ZEIT veröffentlicht wurde. Daraus nur die folgenden Ausschnitte, die das Ende dieses Beitrags markieren, ohne noch irgendwie kommentiert zu werden. Die Inhalte und die Sprache sprechen für sich und jeder kann es heute schon sehen, was wäre, wenn.
In seinem Buch „Nie zweimal in denselben Fluss“, das Mitte 2018 erschien, beschwört Höcke einen „Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch“ und damit die zentrale Verschwörungstheorie der Neuen Rechten. Als zentrales Ziel seiner Partei fordert Höcke eine Säuberung Deutschlands von „kulturfremden“ Menschen. Darunter versteht er, in aller Pauschalität, Asiaten und Afrikaner. Höcke schreibt: „Neben dem Schutz unserer nationalen und europäischen Außengrenzen wird ein groß angelegtes Remigrationsprojekt notwendig sein.“ Er will also Millionen Bürger aus dem Land verbannen. Dieses „Remigrationsprojekt“, so schreibt es Höcke, sei wohl nur mit Gewalt zu schaffen: „In der erhofften Wendephase“, (offenkundig meint er einen Machtantritt der AfD), „stünden uns harte Zeiten bevor, denn umso länger ein Patient die drängende Operation verweigert, desto härter werden zwangsläufig die erforderlichen Schnitte werden, wenn sonst nichts mehr hilft.“
Und: „Vor allem eine neue politische Führung wird dann schwere moralische Spannungen auszuhalten haben: Sie ist den Interessen der autochthonen Bevölkerung verpflichtet und muss aller Voraussicht nach Maßnahmen ergreifen, die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwiderlaufen.“ Man werde – so heißt es bei Höcke weiter wörtlich –, „so fürchte ich, nicht um eine Politik der ‚wohltemperierten Grausamkeit‘ herumkommen. Existenzbedrohende Krisen erfordern außergewöhnliches Handeln. Die Verantwortung dafür tragen dann diejenigen, die die Notwendigkeit dieser Maßnahmen mit ihrer unsäglichen Politik herbeigeführt haben.“ (Seite 254 ff.)
Seine Regierung sei lediglich und allein der autochthonen, übersetzt also der ethnisch-deutschen Bevölkerung verpflichtet. Es handelt sich um eine Vorstellung ethnischer Homogenität.
In seinem Buch stellt Höcke auch fest, dass „wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind“ mitzumachen.“ Er denke an einen „Aderlass“. Diejenigen Deutschen, die seinen politischen Zielen nicht zustimmten, würden aus seinem Deutschland ausgeschlossen werden. Er trete für die Reinigung Deutschlands ein. Mit „starkem Besen“ sollten eine „feste Hand“ und ein „Zuchtmeister“ den „Saustall ausmisten“. (Quelle: Hajo Funke (2019): Höcke will den Bürgerkrieg, in: Zeit Online, 24.10.2019)