Die Jugendämter und ihr Personal: Aus einem Schattenreich, das nur selten und wenn, dann punktuell angeleuchtet wird

Es gibt Bereiche, in denen sich tagtäglich Dramen abspielen und zugleich viele kleine Erfolge erreicht werden können, die aber trotz (oder wegen) der gegen fundamentale Menschenrechte gerichteten Wucht der Ereignisse und Zusammenhänge von der Berichterstattung gemieden werden. Nur hin und wieder, eben punktuell, wird die öffentliche Aufmerksamkeit wie mit einem Stromschlag daran erinnert, dass es das inmitten unter uns gibt: Kindstötungen, Kindeswohlgefährdung in massivster Art und Weise, völlig überforderte Familien, bei denen man zuweilen auch mit emotionalen Wracks konfrontiert wird. Und alle Außenstehende sind dankbar, dass es Spezialisten gibt, Profis, die an der Front die Scherben einzusammeln versuchen, die sich kümmern, die Wächterfunktion des Staates ausüben – und die dann nicht selten die prägende Erfahrung machen müssen, dass sie es eigentlich immer nur falsch machen können: Entweder tun sie etwas zu früh oder zu spät. Und wenn sie was (nicht) tun und es geht schief, dann ist das nicht nur einer dieser vielen Fehler, die jedem von uns bei der Arbeit passieren, sondern neben zuweilen entsetzlichen Folgen trägt man schwer an der Schuld, selbst wenn man nicht verurteilt wird vor einem Gericht.

Keine Frage, die Arbeit in den Jugendämter ist in weiten Teilen wahrlich ein Hardcore-Job und eigentlich nicht wirklich gut und geeignet für ganz junge Fachkräfte, zugleich aber auch nicht ersetzbar durch angelernte Kräfte, auf die man gerne in anderen Bereichen des Sozialwesens auszuweichen versucht. Wenn man generell unter Fachkräftemangel stöhnt, dann wird dieser in den Jugendämtern als ein multipler Mangel spürbar und er lässt sich nur durch die Zufuhr entsprechend, also einschlägig qualifizierter Menschen beheben oder wenigstens abmildern. Und wenn es die nicht gibt? Oder sie nicht wollen können unter den angedeuteten Bedingungen? Dann wird es im wahrsten Sinne des Wortes lebensbedrohlich. Vielleicht auch ein Grund dafür, warum so viele einen Bogen machen um diese Welt.

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig und Verpflichtung zugleich, dass immer wieder auch in diesem Blog über die Situation in den Jugendämtern berichtet und auf Probleme und Missstände aufmerksam gemacht wird. So am 21. Mai 2018 unter der Überschrift Heimkinder. Kein Auslaufmodell. Ganz im Gegenteil. Und das in Zeiten des Mangels an Plätzen und Personal. Und gerade die Personalsituation wurde am 16. Mai 2018 in diesem Beitrag am Beispiel einer neuen Studie dazu thematisiert: Die Jugendämter auf verlorenem Posten? Eine neue Studie zu einem alten Problem.

In diesen Tagen wird dazu erneut aus Berlin berichtet: Berliner Jugendämter: Kinderschutz braucht Personal, so ist einer der Artikel dazu überschrieben. Mitarbeiter der Jugendämter sind überlastet, der Krankenstand ist hoch, die Bezahlung mies. Die Gewerkschaft Verdi ruft am Tag der Deutschen Einheit zum Protest auf. Plutonia Plarre berichtet aus dem Berliner Schulalltag: »Seit sechs Jahren ist Mina Hagedorn Grundschullehrerin in Kreuzberg. Wiederholt hatte sie in dieser Zeit mit dem bezirklichen Jugendamt zu tun. Etwa, weil ein Schüler oder eine Schülerin eine Lern- oder Sozialtherapie brauchte. Dabei habe sie eine krasse Entdeckung gemacht, berichtet Hagedorn. „Fast alle Mitarbeiterinnen vom Jugendamt, die ich wegen Kindern meiner Klasse getroffen habe, waren kurz danach entweder monatelang krank oder haben gekündigt.“ Dabei seien die Leute extrem engagiert gewesen.«

Die Gewerkschaft Verdi macht mobil unter dem Motto „RSD in Not“. „RSD“ steht für „Regionaler Sozialpädagogischer Dienst“. Bei den Jugendämtern sind das die Abteilungen, die für den Kinderschutz zuständig sind. Das reicht von der Gewährung von Hilfen zur Erziehung bis hin zur Herausnahme von Kindern aus Familien. Und dort sei die generell in den Jugendämtern mehr als angespannte Personalsituation besonders schlimm: »In Extremfällen komme es vor, dass ein Sozialarbeiter bis zu 120 Fälle zu bearbeiten habe. Bis zu 100 Fälle pro Fachkraft seien in manchen Bezirken der Normalfall.« Das auch vor diesem Hintergrund: »Berlinweit sind von rund 890 Stellen bei den Regionalen Sozialpädagogischen Diensten rund 145 Stellen nicht besetzt (Stand 31. August 2018).«

Aus fachlicher Sicht wäre es wünschenswert, dass eine Fachkraft nicht mehr als 65 Fälle bearbeite – für einen solchen Schlüssel setzt sich auch die Berliner Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD) ein, trifft aber auf einen erheblichen Fachkräftemangel.

Nun sind die massiven Personalprobleme in den Jugendämtern und dann auch noch in den wahrhaft sensiblen Bereichen des Kinderschutzes nicht erst gestern vom Himmel gefallen (vgl. dazu den Beitrag Die Großen fehlen, die Kleinen bleiben auf der Strecke. Personalnot (nicht nur) in den Jugendämtern in Berlin, der am 27. Januar 2017 hier veröffentlicht wurde). Und die Politik hat Abhilfe versprochen. »Mit zusätzlichen Stellen sollte alles besser werden in Berlins Jugendämtern. Doch in einigen Bezirken ist das Gegenteil eingetreten«, so die auf den ersten Blick überraschende Botschaft von Susanne Vieth-Entus in ihrem Artikel Berlins Jugendämter verlieren Kinderschützer: »Die Kehrtwende in den ausgedünnten Jugendämtern lässt auf sich warten … (es) wurde bekannt, dass sich in einigen Berliner Bezirken der Notstand sogar noch verschärft hat: Der Anteil der freien Stellen wuchs auf rund 20 Prozent.« Das habe die Antwort des Senats auf die Anfrage Wer schützt den Kinderschutz im Land Berlin? ergeben. Man muss sich die Größenordnung des real existierenden Mangels vor Augen führen: »Am dramatischsten ist die Lage in Tempelhof-Schöneberg: Hier waren im Juli sogar 44 Prozent der Stellen nicht besetzt. Dies ist nochmals eine Verschlechterung gegenüber dem Februar, als der Anteil der Vakanzen bei knapp 30 Prozent gelegen hatte, was auch bereits als „Notlage“ galt. Nicht viel besser sieht es in Charlottenburg-Wilmersdorf aus, wo der Anteil der freien Stellen mit 38 Prozent angegeben wird, sowie in Marzahn-Hellersdorf, wo mehr als ein Viertel der Stellen, nicht besetzt werden konnten.«

Die neuen Zahlen machen deutlich, dass es vielen Bezirken nicht geholfen hat, zusätzliche Stellen zu finanzieren, denn es finden sich auf dem Arbeitsmarkt keine Sozialarbeiter. Da die wenigen verbliebenen Mitarbeiter überfordert sind, steigt der Krankenstand, was die Lage weiter verschärft, so beschreibt Vieth-Entus die sich selbst verschärfende Spirale nach unten.

Einen ausführlichen Überblick über die Situation in Berlin findet man in diesem Artikel: Jugendämter in Berlin schlagen Alarm. Dort wird darauf hingewiesen, dass die üble Personalsituation nicht nur vor dem Hintergrund bewertet werden muss, dass die „klassischen“ Aufgaben des Kinderschutzes in einer Stadt wie Berlin an Quantität und Qualität zunehmen, sondern auch neue Aufgaben hinzu gekommen sind. Beispiel: Viel mehr zu tun als früher haben die Mitarbeiter für die Auszahlung des Unterhaltsvorschusses. Wenn Väter nicht zahlen, springt das Amt ein, und seit 2017 auch für über Zwölfjährige und bis zum 18. Lebensjahr. Die Fallzahlen seien um 60 Prozent nach oben gegangen. Weitere Beispiele: »Neukölln muss zudem Jugendliche weiter im betreuten Jugendwohnen halten, obwohl die jungen Leute zumeist selbstständig ihren Alltag planen und auch eine eigene Wohnung finanzieren könnten. Doch es gibt keine Wohnungen auf dem Markt. Die Höhe der Kosten, die gespart werden könnten: eine halbe Million Euro pro Jahr für rund 40 Jugendliche. Zugleich werden keine Plätze für nachrückende, bedürftige junge Menschen frei. Auch – kostengünstigere – Pflegefamilien fehlen, obwohl sie für die Entwicklung vieler gerade jüngerer Kinder wertvoll wären.«

Immer wieder beklagt wird die schlechte Bezahlung – und nicht nur das: »Ein Sozialarbeiter, verheiratet, zwei Kinder, beginnt in Berlin als Neueinsteiger in der Angestellten-Gehaltsgruppe E9 mit 2100 Euro netto. „Und dabei muss er Entscheidungen fällen, bei denen es teils um Leben und Tod geht.“ Überhaupt: selbst wenn Personal gefunden werde, wären nicht die Probleme gelöst. Berufseinsteiger seien Mitte Zwanzig, unerfahren, stünden plötzlich in einer Problemfamilie, seien oft überfordert. „Bis jemand eingearbeitet ist, dauert es zwei, drei Jahre“, sagt Neuköllns Jugendstadtrat. Wichtig seien Supervision, Fortbildungen, die allerdings Zeit kosten.«

Wenn man nach „Fachkräftemangel“ in der Wirklichkeit sucht, dann wird man hier fündig: »Sozialpädagogen und Sozialarbeiter werden auf dem „Berliner Karriereportal“ des Senats heftig umworben. Voraussetzung ist ein siebensemestriges Bachelorstudium für Soziale Arbeit oder Sozialpädagogik einschließlich eines Praktikumssemesters. Die Einstiegsgehälter liegen in Berlin bei etwa 2750 Euro brutto.« Und der Nachwuchs fällt rein quantitativ gesehen (also ohne Berücksichtigung der gerade hier so wichtigen Frage, ob man für das Arbeitsfeld auch geeignet ist) geringer aus als theoretisch möglich: »Soziale Arbeit kann man in Berlin an der staatlichen Alice-Salomon-Hochschule (ASH) in Hellersdorf, den beiden staatlich geförderten kirchlichen Hochschulen – der Evangelischen Hochschule in Zehlendorf und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Karlshorst – sowie an mehreren privaten Hochschulen studieren. An der ASH und den kirchlichen Hochschulen gibt es meist deutlich mehr Bewerber als Plätze … An den privaten Hochschulen gibt es in der Regel keinen Numerus Clausus. Dort fallen aber monatliche Gebühren an, 300 bis 500 Euro.«

Auch hier versucht die Politik zu reagieren – aber neben der Frage der Quantitäten wird das alles dauern, bis es Entlastung bringen kann: »Einen neuen dualen Studiengang, der speziell auf die Arbeit in Jugendämtern vorbereitet, haben Senatsjugendverwaltung und Bezirke an der Hochschule für angewandte Pädagogik eingerichtet. Die Studiengebühren werden übernommen, die Arbeitsstunden nach Tarif vergütet. Auch an der ASH soll ein solcher dualer Studiengang eingerichtet werden. Dort gibt es auch ein neues Stipendium für Soziale Arbeit: Das Land Berlin zahlt 20 Studierenden 850 Euro pro Monat.«