Jedes Jahr veröffentlichen Krankenkassen ihre Gesundheitsberichte, oftmals mit einem wechselnden Schwerpunktthema. So auch die Techniker Krankenkasse. Deren Gesundheitsreport 2018 steht in diesem Jahr unter der Überschrift „Fit oder fertig? Erwerbsbiografien in Deutschland“. Dabei geht es beispielsweise um solche Fragen: Wie häufig und warum unterbrechen die Beschäftigten in den verschiedenen Altersgruppen und Beschäftigungsverhältnissen ihre Berufstätigkeit oder scheiden sogar ganz aus dem Erwerbsleben aus? Durch erwünschte Pausen wie Studium oder Elternzeit? Oder eher unfreiwillig durch Arbeitslosigkeit oder Krankheit? Jens Baas, der Vorstandsvorsitzende der TK, bilanziert in seinem Vorwort: »Die gute Nachricht ist: Zwei Drittel der Erwerbspersonen waren im Untersuchungszeitraum von Anfang 2013 bis Ende 2017 durchgängig beschäftigt.« Und mit Blick auf die vorgelegten Daten kann man ergänzen: Von den 35 bis 60-Jährigen waren es sogar mehr als 80 Prozent.
Nun kann es für Unterbrechungen im Erwerbsleben unterschiedliche Gründe geben, beispielsweise ein begrenzter Ausstieg wegen der Inanspruchnahme von Elternzeit mit anschließender Rückkehr auf den Arbeitsplatz. Oder aber eine Unterbrechung wegen Arbeitslosigkeit (mit einem Anteil von gut 15 Prozent war Arbeitslosigkeit der mit Abstand häufigste Grund für eine Unterbrechung der Erwerbstätigkeit) oder eine Erwerbsunfähigkeit – was natürlich aus sozialpolitischer Sicht besonders bedeutsame und mit Folgeproblemen versehene Ereignisse im Lebenslauf sind.
Hier nun berichtet Jens Baas auf Basis der Daten aus dem TK Gesundheitsreport 2018:
»Bei der Analyse der Statistik fällt ein markanter Anstieg am Ende des Arbeitslebens auf, der uns gesellschafts- und sozialpolitisch aufhorchen lassen sollte: Mehr als jeder zweite Erwerbstätige scheidet vor dem offiziellen Renteneintrittsalter aus dem Arbeitsleben aus, darunter 13,5 Prozent aufgrund von Berufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit oder Schwerbehinderung. Die entsprechende Altersgruppe verzeichnet unter den Erwerbspersonen außerdem naturgemäß den höchsten Anteil von Arzneiverordnungen. Wir haben aber die Situation, dass die Menschen künftig länger erwerbstätig sein werden. Hier stellt sich die Frage: Wie ist das mit der Lebenswirklichkeit vereinbar?«
Mehr als jeder zweite Arbeitnehmer scheidet also vor dem offiziellen Renteneintrittsalter aus dem Berufsleben aus. Und jeder Dritte aus dieser Gruppe nimmt Einbußen bei der Rente in Kauf, um Stress und körperliche Belastung früher hinter sich zu lassen. So der Hinweis von Anno Fricke unter der Überschrift Jeder Zweite muss vor der Rente aufgeben. Indizien für hohe Belastungen vor allem am Ende des Berufslebens finden sich auch in den Arzneiverordnungen. Ältere Arbeitnehmer schlucken dreimal so viel Arzneimittel wie der Durchschnitt der Bewohner Deutschlands. Und das hier wird viele nicht überraschen: Besonders häufig von Frühverrentung betroffen sind Beschäftigte mit körperlich belastenden Berufen.
Eine sozialpolitisch hoch relevante Schlussfolgerung: Es nütze nichts, das Renteneintrittsalter immer weiter hochzuschrauben, wenn ohnehin jeder zweite Arbeitnehmer vorzeitig aufgeben müsse. „Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen leistungsfähig bleiben und überhaupt bis zum Rentenbeginn arbeiten können“, wird Jens Baas von der Techniker Krankenkasse zitiert. Und: „Die Anhebung des Renteneintrittsalters bedeutet in vielen Fällen nicht längeres Arbeiten, sondern eine geminderte Rente. Das kann nicht unser Anspruch sein“, wird Baas in einem anderen Artikel zitiert.
Das hängt erst einmal nicht mit dem Tatbestand zusammen, dass einige der älteren Arbeitnehmer nicht bis zum regulären Ende durchhalten können (oder keine Möglichkeit der Erwerbsarbeit mehr bekommen), sondern aufgrund der Koppelung des gesetzlichen Renteneintrittsalters für alle mit dem Instrument der (dann lebenslangen) Abschläge von der Versicherungsleistung Altersrente. Und besonders problematisch wird diese schematische Koppelung dann, wenn es eben eine sehr ungleiche Verteilungsstruktur bei denjenigen gibt, die vorher ausscheiden müssen bzw. nicht das Renteneintrittsalter erreichen können. Was eben der Fall ist.
Genau das ist ja auch hier immer wieder als Argument vorgetragen worden gegen eine schematische, also undifferenzierte Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters ceteris paribus, also unter Fortgeltung der Abschlagsregelungen und der bestehenden Rentenformel – vgl. dazu nur beispielhaft den Beitrag Ein großer Teil der Antwort würde viele Arbeitnehmer beunruhigen. Zur Frage nach dem Sinn einer weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters vom 28. Juli 2016.
Und wie ungleich die Dinge verteilt sind mit ihren mehr als handfesten Auswirkungen, kann man auch solchen Befunden aus dem TK Gesundheitsreport entnehmen – hier das Beispiel der Mortalität, also der Todesfälle:
»Von jeweils 1.000 anfänglich Berufstätigen verstarben innerhalb von fünf Jahren 6,5 (entsprechend einem Anteil von 0,65 Prozent). In Abhängigkeit von der Branche sowie der ausgeübten beruflichen Tätigkeit variiert das Sterberisiko deutlich. Bei Berufstätigen mit akademischen Ausbildungsabschlüssen ist das Sterberisiko merklich reduziert – entsprechend ist in diesen Gruppen auch mit einer überdurchschnittlichen Lebenserwartung zu rechnen. Für Beschäftigte mit anfänglicher Berufstätigkeit in Leiharbeit war innerhalb der fünf Jahre eine im Vergleich zu geschlechts- und altersabhängig erwarteten Werten um 48 Prozent erhöhte Sterblichkeit nachweisbar. Deutliche und statistisch signifikante Überschreitungen hinsichtlich der Sterblichkeit konnten auch für eine Reihe von bei Mitgliedern der Techniker ausreichend stark vertretenen Berufen nachgewiesen werden. Überwiegend handelt es sich dabei um offensichtlich physisch belastende Berufe (beispielsweise Dachdecker, Berufe in der Schweiß- und Verbindungstechnik). Eine erhöhte Sterblichkeit war jedoch auch bei Beschäftigten aus dem Bereich Objekt-, Werte- und Personenschutz sowie bei Beschäftigten im Dialogmarketing, also für Beschäftigte in Callcentern, nachweisbar. Die letztgenannte Gruppe war schon häufiger bei Auswertungen zum Gesundheitsreport und dann vorrangig im Zusammenhang mit Fehlzeiten unter einer Diagnose von psychischen Störungen aufgefallen. Durch die jetzt vorliegenden Ergebnisse werden die gesundheitlichen Belastungen in dieser Gruppe nochmals unterstrichen.«
Was man aus solchen und anderen Befunden lernen kann? Beispielsweise die Befolgung des Grundsatzes „Ungleiches auch ungleich behandeln“ und nicht „Ungleiches gleich behandeln“, was man heute macht – und sich dann aber wundern, dass es neben den „Gewinnern“ bzw. denen, die das wegstecken können, auch die gibt, bei denen die sowieso schon strukturell durch die Rentenformel schlechten Absicherungsbedingungen im Alter nochmals verschlechtert werden. Das ist eben systembedingt. Aber Systeme sind niemals alternativlos und können geändert werden.