Der Europäische Gerichtshof (EuGH) spielt eine immer wichtigere Rolle, nicht nur in strittigen Fragen der Sozialpolitik, die ja eigentlich ganz überwiegend in der Souveränität der Mitgliedsstaaten steht. Selbst die mehr als bockige polnische Regierung, so wird gemeldet, musste vor dem EuGH einknicken: Polen hebt Zwangsruhestand von Richtern auf: »Polens Regierung hebt die umstrittenen Zwangspensionierungen Oberster Richter wieder auf. Die Regierungspartei PiS legte im Warschauer Parlament einen entsprechenden Gesetzentwurf vor, der den rechtlichen Status zwangspensionierter Richter ändern und ihnen den Dienst wieder erlauben soll. Die betroffenen Juristen waren allerdings bereits nach einem Beschluss des Europäischen Gerichtshof im Oktober wieder zur Arbeit zurückgekehrt. Der EuGH hatte zuvor angeordnet, die umstrittenen Zwangspensionierungen sofort zu stoppen und rückgängig zu machen.« Die EU-Kommission sah durch die Entscheidungen der polnischen Regierung die Unabhängigkeit der Justiz bedroht und hatte gegen das Gesetz geklagt. Sie kritisiert seit 2016 den Umbau der polnischen Justiz und leitete 2017 ein Rechtsstaatsverfahren ein, was als schärfste Waffe gegen Regelverstöße von Mitgliedsstaaten gilt.
Und Deutschland hat bereits mehrfach Erfahrungen machen dürfen mit Entscheidungen des EuGH beispielsweise in Fragen der Sozialhilfe für EU-Ausländer oder hinsichtlich des besonderen, sehr eigenen Arbeitsrechts der Kirchen (vgl. dazu diese Beiträge). Und hier bei uns wird man sehr genau auf eine neue Entscheidung des höchsten europäischen Gerichts schauen, die sachverhaltsmäßig Österreich betrifft, aber für alle EU-Mitgliedsstaaten bindend ist.
»Die Neuregelung der Mindestsicherung in Oberösterreich ist nach rund zwei Jahren wohl wieder Geschichte: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg entschied am Mittwoch, dass die Schlechterstellung von Flüchtlingen mit befristetem Aufenthaltsrecht gegen EU-Recht verstoße. Das Urteil dürfte Folgen über Oberösterreich hinaus haben«, berichtet der ORF unter der Überschrift Mindestsicherung in Oberösterreich gekippt.
Es geht hier um eine gesetzgeberische Entscheidung auf Bundesländerebene in Österreich, mit der man Leistungen für bestimmte Personengruppen deutlich abgesenkt hat: Seit Juli 2016 erhalten subsidiär Schutzberechtigte und befristet Asylberechtigte im Bundesland Oberösterreicheine eine deutlich niedrigere Mindestsicherung als dauerhaft Aslyberechtigte, die hier österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt sind.
Zum Sachverhalt: »Konkret ging es um einen Afghanen, der mit seiner Familie nach Österreich gekommen und dort 2016 als Flüchtling anerkannt worden war. Damit ging eine Aufenthaltsberechtigung für drei Jahre einher. Der Mann erhielt Sozialhilfe, allerdings gemäß einer österreichischen Regelung weniger als Flüchtlinge ohne eine Befristung des Aufenthaltsrechts. Diese erhalten ebensoviel Sozialhilfe wie Inländer. Fraglich war, ob die unterschiedliche Behandlung mit der sogenannten Anerkennungsrichtlinie vereinbar ist, einem EU-Gesetz von 2011 zum Schutz von Flüchtlingen«, kann man diesem Artikel entnehmen: EuGH stärkt Recht von Flüchtlingen auf Sozialhilfe. Bei der angesprochenen Richtlinie handelt es sich um die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und Rates vom 13. Dezember 2011 „über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes“.
Die EuGH-Richter befanden nun, dass das Gesetz hinsichtlich der Frage, ob die unterschiedliche Behandlung mit der sogenannten Anerkennungsrichtlinie vereinbar ist, eindeutig sei: Anerkannte Flüchtlinge haben in einem EU-Land Anspruch auf Sozialleistungen in gleicher Höhe wie die eigenen Staatsangehörigen, und zwar unabhängig von einer möglichen Befristung des Aufenthalts. Das entspreche auch der Genfer Flüchtlingskonvention, in deren Licht die Richtlinie zu lesen sei. Stehe nationales Recht dem entgegen, gehe das EU-Recht vor, befand das Gericht. Zu der Entscheidung des EuGH und der Begründung vgl. Urteil des EuGH, C‑713/17 vom 21. November 2018.
Allerdings wird seitens des EuGH auch betont: Eine andere Frage seien Sozialleistungen für bloß subsidiär Schutzberechtigte, welche niedriger sein könnten.
Zu den Reaktionen in Österreich kann man beispielsweise dem Artikel EuGH kippt Oberösterreichs gekürzte Mindestsicherung entnehmen: »“Die Entscheidung des EuGH nehmen wir zur Kenntnis. Wir stehen politisch aber weiterhin zu unserer Reform der Mindestsicherung, zu mehr Arbeitsanreiz und Leistungsgerechtigkeit“, sind sich ÖVP-Landesgeschäftsführer Wolfgang Hattmannsdorfer und FPÖ-Klubobmann Herwig Mahr einig. Eines der zentralen Ziele habe man „in jedem Fall“ erreicht. Hattmannsdorfer: „Wir haben aus Oberösterreich mit unserem konsequenten Vorangehen den nötigen Anstoß gegeben für eine österreichweit einheitliche Regelung, die noch im November präsentiert werden soll.“ Das Vorhaben sei „schon immer eine strengere bundeseinheitliche Regelung gewesen“ … Die schwarz-blaue Regierung in Oberösterreich sah in der Kürzung der Mindestsicherung für befristete Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte einen wesentlichen Beitrag, die Attraktivität ihres Bundeslands als Zielgebiet für Flüchtlinge zu senken und das Sozialsystem vor Überforderung zu schützen.«
Das alles wird und muss Folgen haben für die angekündigte bundesweite Regelung in Österreich: »Die ÖVP-FPÖ-Bundesregierung nannte das oberösterreichische Modell mehrfach als Vorbild für die bundesweite Neuregelung der Mindestsicherung, die in Kürze beschlossen werden soll. Auch hier war bisher die Rede davon, zwischen den verschiedenen Beziehern zu unterscheiden. So war etwa geplant, Drittstaatsangehörigen und anerkannten Flüchtlingen 300 Euro monatlich zu streichen.« Dem ORF-Bericht Mindestsicherung in Oberösterreich gekippt kann man ergänzend entnehmen, dass es auch in Österreich selbst seitens der Rechtsprechung erhebliche Widerstände gegeben hat: »Dabei war eine ähnliche Regelung in Niederösterreich, die zum Teil auch dem oberösterreichischen Modell Pate gestanden hatte, bereits im März vom Verfassungsgerichtshof (VfGH) aufgehoben worden. In Niederösterreich stieß sich der VfGH zum einen an einer Deckelung der Beträge. Zum anderen widersprach er der in der Regelung festgeschriebenen Wartefrist. Diese sah für alle Menschen, die sich nicht mindestens fünf der vergangenen sechs Jahre in Österreich aufgehalten hatten, statt der Mindestsicherung nur eine geringere Leistung gemäß den „Mindeststandards – Integration“ vor.« Und: »Eine Deckelung findet sich auch im oberösterreichischen Modell. So werden zurzeit maximal 1.512 Euro pro Haushalt ausgezahlt. Dazuverdienen ist aber bis zu einer höheren Grenze ohne Kürzung des Bezugs möglich. Mit der Deckelung hat sich der EuGH nicht beschäftigt. Sie wird aber zurzeit vom VfGH geprüft – eine Entscheidung wird für Ende November erwartet.«
Hat die Entscheidung des EuGH Relevanz für Deutschland? Eher nicht, folgt man dem Artikel EuGH stärkt Recht von Flüchtlingen auf Sozialhilfe:
»Für Deutschland dürfte der Richterspruch keine direkten Folgen haben. Denn nach Auskunft der Behörden gibt es keine unterschiedliche Behandlung anerkannter Flüchtlinge bei der Sozialhilfe, die von der Dauer des Aufenthaltsrechts abhinge. „Ein anerkannter Flüchtling, sofern er nicht für den Lebensunterhalt von sich und seiner Familie aufkommen kann, hat Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung“, sagte eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit. Eine Sprecherin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) erklärte: „Für alle Personen, die Flüchtlingsschutz bekommen, gelten die gleichen rechtlichen Grundlagen und Folgen.“«