Aus dem Jobwunderland Deutschland: Die Zahl der „atypisch Beschäftigten“ bleibt weiter auf einem hohen Niveau und trifft bestimmte Arbeitnehmer mehr als andere

Man hat sich fast schon daran gewöhnt, an die Erfolgsmeldungen aus dem Jobwunderland Deutschland. So meldet das Statistische Bundesamt am 29. Mai 2019: »Im April 2019 waren nach vorläufigen Berechnungen … etwas über 45 Millionen Personen mit Wohnort in Deutschland erwerbstätig. Gegenüber April 2018 nahm die Zahl der Erwerbstätigen um 488.000 Personen (zu).«

Nun ist das mit den Zahlen bekanntlich immer so eine Sache und man muss in einem ersten Schritt genau prüfen, über was hier eigentlich berichtet wird. Wenn vom Beschäftigungsrekord berichtet wird, dann wird die Zahl der Erwerbstätigen herangezogen. Die Erwerbstätigen sind nun aber eine überaus heterogene Gruppe, vereinfacht gesagt werden hier alle mitgezählt, die irgendeiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Jemand, der ausschließlich einer geringfügigen Beschäftigung nachgeht, zählt genau so als ein Erwerbstätiger wie ein sozialversicherungspflichtig Beschäftigter, der in einer 40 Stunden-Woche arbeitet. Viele Menschen denken aber, wenn sie hören, wie viele neue Jobs entstanden sind, an „normale“ Jobs – und meinen damit ob bewusst oder unbewusst Vollzeitjobs (und manche gehen sogar „so weit“, davon auszugehen, dass man davon leben kann bzw. können sollte).

Bei einem differenzierteren Blick auf die Entwicklung der Erwerbstätigenzahlen wird auch immer wieder auf die „atypisch Beschäftigten“ hingewiesen. Beim Statistischen Bundesamt kann man diese Definition von „atypisch Beschäftigten“ finden: Arbeitnehmer, die in ihrer Haupttätigkeit eine geringfügige oder befristete Beschäftigung ausüben, in Teilzeit mit bis zu 20 Stunden/Woche arbeiten oder als Leiharbeiter tätig sind.

Wenn man sich die Entwicklung der Zahl der „atypisch Beschäftigten“ seit der Wiedervereinigung anschaut, dann erkennt man den starken Anstieg bis 2007, seitdem verharrt die Zahl auf hohem Niveau. Auch in den vergangenen Jahren, die sicherlich von oben betrachtet als „Sonnenjahre“ der Arbeitsmarktentwicklung bezeichnet werden können. Allerdings kann man auch zeigen, dass in den Jahren seit 2008 mit einer Ausnahme die Zahl der Normalarbeitnehmer-Jobs stärker zugenommen hat als die der atypisch Beschäftigten, die von 2011 bis 2014 sogar gesunken ist.

Eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung der „atypischen Beschäftigung“ verweist auf höchst umstrittene Kontexte: Zum einen neigen viele Beteiligte zu einseitigen Pauschalierungen über „den“ Arbeitsmarkt (die einen schwärmen dann vom deutschen „Jobwunder“ und verbreiten die „alles ist gut und wird immer besser“-Message, die anderen hingegen sehen überall die Ausbreitung von Leiharbeit, Niedriglöhnen und schlechter Arbeit). Das ist gerade mit Blick auf den hyperkomplexen Raum, in dem die vielen unterschiedlichen Arbeitsmärkte eingebettet sind, mehr als reduktionistisch.

Zum anderen wird „atypische“ Beschäftigung häufig mit prekärer Beschäftigung gleichgesetzt. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind nicht geeignet, auf Dauer den Lebensunterhalt einer Person sicherzustellen und/oder deren soziale Sicherung zu gewährleisten. Aber: Atypische Beschäftigung kann, muss aber nicht für die einzelnen Personen mit Prekarität einhergehen. Beispiel befristete Beschäftigung: Wenn eine Befristung für zwei Jahre im Anschluss in eine unbefristete Stelle umgewandelt wird, dann muss die Befristung an sich nicht auf einen prekären Status verweisen, außer, man definiert die Befristung eines Arbeitsvertrages per se als prekären Zustand, was in den bisherigen Abgrenzungen in der Arbeitsmarktstatistik so auch getan wird. Darüber kann man aber durchaus kritisch diskutieren.

Nun hat das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) eine neue Auswertung von Zahlen die atypische Beschäftigung betreffend veröffentlicht:

➔ Eric Seils und Helge Baumann (2019): Trends und Verbreitung atypischer Beschäftigung. Eine Auswertung regionaler Daten. Policy Brief Nr. 34, Düsseldorf: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut, Juni 2019

Unter der Überschrift Atypische Beschäftigung verharrt auf hohem Niveau – Quote in westdeutschen Ländern um bis zu 12 Prozentpunkte höher als im Osten wird über diese Auswertung berichtet:

»Die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland verharrt auf hohem Niveau. Besonders stark betroffen sind nach wie vor Frauen in Westdeutschland, die aus familiären Gründen oft in Teilzeit oder Minijobs arbeiten, zudem jüngere Beschäftigte, geringer Qualifizierte und Beschäftigte ohne deutschen Pass. Dementsprechend unterscheiden sich die Quoten in Ost- und Westdeutschland erheblich, und sie haben sich in den vergangenen Jahren noch auseinanderentwickelt: In den ostdeutschen Bundesländern liegt der Anteil atypisch Beschäftigter nach den aktuellen Zahlen überall unter 18 Prozent, in Brandenburg sogar unter 15 Prozent. Im Westen reicht sie von knapp 18 Prozent in Hamburg bis 23 Prozent und mehr in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Bremen … Teilzeit, Befristung und Leiharbeit waren von Anfang der 1990er-Jahre bis zur Finanzkrise auf dem Vormarsch. Seit 2010 ist der Anteil dieser atypischen Arbeitsverhältnisse an der sogenannten Kernerwerbstätigkeit – darin sind etwa Auszubildende, Schüler, Studierende oder jobbende Rentner nicht enthalten – wieder ein wenig gesunken und verharrte zuletzt bei rund 21 Prozent. 1991 waren es erst knapp 13 Prozent, auf dem Höhepunkt 2007 22,6 Prozent.«

An dieser Stelle muss man einen kurzen Exkurs einschieben. Der eine oder andere wird sich erinnern, dass vor noch gar nicht so langer Zeit das WSI ganz andere Quoten atypischer Beschäftigung berichtet hat – und immer noch berichtet: Da geht es nicht um 21 Prozent, sondern um fast 40 Prozent: »Der Arbeitsmarkt hat sich im Jahr 2016 positiv entwickelt. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Vollzeit ist deutlich gewachsen. Noch stärker hat allerdings die atypische Beschäftigung zugenommen: 2016 waren rund 39,6 Prozent aller abhängigen Hauptbeschäftigungsverhältnisse (ohne Beamte und Selbständige) atypische Jobs, 2015 lag die Quote noch bei 39,3 Prozent.« Diese Werte basieren auf der WSI-Datenbank Atypische Beschäftigung. offensichtlich wird hier anders gerechnet als beim Statistischen Bundesamt. Wie dieser doch erhebliche Unterschied in den Anteilswerten zustande kommt, wurde bereits am 18. August 2017 in diesem Beitrag analysiert: Wie viele sind es denn nun? „Nur“ 21 oder doch 40 Prozent? Die „atypische Beschäftigung“ im Spiegel der Arbeitsmarktstatistik. Offensichtlich hat das WSI für die neue Veröffentlichung die Definition und damit die niedrigeren Anteilswerte des Statistischen Bundesamt übernommen. Dazu findet man bei Seils/Baumann (2019: 3) diesen Hinweis:

»Das WSI hat das auf Mückenberger zurückgehende Konzept der atypischen Beschäftigung in der Vergangenheit mit Hilfe von Daten der Bundesagentur für Arbeit operationalisiert. Dies ermöglichte eine tiefe regionale Gliederung der Ergebnisse und eine unmittelbare Anschlussfähigkeit an den weiteren Datenbestand der Bundesagentur. Aufgrund der unterschiedlichen Datenquellen und Unterschiede bei der definitorischen Abgrenzung des Zählers und des Nenners ergaben sich Quoten, die mit jenen des Statistischen Bundesamtes nicht vergleichbar waren. Das WSI hat sich daher entschlossen, bei der Berichterstattung zur atypischen Beschäftigung insgesamt auf Daten des Statistischen Bundesamtes zurückzugreifen.« Bei ihrer neuen Untersuchung stützen sich Seils und Baumann auf Sonderauswertungen des Statistischen Bundesamtes. Auf dieser Basis haben die Forscher detaillierte Werte für 2017 berechnet – dem aktuellsten Jahr, für das derzeit Daten vorliegen.

Nun kann man – wie in dem Beitrag aus dem Jahr 2017 – den fast 40 Prozent erreichenden Anteilswert der damaligen WSI-Berechnungen als eindeutig zu hoch kritisieren, aber auch die Anteilswerte, die vom Statistischen Bundesamt ausgewiesen werden und die nun vom WSI übernommen worden sind, bleiben nicht ohne kritische Anmerkungen: Zum einen muss man immer mitdenken, dass die Zahlen der Bundesstatistiker aus dem Mikrozensus stammen und die Befragungsergebnisse auf die Grundgesamtheit hochgerechnet werden. Und methodisch weitaus bedeutsamer ist der Hinweis, dass im Nenner bei den Bundesstatistikern auch alle Selbstständigen aufgenommen werden (was natürlich die Quote drückt), zum anderen muss man wissen, dass Teilzeitarbeit bereits ab mehr als 20 Wochenstunden dem Normalarbeitsverhältnis zugeschlagen wird.

Nun wieder zurück zu den Befunden der aktuellen Studie: »Atypische Beschäftigung verteilt sich keineswegs gleichmäßig auf Bevölkerungsgruppen und Regionen. Zwei Drittel des Zuwachses seit der Wiedervereinigung geht auf die Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung unter Frauen in Westdeutschland zurück. Dementsprechend sind bundesweit 30,5 Prozent aller kernerwerbstätigen Frauen atypisch beschäftigt, wobei Minijobs und Teilzeitarbeit dominieren. Unter den Männern haben 12,2 Prozent einen atypischen Job. Bei ihnen spielen Leiharbeit und befristete Beschäftigung eine vergleichsweise große Rolle. Das ergibt insgesamt eine durchschnittliche Quote von 20,8 Prozent im Jahr 2017.«

»Schaut man auf den Durchschnitt beider Geschlechter, stecken vor allem jüngere Beschäftigte in atypischen Jobs. Unter den 15-24-Jährigen gilt dies für 30,9 Prozent. Wesentlicher Grund: Berufsanfänger erhalten häufig erst einmal nur einen befristeten Vertrag.«

»Überdurchschnittlich häufig atypisch beschäftigt sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne deutschen Pass. Der Anteil reicht von 25,3 Prozent unter Ausländerinnen und Ausländern aus den „alten“ EU-15-Ländern bis zu 35,3 Prozent unter Menschen, die aus Staaten außerhalb der EU stammen. Während die Zahl atypisch Beschäftigter ohne deutsche Staatsangehörigkeit in den vergangenen Jahre um knapp 500.000 zugenommen hat, ging sie unter deutschen Frauen (-447.000) und Männern (-183.000) um insgesamt 630.000 zurück.«

Und auch das hier überrascht nicht wirklich: »… der Bildungs- und Berufsabschluss beeinflusst die Wahrscheinlichkeit, atypisch beschäftigt zu sein. Während 36,6 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne anerkannte Berufsausbildung befristet, in Teilzeit oder Leiharbeit tätig sind, liegt die Quote bei Beschäftigten mit abgeschlossener Lehre oder Berufsfachschule bei 20,7 Prozent. Am niedrigsten ist sie unter Menschen mit Hochschulabschluss: 14,3 Prozent.«

Ein Blick auf die regionalen Verteilungsmuster mag den einen oder anderen überraschen, der davon ausgeht, dass der Osten mal wieder schlechter dran ist als der Westen: »Regional steht das Bundesland Bremen mit gut 26 Prozent atypischer Beschäftigung an der Spitze. Es folgen das Saarland, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen mit Quoten zwischen knapp 23 und 24 Prozent … Generell deutlich niedriger sind die Quoten in Ostdeutschland, wo Frauen seit langem weitaus häufiger in Vollzeit arbeiten und die öffentliche Kinderbetreuung stärker ausgebaut ist. Den bundesweit niedrigsten Wert weist Brandenburg mit 14 Prozent auf. Zudem ist die atypische Beschäftigung zuletzt im Osten spürbar gesunken, während sich im Westen nur wenig verändert hat. Daher ist die Differenz zwischen ostdeutschen (durchschnittliche Quote 16,3 Prozent 2017) und westdeutschen (21,8 Prozent) Bundesländern mit aktuell 5,5 Prozentpunkten deutlich größer als Mitte der 1990er (gut 1 Prozentpunkt) oder 2000er (rund 3,5 Prozentpunkte) Jahre.«

Das sind einerseits interessante differenzierende Ergebnisse, zum anderen aber findet man zahlreiche Hinweise, dass man den Kurzschluss atypische Beschäftigung = prekäre Beschäftigung vermeiden sollte. Wenn man die Hinweise auf die Altersverteilung bei der befristeten Beschäftigung als Beispiel nimmt, dann wird klar, dass viele der jüngeren Arbeitnehmer, die am Anfang mit einer Befristung starten, dann aber in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis übernommen werden, kaum als von prekärer Beschäftigung wirklich Betroffene bezeichnet werden können. Zugleich aber haben wir es eben auch teilweise mit einem beweglichen Ziel zu tun. Beispiel ausschließlich geringfügige Beschäftigung. Die wird nicht nur deswegen der prekären Beschäftigung zugeschlagen, weil dort nur geringe Erwerbsarbeitseinkommen erzielt werden können, sondern zugleich erhebliche Sicherungslücken aufgrund des Normalmodells der Vollzeitarbeit in vielen sozialen Sicherungssystemen generiert werden (können). Und selbst wenn die Frauen, die davon überwiegend betroffen sind, aufgrund ihres jetzigen Haushaltskontextes über abgeleitete Sicherungsansprüche nicht in der Prekarität landen, kann sich das im Verlauf der Biografie, beispielsweise nach einer Trennung, von heute auf morgen ändern.

Und zum Abschluss hier noch ein Update zum Thema befristete Arbeitsverhältnisse. Der eine oder andere wird sich erinnern: Das war doch vor einiger zeit ein großes Thema in der Politik. Genauer: Die Eindämmung der befristeten Beschäftigung und vor allem die Begrenzung der sachgrundlosen Befristung. Dazu ausführlicher der Beitrag Die beabsichtigte Einschränkung der sachgrundlosen Befristung und das ewige Dilemma mit den Schwellenwerten vom 20. Februar 2018. Nun berichtet Detlef Esslinger in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift Ein fester Job, aber immer wieder arbeitslos: »In Deutschland haben mehr als drei Millionen Menschen einen befristeten Arbeitsvertrag, 1,7 Millionen davon ohne Sachgrund. Die Koalition wollte die sachgrundlose Befristung eigentlich neu regeln – doch das Gesetz steckt fest.« Dabei sollte das sich schon längst geändert sein: »Die SPD verhandelte in den Koalitionsvertrag nicht nur hinein, dass die sachgrundlose Befristung neu geregelt wird, sondern auch wie: Arbeitgeber mit mehr als 75 Arbeitnehmern dürfen nur noch maximal 2,5 Prozent von ihnen sachgrundlos anstellen; der Vertrag darf maximal 18 Monate laufen und nur einmal um diese Zeit verlängert werden.«

Aber das Gesetz steckt fest, aus der Regierung ist nur zu hören, dass es „für dieses Jahr“ auf der Agenda stehe. Möglicherweise sind solche Zahlen als Hintergrund relevant: 1,7 Millionen der 3,2 Millionen befristet Beschäftigten haben ohne Sachgrund einen solchen Arbeitsvertrag. 1,1 Millionen arbeiten in Betrieben mit mehr als 75 Beschäftigten, könnten also von einer Neuregelung profitieren, wenn sie denn kommen. Da wird man abwarten müssen.

Nachtrag am 26.06.2019:
Die Bundesregierung wurde in einer Anfrage nach ihren Kenntnissen über aktuelle Daten zu befristeter Beschäftigung befragt. Hier die Antwort: Befristete Beschäftigung in Deutschland, Bundestags-Drucksache 19/10971 vom 18.06.2019.