Auch wenn die Vorstellung den meisten Menschen nach diesem Sommer mit langer Rekord-Hitze schwer fallen wird – der Winter wird kommen. Und mit ihm erneut wie jedes Jahr die Berichte über Obdachlose und deren Not und Elend. Einen ersten Vorgeschmack auf die Diskussionen darüber musste man aus der deutschen Hauptstadt der Obdachlosigkeit, also Berlin (vgl. dazu auch „Berlin ist ein Moloch der Obdachlosigkeit“), vor kurzem bereits zur Kenntnis nehmen: »Schlafende Obdachlose in U-Bahnhöfen – das könnte schon bald Vergangenheit sein. Die Berliner Verkehrsbetriebe wollen ihre jahrelange Praxis, bestimmte Bahnhöfe im Winter nachts für Obdachlose zu öffnen, überdenken«, konnte man diesem Artikel entnehmen: BVG überlegt U-Bahnhöfe für Obdachlose zu schließen. Der BVG werde die Verantwortung für diese Menschen übertragen, dafür seien die Mitarbeiter aber nicht ausgebildet und der Aufenthalt in den U-Bahnhöfen sei für die Obdachlosen vielleicht warm, aber gefährlich.
Auf der anderen Seite tauchen hin und wieder auch solche Meldungen auf: Projekt „Housing first“ will Obdachlose von der Straße holen: »In einem Projekt sollen 40 Wohnungen dauerhaft für Obdachlose bereitgestellt werden. 1,1 Millionen Euro hat der Senat dafür eingeplant.« Das wäre ein Tropfen auf den heißen Stein, aber immerhin ein Anfang, angesichts solcher Zahlen: In Berlin steigt die Zahl der Menschen ohne feste Bleibe. Die Zahl der Wohnungslosen wird auf über 30.000 geschätzt. 2015 waren es noch 17.000. Komplett auf der Straße leben Schätzungen zufolge zwischen 4.000 und 6.000 Obdachlose. Die Idee „Housing first“ stammt aus den USA der aus 90er Jahren und wurde mittlerweile in Kanada sowie in europäischen Städten wie Dublin, Helsinki und Wien erfolgreich umgesetzt.
Die Obdachlosen »unterschreiben einen unbefristeten Mietvertrag. Fortan kümmern sich Sozialarbeiter um die neuen Mieter, ebenso Hauswirtschafter und Betreuer, die früher selbst obdachlos waren, sich also noch gut daran erinnern, wie schwierig es sein kann, sich nach einigen Jahren auf der Straße wieder an eine Wohnung zu gewöhnen, mit einkaufen, kochen und die Wohnung sauber halten.« Hört sich vernünftig an, aber das „Aber“ darf leider nicht fehlen: »Die 40 avisierten Wohnungen müssen allerdings erst einmal gefunden werden. Bis Oktober sollen Mitarbeiter Angebote von Wohnungsbaugesellschaften und privaten Vermietern einholen. Denn die Sozialverwaltung hat es bisher nicht geschafft, die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften der Stadt davon zu überzeugen, sich an dem Projekt zu beteiligen.« Zu dem Ansatz des Housing first kann man sich auch diesen Beitrag von Timo Reuter anschauen: Erst mal eine Wohnung: »Hilfe für Obdachlose beginnt mit einer Wohnung: Was banal klingt, ist in Deutschland kaum verbreitet. Ein Blick nach Portugal zeigt, wie gut das Konzept Housing First funktionieren kann.«
Angesichts dieser kleinkrämerisch daherkommenden Schwierigkeiten, einen neuen Ansatz auch umsetzen zu können, muss man aufpassen, nicht nostalgisch zu werden, wenn man einen Blick zurück wirft in die Berliner Vergangenheit, wie das Andreas Conrad in seinem Artikel Abends Suppe, morgens Schrippe Anfang des Jahres 2018 gemacht hat: »Vor rund 150 Jahren entstanden die ersten Berliner Obdachlosenasyle. Finanziert wurde sie von reichen Vertretern des liberalen Bürgertums.« 1896 wurde das Heim des „Berliner Asylvereins für Obdachlose“ in der Wiesenstraße 55 eröffnet. In den Reihen des Trägervereins gab es viele durch Geld oder Rang herausragende, oft jüdische Mitglieder des liberalen Bürgertums, die sich hier engagierten: »Der Industrielle August Borsig gehörte ebenso dazu wie der Arzt Rudolf Virchow oder der Fabrikant und SPD-Vorsitzende Paul Singer. Den Vorsitz hatte der Bankier Gustav Thölde.«
»Eröffnet wurde die an einer Privatstraße gelegene Wiesenburg zunächst als Asyl für 700 Männer, das 1907 um eines für 400 Frauen erweitert wurde. Es gab Schlafräume mit je 50 Betten, Wasch-, Bade- und Desinfektionsräume, dazu einen Trakt mit Wasserturm, Kesselhaus und Dampfmaschinen für Heizung, Strom- und Warmwasser. Die Benutzung war gratis, abends wurde Suppe mit Brot gereicht, morgens Kaffee mit Schrippe. Anonymität der Schlafgäste war garantiert, die Polizei hatte keinen Zutritt. Bis in die zwanziger Jahre stand die Wiesenburg Obdachlosen offen, zuletzt von der Jüdischen Gemeinde betrieben.« Für die damalige Zeit war das eine gewaltige Kraftanstrengung.
Und auch aus dem Jahr 2018 können interessante Entwicklungen berichtet werden – wenn auch quantitativ gesehen auf einem deutlich niedrigeren Level. Soweit wurde und wird immer wieder darauf hingewiesen, dass (nicht nur) in Berlin viele Obdachlose aus Osteuropa kommen und hier gestrandet sind. Und die brauchen genauso Hilfe wie die anderen – nur dass sie oftmals dem deutschen Hilfesystem noch skeptischer und ablehnender gegenüberstehen als „normale“ obdachlose Menschen. Vor diesem Hintergrund ist es sicher von Interesse, wenn davon berichtet wird, dass polnische Sozialarbeiter nach Berlin gekommen sind, um sich um die Landsleute zu kümmern. Dazu der Artikel Polnische Obdachlose in Berlin: „Sie schämen sich, weil sie mit großen Plänen kamen“: »Die Scham sei das Schlimmste, sagt Piotr Mikolaszek. Die meisten Obdachlosen, die einst aus Polen nach Berlin gekommen seien, so erklärt der Sozialarbeiter, trauten sich nicht mehr zurück in ihre Heimat. „Sie schämen sich, weil sie mit großen Plänen fortgegangen waren und jetzt als Verlierer wiederkommen würden.“ Also leben sie weiter auf der Straße. Ohne Geld und ohne Hoffnung.«
Die polnischen Sozialarbeiter suchen obdachlose Landsleute. Am Bahnhof Zoo, am Ostbahnhof, in Lichtenberg. Sie wollen mit ihnen reden, sie kennenlernen und im besten Fall überzeugen, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie kommen von der Hilfsorganisation Barka aus Posnan. Die polnische Regierung hat Barka für ein Berliner Team bis Ende des Jahres 37.000 Euro zur Verfügung gestellt. Und es wird wirklich höchste Zeit für Hilfsangebot: »Juri Schaffranek von Gangway, einer Einrichtung für Straßensozialarbeit, sagt, die Zahl polnischer Obdachloser in Berlin habe sich enorm erhöht und ihr Zustand werde immer aussichtsloser. Jeden Tag besuchen drei Gangway-Teams von Streetworkern die Treffpunkte der Obdachlosen, drei polnischsprachige Helfer gehören dazu. Sie berichten, viele polnische Obdachlose seien alkohol- und drogenabhängig. Psychische Auffälligkeiten hätten zugenommen: paranoide Schübe, Depressionen, Autoaggressionen und Orientierungslosigkeit. Es gebe kaum noch verbindliche Zusagen, die Rückkehrbereitschaft sei gering, sagt Schaffranek.«
„Die Lage der polnischen Obdachlosen verschlechtert sich weiter. Sie leben in einer prekären Lage“, so wird der Konsul der Polnischen Botschaft in Berlin, Marcin Jakubowski, zitiert. Er schätzt, dass seine Landsleute die größte Gruppe unter den Obdachlosen in Berlin bilden, etwa jeder dritte Obdachlose stamme aus Polen. »Die Rückreise bezahlt die polnische Regierung, ebenso Behandlungen, Therapien und Beratungen im Heimatland. In Berlin erhalten polnische Obdachlose nur geringe Hilfen. In Einrichtungen wie der Stadtmission am Bahnhof Zoo, bekommen sie kostenloses Essen, Kleidung und Schlafsäcke, sie können dort duschen. Auch Notübernachtungen sind für sie geöffnet, doch eine dauerhafte Betreuung von Ärzten und Sozialarbeitern gibt es für sie in der Regel nicht.«
Und da war es schon wieder, das Wort „prekär“. Oder als Substantiv: das Prekariat. Das immer wieder auftaucht und zuweilen so selbstverständlich verwendet wird in den öffentlichen Debatten. Dass ein in Berlin gestrandeter polnischer Obdachlose wie sein Pendant welcher Staatsangehörigkeit auch immer zum Prekariat gehört, wird von den allermeisten Menschen sicher nicht bezweifelt werden. Gerade die Obdachlosigkeit ist und gilt als Paradebeispiel für „echte“ Armut, für Menschen, die soweit unten sind, dass es darunter nichts mehr gibt. Auch die Armutsdiskussion in unserem Land wird von diesem elementaren Bild des Ausgestoßenseins dominiert und schon bei den Hartz IV-Empfängern beginnt eine kontroverse Debatte, ob die denn überhaupt als arm zu bezeichnen seien, handelt es sich doch bei der Grundsicherung gerade um die Gewährleistung der soziokulturellen Existenzminimums, also eigentlich dem Anspruch nach um „bekämpfte Armut“. Was die meisten Betroffenen sicher anders sehen werden.
Aber die Frage, ob oder ob nicht ein Hartz IV-Empfänger als arm zu bezeichnen ist, soll hier gar nicht weiter diskutiert werden. Sondern der Blick soll auf eine neue ambitionierte Studie gelegt werden, die gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung nunmehr veröffentlicht worden ist:
➔ Markus Promberger, Kerstin Jahn, Brigitte Schels, Jutta Allmendinger und Stefan Stuth (2018): Existiert ein verfestigtes „Prekariat“? Prekäre Beschäftigung, ihre Gestalt und Bedeutung im Lebenslauf und die Konsequenzen für die Strukturierung sozialer Ungleichheit. Working Paper Forschungsförderung Nr. 85, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, September 2018
Die Böckler-Stiftung berichtet dazu (vgl. Neue Studie untersucht verstetigte Prekarität): »Wie groß ist das Prekariat, wenn man einen strengen empirischen Maßstab anlegt? In der Erwerbsbevölkerung leben gut 12 Prozent oder gut vier Millionen Menschen dauerhaft in prekären Umständen. Das heißt: Job ohne Perspektive, zu wenig Einkommen, mangelhafte soziale Absicherung, und das über mehrere Jahre.« Und Florian Diekmann schreibt dazu unter der Überschrift Vier Millionen Erwerbstätige gehören dauerhaft zum Prekariat: »Sie sind nicht langzeitarbeitslos und abgehängt, haben aber weder einen sicheren Job noch stabile Lebensumstände – und das auf Dauer: Zum ersten Mal belegt eine Studie, wie groß das Prekariat in Deutschland ist.« Er betont den Wert der neuen Studie mit der besonderen Perspektive auf eine Art „Schattenreich“, denn: »Langzeitarbeitslose und weitere Menschen, die seit vielen Jahren von Hartz IV oder anderen Sozialleistungen leben. Menschen, die völlig abgekoppelt sind vom Erwerbsleben und damit aus einer Arbeitsgesellschaft wie der deutschen weitgehend ausgeschlossen – ihre Zahl lässt sich einigermaßen exakt beziffern.« Vollkommen anders verhält es sich mit dem „Prekariat“. Offensichtlich sind hier nicht die Menschen ganz unten gemeint, auch nicht die Hartz IV-Empfänger, sondern eine Schicht darüber: »Gemeint sind Menschen, die ein Leben in der gesellschaftlichen Zwischenzone führen: Sie gehören zwar nicht zu den völlig Abgehängten – aber eben auch nicht zu der Mehrheit der Bevölkerung mit sicherem Arbeitsplatz und weitgehend sorgenfreiem Lebensstandard. Sie haben durchaus Arbeit, müssen aber oft darum bangen, sie auch zu behalten. Sie kommen mehr schlecht als recht über die Runden.«
Die Zahlen sind beunruhigend: Gut vier Millionen Menschen in Deutschland leben und arbeiten dauerhaft unter prekären Umständen. Das sind mehr als zwölf Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland, so jedenfalls die Studie von Promberger et al. (2018). Die Wissenschaftler standen natürlich auch vor dem Abgrenzungsproblem, also wer denn zum Prekariat gehört und wer nicht. Lebt jeder befristet Beschäftigte, Leiharbeiter, Minijobber oder mit geringem Erfolg Selbstständige automatisch in prekären Umständen? Nein, so die Wissenschaftler in ihrer Studie. Wenn jemand beispielsweise vorübergehend prekär beschäftigt ist, jedoch in einem relativ wohlhabenden Haushalt lebt, könne man zwar von einer prekären Erwerbssituation, jedoch nicht von prekären Lebensumständen sprechen. Dazu müssen verschiedene Faktoren für einen längeren Zeitraum zusammentreffen.
Dazu Diekmann in seinem Artikel: »Die Forscher verwendeten Daten von knapp zehntausend Menschen aus der Langzeitstudie SOEP (Sozio-oekonomisches Panel), für die seit Langem jährlich viele Tausend Personen befragt werden … Dabei betrachteten sie, wie sich die Arbeits- und Lebensumstände über zehn Jahre hinweg veränderten – oder eben nicht. Konkret unterteilten sie dazu den Zeitraum von 1993 bis 2012 in zwei Perioden. Dabei zählten sie nur dann jemanden zum verfestigten Prekariat, wenn sich diese Person den überwiegenden Teil dieser zehn Jahre in prekären Arbeits- und Lebensbedingungen befand. Damit schlossen sie all jene aus, für die das nur vorübergehend galt.«
Die Forscher mussten den diffusen Begriff des „Prekären“ erst einmal trennscharf definieren. Hier erkennt Diekmann Pionierarbeit, denn: Es wurden jeweils ein Messinstrument für prekäre Arbeit und eins für prekäre Lebensbedingungen entwickelt. »Nur wenn beides gleichzeitig zutraf, zählten sie die Person zum Prekariat. Dahinter steht eine einleuchtende Überlegung: Jemand kann durchaus prekär beschäftigt sein und dennoch auf der Sonnenseite der Gesellschaft stehen – zum Beispiel der Minijobber, der mit einer Chefärztin verheiratet ist und in einem komfortablen Eigenheim lebt. Andererseits ist es durchaus möglich, dass jemand völlig sicher und in Vollzeit beschäftigt ist, aber dennoch nur mit Mühe über die Runden kommt – zum Beispiel ein Polizeibeamter als Alleinverdiener mit Frau und vier Kindern in einer Großstadt. Auch er zählt sicher nicht zum verfestigten Prekariat.« Man hat also eine durchaus strenge Abgrenzung des Begriffs gewählt. Wobei Holger Schäfer vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) sofort in die Bütt gestiegen ist, um genau das anzuzweifeln: Eine Frage der Definition, so hat er seine Kommentierung überschrieben. Eine Übersicht über die in der Studie von Promberger et al. (2018) verwendeten Indikatoren zur Messung der Dimensionen von prekärer Beschäftigung und prekären Haushaltslagen findet man auf der Seite 12 der Studie.
Wer sind denn nun die so abgegrenzten Prekären? »Unter ihnen bilden Frauen im Haupterwerbsalter, die meistens Kinder und mal keinen, mal einen schlechten Job haben, mit 6,7 Prozent der Erwerbstätigen die größte Teilgruppe. Die zweitgrößte Gruppe besteht aus „Vätern in anhaltend prekärer Lage“, denen es selbst bei dauerhafter Erwerbstätigkeit nicht gelingt, „gemeinsam mit der Partnerin die Familie sicher zu versorgen“. Das sind 4,3 Prozent der Erwerbstätigen. Weitere 1,3 Prozent entfallen auf junge Männer ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Allen drei Gruppen gelingt im zehnjährigen Beobachtungszeitraum unter den jeweiligen sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen keine nennenswerte Verbesserung ihrer prekären Lebens- und Erwerbsumstände; man kann diese soziale Gruppe mit einigem Recht als „Prekariat“ bezeichnen.« Und er bilanziert mit Bezug auf die neue Studie: »Die Politik sei gut beraten, … sich mit dem Phänomen des Prekariats intensiver auseinanderzusetzen, das in der zahlenmäßigen Größenordnung dem Problem des Hartz-IV-Bezugs ähnelt, sich jedoch in vielen Fällen substanziell davon unterscheidet, vor allem im Hinblick auf die ausgeprägte Erwerbsnähe und Erwerbsbeteiligung. Der Mindestlohn sei für diese Gruppe eminent wichtig, könne aber das Problem nicht alleine lösen.«
Ein sicher zentrales Ergebnis der Studie: »12,3 Prozent der Erwerbsbevölkerung waren in einem Zehnjahreszeitraum überwiegend prekär beschäftigt und mussten sich anhaltend mit einer ebensolchen Haushaltslage arrangieren.« Und wer verbirgt sich hinter dieser beeindruckenden Zahl für die Menschen im Einzelhandel? »Unter ihnen bilden Frauen im Haupterwerbsalter, die meistens Kinder und mal keinen, mal einen schlechten Job haben, mit 6,7 Prozent der Erwerbstätigen die größte Teilgruppe. Die zweitgrößte Gruppe besteht aus „Vätern in anhaltend prekärer Lage“, denen es selbst bei dauerhafter Erwerbstätigkeit nicht gelingt, „gemeinsam mit der Partnerin die Familie sicher zu versorgen“. Das sind 4,3 Prozent der Erwerbstätigen. Weitere 1,3 Prozent entfallen auf junge Männer ohne abgeschlossene Berufsausbildung.«
Die Wissenschaftler bilanzieren am Ende der Studie: »Bislang lagen nur Fallstudien und Hypothesen zur Verstetigung prekärer Erwerbs- und Lebenslagen vor, jetzt ist klar, dass etwa ein Achtel der deutschen Erwerbsbevölkerung weder anhaltend erwerbslos noch nachhaltig ins Erwerbssystem integriert ist, sondern dauerhaft oder zumindest in langen Zeiträumen prekär beschäftigt ist und unter prekären Umständen lebt. Arbeits- und Sozialpolitik sind gut beraten, sich auf diesen Tatbestand stärker einzulassen, der in der zahlenmäßigen Größenordnung dem Problem der Langzeitarbeitslosigkeit ähnelt, jedoch substantiell von diesem zu unterscheiden ist durch die funktionale, jedoch von erhöhten Unsicherheiten begleitete Integration ins Erwerbsleben.« (S. 19) Immerhin sprechen wir hier von bzw. über vier Millionen Menschen. Sie fordern, »Elemente der Arbeits- und Sozialpolitik systematisch auf die Auswirkungen nicht nur auf Arbeitslose, sondern auch auf arbeitende Menschen mit niedrigem Einkommen und instabiler Beschäftigung zu diskutieren.«
In ihrem Fazit geben sich auch Hinweise auf das, was man tun müsste – und das wird den einen oder anderen ernüchtern: »Ein Element der Prekaritätsminderung ist der Mindestlohn, doch handelt es sich dabei keineswegs um ein Allheilmittel. Im Haushaltszusammenhang zeigt sich, dass Mindestlöhne in ihrer gegenwärtigen Ausrichtung nicht in jedem Falle eine armutsfeste Einkommenslage erzeugen, so etwa bei größerer Kinderzahl oder zwei Geringverdienern im Haushalt. Hier käme eine solidarische Lohn- und Steuerpolitik mit Umverteilungskomponenten in Richtung von Geringverdienern zum Tragen. Auch regulatorische Eingriffe in die Ausgestaltung atypischer Beschäftigung machen Sinn – so etwa die Einschränkung von Befristungsmöglichkeiten, auch in Leiharbeit, die Verbesserung der Lage von Werkvertragsbeschäftigten, aber auch die Erleichterung des Zugangs zu Leistungen der Arbeitslosenversicherung für kurzfristig Beschäftigte und Menschen mit kurzen, aber wiederkehrenden Erwerbsunterbrechungen.« Irgendwie bleibt das Gefühl, dass das – unabhängig von der politischen Durchsetzbarkeit der damit verbundenen Maßnahmen – nur eine Annäherung an eine Lösung sein kann.
Möglicherweise sind die Schwierigkeiten an dieser Stelle neben der Heterogenität der Fallkonstellationen, die zu einer verfestigten Prekarität führen, auch darin zu finden, dass es „das“ Prekariat möglicherweise nur als gleichsam soziologisches Kollektiv gibt. Einige Hinweise zu der hier angedeuteten Problematik finden man in dem Beitrag Traumschiff und Nagelstudio von Georg Seesslen. Er beginnt seine Ausführungen so: »Kein guter Witz: Treffen sich ein Pop-Kritiker und eine Aushilfsverkäuferin beim Bäcker. Sie wechseln gerade mal ein paar Worte über das Wetter. Im Hintergrund belegt eine Frau mit Kopftuch die Brötchen, die sich die arbeitende Bevölkerung zum Coffee-to-Go gönnen soll; sie spricht überhaupt nicht, sondern reagiert stumm auf Anweisungen. Dann geht jeder wieder in seine Welt. Jeder ist überzeugt, dass die der anderen sehr seltsam sein muss. Dabei wären sie alle drei politisch und ökonomisch dazu durchaus bestimmt, gemeinsam für ihre Rechte, gegen ihre Ausbeutung, gegen die politische Ausblendung ihrer Situation zu kämpfen. Wenn sie nämlich ihr Leben ansehen würden, dann würden sie so viel Gemeinsames erkennen.«
Und wie kann man diese Gemeinsamkeiten beschreiben?
»Den Blick auf den Kontostand, changierend zwischen zäh erarbeitetem kleinen Plus und rapide anwachsendem Minus, der blitzrasch eine Spirale der Verschuldung auslöst, aus der man so leicht nicht mehr herauskommt. Dass man „schlecht bezahlt“ wird, heißt nicht nur, dass es zu wenig ist, sondern auch, dass es zu unzuverlässig ist, um die Planung über die eigene „Erwerbsbiografie“ zu ermöglichen.
Die Sorge, von Behörden, Banken, Versicherungen, Vermietern als „kredit-“ oder „vertrauenswürdig“ betrachtet zu werden oder eben nicht. Die Angst davor, dass man nächste Woche durch jüngere, billigere und willigere Nachfolger ersetzt wird. Die Abhängigkeit von der „Bedarfsgemeinschaft“ (so heißt im Bürokratensprech die Familie), in der jeder Ausfall eine Katastrophe bedeutet und in der immer die einen die anderen „mitschleppen“, die sich ihrerseits dafür schämen. Abhängigkeit aber auch von der Firma, dem Projekt, die selbst auf Wolkensäulen stehen und auf jede Forderung mit dem Hinweis auf den eigenen Ruin und damit natürlich auch den Verlust der Arbeitsplätze von KollegInnen reagieren.«
Wäre, so die naheliegende Frage, hier nicht eine gemeinsame Zielsetzung hinsichtlich eines „besseren Lebens“ möglich? Seesslen formuliert Zweifel:
»Der Popkritiker, die Aushilfsverkäuferin und die Küchenhilfe haben davon gewiss sehr unterschiedliche Vorstellungen. Denn so sehr sie einander durch ihre ökonomische Situation ähnlich sind und so sehr sie unter derselben Ignoranz der politischen und gesellschaftlichen Institutionen leiden (einschließlich der „linken“), so sehr sie also Elemente derselben ökonomischen Klasse sind, so unterschiedlich, so weltenfern voneinander sind ihre kulturellen Schnittstellen, ist die jenseits der Arbeit konstruierte Identität.«
Hier sind wir am Kern des Problems einer wie auch immer gearteten Organisation „des“ Prekariats angekommen: »Das Prekariat ist die Sphäre der entwerteten Arbeit und der entrechteten Menschen. Es ist eine Klasse, die keine Partei und keine Organisation, kein Projekt und kein Bewusstsein hat. Es ist die Klasse der nachhaltig Vereinzelten. Es gibt das akademisch-kulturelle Prekariat, es gibt das Dienstleistungsprekariat, es gibt das digital-„kreative“ Prekariat, das „Kognitariat“, es gibt das industrielle und postindustrielle Prekariat, und nicht zuletzt gibt es ein landwirtschaftliches Prekariat (das indes in Mitteleuropa besonders gern der Migration und den „Illegalen“ überlassen wird: der hier gnadenlos Ausgebeutete muss anderswo noch eine Familie miternähren).«
Aus diesen hier nur angedeuteten Gründen bleibt am Ende neben der immer wieder vorgetragenen und immer wieder enttäuschten Hoffnung darauf, dass sich das Prekariat als politisches Subjekt begreift, nur der Weg einer partiellen Verbesserung der Lebenslagen der Menschen, die unter dieser vielschichtiger Kategorie vom Prekariat subsumiert werden. Dem fehlt aber zumindest heute ein wirklich überzeugendes und auch erlebbares Narrativ, das viele in früheren Jahrzehnten in der bundesdeutschen Fahrstuhlgesellschaft, in der nicht alle, aber doch viele mit nach oben genommen wurden (wenigstens ein oder zwei Etagen), durch eine gewisse Anschlussfähigkeit an den materielle Aufstieg gegeben war. Die „Sozialingenieure“, die heute versuchen, durch punktuelle Reformen oder Leistungsverbesserungen prekäre Lebensbedingungen zurückzudrängen oder gar deren Entstehung aufzuhalten, machen diese Politik notwendigerweise für diese Menschen, aber das wird neben dem üblichen Widerstand der anderen interessierten Kreise von den betroffenen Menschen zunehmend gar nicht mehr erkannt als das, was es ist bzw. sein soll und der Enttäuschung auf beiden Seiten ist Tür und Tor geöffnet.
Foto: © Reinhold Fahlbusch