„Uns“ geht es gut, „wir“ leben auf der Sonnenseite. Dieses Narrativ wird nur hin und wieder, allerdings nachhaltig gestört durch die Nörgeleien der Berufspessimisten, die von „steigender Armut“, „zunehmender Ungleichheit“ und anderen unangenehmen Dingen berichten, die sie angeblich für Deutschland diagnostizieren müssten. So beginnt der Beitrag Die gesellschaftliche Polarisierung schreitet voran. Eine zunehmende soziale Ungleichheit im Spiegel neuer Befunde vom 25. Mai 2018, in dem einige neuere Befunde präsentiert wurden, die man für die These einer fortschreitenden Polarisierung als Beleg heranziehen kann.
Nun wird gerade dem deutschen Bildungssystem seit Jahren immer wieder vorgeworfen, dass hier die Ungleichheit nicht nur besonders stark ausgeprägt sei, sondern die Bildungsinstitutionen einen aktiven Beitrag dazu leisten, dass die Schere zwischen Bildungsgewinnern und -verlierern, zwischen unten und oben, zwischen Einheimischen und Migranten weiter auseinandergeht (vgl. dazu auch die Hinweise in dem Beitrag In den Kindertageseinrichtungen fängt es an und bei den Urgroßeltern hört es noch nicht auf. Neue Befunde zur Entstehung und Verfestigung sozialer Ungleichheit vom 15. Juni 2018). Dass das nicht nur eine aus der Luft gegriffene Vermutung ist, legen auch solche Schlagzeilen nahe: Bildungsbericht 2018: Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern vertieft sich: »Zu wenig Lehrer und Erzieher, eine wachsende Kluft zwischen Bildungsgewinnern und -verlierern: Kitas und Schulen in Deutschland müssen nach Ansicht von Experten besser für den stetig wachsenden Zulauf von Kindern und Jugendlichen gerüstet werden. Dabei müssten sie benachteiligte Kinder, etwa aus zugewanderten Familien, besser fördern.«
Dabei wird Bezug genommen auf den alle zwei Jahren veröffentlichten Bildungsbericht für Deutschland, der von einer Wissenschaftlergruppe erarbeitet und von der Kultusministerkonferenz der Bundesländer und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt wird. Es handelt sich um einen indikatorengestützter Bericht, der das deutsche Bildungswesen als Ganzes abbildet und von der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung bis zur Weiterbildung im Erwachsenenalter reicht:
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018): Bildung in Deutschland 2018. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Wirkungen und Erträgen von Bildung, Bielefeld 2018
Eine Zusammenfassung der vielen Befunde aus dem voluminösen Bildungsbericht findet sich auf den Seiten 4-21. Daraus nur einige ausgewählte Befunde mit einem besonderen Augenmerk auf Hinweise zu sozialen und regionalen Disparitäten:
1.) Steigende Teilnehmerzahlen im Bildungssystem: Erstens werden in den letzten Jahren wieder mehr Kinder geboren, nachdem die Geburtenzahlen über viele Jahre rückläufig waren. Dies trägt künftig zu einem höheren Bedarf an Plätzen in der Kindertagesbetreuung bei und führt anschließend im Schulsystem sowie in der beruflichen Bildung und an den Hochschulen zu zusätzlichen Platzbedarfen. Zweitens war zwischen 2015 und 2016 eine erhöhte Zuwanderung beobachtbar, die die Bildungseinrichtungen durch die größere Nachfrage nach Integrations-, Sprach- und Vorbereitungsmaßnahmen vor neue Herausforderungen stellt . Schließlich setzt sich drittens der Wandel der Familien- und Erwerbsformen fort. Insbesondere hat die Erwerbstätigkeit von Müttern zugenommen. Kinder treten damit zunehmend früher in das Bildungssystem ein und nehmen verstärkt Ganztagsangebote in Anspruch.
2.) Trend zu (formal) höherer Bildung: Es streben immer mehr Schülerinnen und Schüler höhere Schulabschlüsse an, was durch die erhöhte Durchlässigkeit und die vielfältigen Abschlussoptionen in den einzelnen Schularten gefördert wird. Vor diesem Hintergrund steigt der Anteil der Absolventinnen und Absolventen mit Studienberechtigung weiter an. Neben einer höheren Studiennachfrage geht dies auch mit einem seit Jahren steigenden Anteil von Auszubildenden mit Hochschulreife einher. Er lag zuletzt bei 28 % aller neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge.
3.) Die Schere hinsichtlich der Bildungsbeteiligung: Nicht alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen kommen mit dem Trend zur steigenden Bildungsbeteiligung mit . Es bleibt eine große Zahl an Personen mit geringen Bildungserfolgen. Das zeigt sich auf allen Stufen des Bildungssystems und in unterschiedlichsten Aspekten der Bildungsteilhabe sowie der Bildungsergebnisse. Als besonders bedeutsam erweist sich dabei nach wie vor die Herkunft, bei der meist sozioökonomische und migrationsbezogene Problemlagen zusammen fallen. Trotz vieler bildungspolitischer Reformpro jekte und damit verbundener Verbesserungen ist es bisher nicht gelungen, Bildungsungleichheiten entscheidend zu verringern. Mit den vielfältigeren Möglichkeiten, Bildungsverläufe individuell zu ge stalten – von kurzen Bildungswegen für Leistungs starke bis hin zu verzögerten Karrieren der zweiten Chancen–, ist daher auch ein steigendes Risiko verbunden: Die Kluft zwischen Personen, die ihre Bildungserfolge Schritt für Schritt steigern können, und anderen, deren ungünstige Ausgangslagen lang fristig nachwirken, könnte größer werden. Mit 49.300 Schulabgängen bzw. 6 % der gleichaltrigen Bevölkerung haben 2016 wieder mehr Jugendliche als in den Vorjahren die Schule verlassen, ohne mindestens den Hauptschulabschluss erreicht zu haben. Dabei handelt es sich vornehmlich um einen Anstieg bei ausländischen Jugendlichen. Dass insgesamt fast jeder 10. Jugendliche in Jahrgangsstufe 9 den Mindeststandard im Leseverstehen verfehlt, deutet darauf hin, dass nicht nur unter den Schulabgängen ohne Abschluss, sondern auch unter denjenigen mit Abschluss ein Teil lediglich über basale Lesefähigkeiten verfügt.
4.) Wachsende Heterogenität in den Bildungseinrichtungen: Zunehmend müssen die Bildungseinrichtungen immer unterschiedlicheren individuellen Ausgangslagen gerecht werden. Beispiel Kindertageseinrichtungen: Zwischen 2006 und 2017 ist die Anzahl der Kinder in Kindertagesbetreuung, die in der Familie vorrangig nicht Deutsch sprechen, von 363 .000 auf 553 .000 gestiegen. Die weiter zunehmende Heterogenität unter den Bildungsteilnehmerinnen und – teilnehmern – auch durch strukturelle Anpassungen, um die Durchlässigkeit im System zu erhöhen – schlägt sich insbesondere in der Kindertagesbetreuung, in den Schulen und im Übergangssektor nieder. Trotz anhaltenden Trends zu inklusionsorientierten Angeboten im Bereich der frühen Bildung und im Schulwesen wird vor allem im schulischen Bereich nach wie vor ein nennenswerter Anteil an Kindern und Jugendlichen mit Entwicklungs- oder Lernbeeinträchtigun gen in gesonderten Einrichtungen gefördert. Auffällig ist, dass sich in vielen Regionen das Angebot eigenständiger Förderschulen kaum verändert hat. Zudem hat sich die Angebots- Nachfrage- Relation in Berufen für Menschen mit Behinderungen seit 2012 rückläufig entwickelt.
5.) Regionale Disparitäten: Zur Entstehung von Disparitäten tragen auch unterschiedliche regionale Entwicklungen bei. In einem Teil der ländlichen Regionen gibt es bereits jetzt nicht mehr ausreichend wohnortnahe (öffentliche) Bildungsangebote. Das betrifft insbesondere das Schulwesen. Auch zwischen Ausbildungsangebot und – nachfrage gibt es Passungsprobleme, die dazu führen können, dass sich ungünstige wirtschaftliche und infrastrukturelle Rahmenbedingungen einzelner Regionen weiter verschlechtern . Damit sinken die Chancen junger Menschen, sich persönlich und beruflich zu entfalten. Die unterschiedlichen Entwicklungsperspektiven bieten letztlich Standortvorteile oder – nachteile . Sie haben Folgeeffekte für die Attraktivität der Regionen als Wohn- und Arbeitsort und können zu einer weiteren Zu- oder Abwanderung führen. In ländlichen Gebieten zeigt sich seit 2006 eine Abnahme der durchschnittlichen Zahl der Schülerinnen und Schüler je Bildungseinrichtung, die vermutlich mit den Bemühungen zusammenhängen, eine wohnortnahe Schulversorgung zu gewährleisten. Im gleichen Zeitraum wurden dennoch in strukturschwachen Landkreisen viele Grundschulen (–11 %) und berufliche Schulen (–26 %) geschlossen.
Im Ausbildungssystem wird außerdem eine weitere Verschärfung der Passungsprobleme zwischen Angebot und Nachfrage auf regionaler und beruflicher Ebene beobachtet: Es zeigt sich, dass es immer mehr Regionen mit unbesetzten Ausbildungsplätzen und gleichzeitig auch unversorgten Bewerberinnen und Bewerbern auf eine Ausbildung gibt. Einer kleinen Zahl an Berufsgruppen mit einem Überangebot an Ausbildungsplätzen (z. B. im Ernährungs- und Gaststättengewerbe) steht eine hohe Zahl an Berufsgruppen gegenüber, in denen es viele Bewerberinnen und Bewerber, aber nicht ausreichend Ausbildungsplätze gibt.
Der Bildungsbericht stellt die einzelnen Sektoren des Bildungssystems – angefangen von der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung bis hin zur Weiterbildung detailliert dar. Die Ausführungen zur Kindertagesbetreuung, die man in dem Bericht findet, sollen hier besonders hervorgehoben werden, legen sie doch den Finger auf eine ganz große Wunde. In Deutschland fehlen Hunderttausende Erzieher, so hat Tilmann Warnecke denBericht gelesen:
»In Deutschland werden bis zum Jahr 2025 mehr als 300.000 Erzieherinnen und Erzieher fehlen … Deutschland stehe beim Ausbau der Kitas vor einer „Riesenaufgabe“, sagte Thomas Rauschenbach, Leiter des Deutschen Jugendinstituts und einer der Autoren des Berichts … Insgesamt diagnostiziert der Bericht eine seit langem anhaltende große Expansion der Bildungsbeteiligung in allen Bereichen, wofür die Kitas ein Beispiel sind: So werden inzwischen 61,9 Prozent aller Zweijährigen tagesbetreut, während es 2006 erst 26,5 Prozent waren. Vielerorts ist der Erziehermangel schon jetzt zu spüren, wie zum Beispiel in Berlin, wo aktuell schon 2.000 Fachkräfte fehlen und viele Kita-Plätze nicht belegt werden können. Die bundesweite Langzeitprognose aus dem Bildungsbericht liegt nun noch einmal höher als frühere Schätzungen … Der Mangel werde in den kommenden Jahren aus verschiedenen Gründen noch größer, sagen die Forscher. So steigt die Geburtenrate weiter, noch mehr Eltern wünschen sich einen Kitaplatz für ihre Kinder. „Im Westen Deutschlands liegen schon jetzt alle Länder hinter den Bedarfswünschen der Eltern“, sagte Rauschenbach.«
Der Bildungsbericht selbst (S. 6) führt zu diesem Thema aus:
»Mit mehr als 600 .000 Beschäftigten hat die Anzahl des pädagogischen Personals in der Kindertagesbetreuung ein neues Allzeithoch erreicht. Mit dieser Ausbaudynamik korrespondiert ein nach wie vor hohes Niveau der Ausbildungskapazitäten im Bereich der frühen Bildung, sodass ein Großteil der Personalbedarfe über neu ausgebildetes Personal gedeckt werden konnte.«
Man achte auf die Zeitform – konnte. Also die Beschäftigungsexpansion in der Vergangenheit durch den Ausbau der Kindertagesbetreuung konnte aus den Neuzugängen und den Reserven gestemmt werden, unter den heutigen Bedingungen in den Einrichtungen (und in der Kindertagespflege, die oftmals vergessen wird). Und wie sieht es in Zukunft aus?
»Der weitere Bedarf an zusätzlichen Plätzen aufgrund des Geburtenanstiegs, der Zuwanderung und der nicht erfüllten Elternwünsche sowie der personelle Ersatzbedarf erfordern bis zum Jahr 2025 einen Mindestpersonalbedarf von etwa 313.000 Fachkräften in der Kindertagesbetreuung für Kinder bis zum Schuleintritt . Die im gleichen Zeitraum zu erwartenden 274.000 neu Ausgebildeten können diesen Bedarf nicht in vollem Umfang decken, sodass mit einer Personallücke von wenigstens 39.000 Fachkräften zu rechnen ist. Aufgrund des hohen Geburtenanstiegs im Jahr 2016 dürfte diese sogar noch höher liegen.«
Nun wird seit Jahren gefordert, die derzeit gegebenen Personalschlüssel endlich zu verbessern, weil sie zu schlecht seien. Diese Forderung bekommt durch die skizzierten strukturellen Veränderungen in der Arbeit – die Kinder sind nicht nur immer heterogener, sondern sie kommen wesentlich früher in die Einrichtungen, sie bleiben auch oft deutlich länger und die Zahl der besonders förderungsbedürftigen Kinder ist erheblich angestiegen – eine zusätzliche Bedeutung. Das würde natürlich den Personalbedarf in weitere Höhen treiben.
»Sollten die gegenwärtig politisch breit diskutierten Qualitätsverbesserungen realisiert werden, kann ein darüber hinausgehender Personalbedarf von bis zu 270.000 Fachkräften entstehen.«
Wenn man alles Posten zusammenzählt, kommt man zu dieser Bilanz: »Insgesamt würden bis 2025 … bis zu 583.000 neue Erzieherinnen und Erzieher gebraucht … 171.000 davon müssen in Rente gehende Erzieherinnen ersetzen. 36 000 werden wegen der steigenden Geburtenrate gebraucht, 106.000, um die steigenden Elternwünsche zu erfüllen. Um den Personalschlüssel in den Kitas zu verbessern – wie es zum Beispiel das „Gute-Kita-Gesetz“ von Familienministerin Franziska Giffey (SPD) vorsieht – , seien weitere bis zu 270.000 Erzieherinnen und Erzieher nötig. Die Forscher erwarten, dass bis dahin aber überhaupt nur 274.000 Nachwuchskräfte neu in den Beruf eintreten, womit eine Lücke von eben 309.000 Fachkräften entsteht.«
Das Thema und die dahinter stehende Problematik wurde hier bereits in dem Beitrag Die Vergessenen in real existierenden Kita-Welten. Von einem löchrigen Rechtsanspruch, schon heute und demnächst so richtig fehlenden Fachkräften und ja, dem Kindeswohl vom 7. März aufgerufen. Dort findet man am Ende auch diesen Blick über den bereichsbezogenen Tellerrand: Im Grunde stehen die Pflegekräfte vor dem gleichen Problem wie die Erzieher/innen in den Kitas. Es sind die gleichen strukturellen Probleme, die man in beiden Feldern erkennen kann:
➔ Zum einerhaben wir es in der Pflege und in den Kitas mit einem bereits heute vorhandenen und immer stärker werdenden quantitativen Personalmangel zu tun, vor allem im Fachkräftebereich – und die politischen Diskussionen über die Pflege fokussieren auf die Möglichkeiten, die Zahl der in der Pflege arbeitenden zu decken. Irgendwie. Und schon das wird zunehmend als schwierig bis unmöglich beschrieben.
➔ Hinzu kommt ein qualitativer Mangel, der an Wucht noch zunehmen wird, wenn die Entwicklungen hinsichtlich der Kinder so weiter geht, wie sie auch im Bildungsbericht umrissen wird. Denn der „pädagogische Schweregrad“ in der Arbeit steigt und damit – eigentlich – auch die Anforderungen an die Fachlichkeit der Pädagogen, die in den Kitas arbeiten. Eine parallel gleichlaufende Entwicklung haben wir in der Pflege. Man schaue sich nur in der Altenpflege die Veränderungen in der Bewohnerschaft der Heime an – durch steigendes Heimeintrittsalter, durch einen starken Anstieg der demenziell erkrankten Menschen, durch Multimorbidität steigt der fachpflegerische Anteil der Arbeit. Eigentlich müsste die nur historisch zu verstehende Fachkraftquote von 50 Prozent sogar deutlich angehoben werden bei gleichzeitiger Ausweitung der Personalschlüssel. Und worüber diskutiert man? Über eine „Flexibilisierung“ der Fachkräftequote „natürlich“ nach unten sowie die Personaldeckung (in den gegebenen und damit wohlgemerkt schlechten Personalrelationen) durch un- und angelernte Kräfte sowie den Import von Pflegekräften aus dem Ausland. Aber auch in der ambulanten Pflege steigen die Anforderungen an die Fachlichkeit der Pflegekräfte aufgrund der Tatsache, dass viele altem Menschen mit ihren Beeinträchtigungen und Erkrankungen so lange wir möglich zu Hause bleiben wollen. Im Kita-Bereich müssen wir nun aufpassen, dass es nicht zu einer vergleichbaren „panischen Reduktion“ im Sinne einer Irgendwie-Personalbeschaffung kommt wie in der Pflege.
Und die Gefahr einer solchen Reduktionsstrategie kann man beispielsweise in dem bereits erwähnten Berlin studieren. Zum Hintergrund der Entwicklungen dort der Artikel Wir müssen draußen bleiben von Kristin Haug. Berlin »fehlen etwa 3.000 Kita-Plätze, weil es nicht genug Immobilien und nicht genug Erzieher gibt. Selbst die Eltern, die einen Kitaplatz haben, müssen oft kurzfristig umplanen, weil manche Einrichtungen wegen Personalmangel schon mittags schließen müssen.«
Was sagt der zuständige Berliner Senat für Bildung, Jugend und Familie? »In Berlin gibt es 50.000 Kitakinder mehr als noch vor zehn Jahren … Demnach gehen inzwischen 220.000 Kinder in eine Berliner Kindertagesstätte. Das liege an den steigenden Geburtenzahlen sowie dem starken Zuzug. Außerdem wurde zum Schuljahr 2017/18 der Stichtag für die Einschulung verschoben. Schulpflichtig sind nun nur die Kinder, die bis zum 30. September eines Jahres, und nicht mehr bis Ende des Jahres, das sechste Lebensjahr vollenden. Sind die Kinder also nach dem neuen Stichtag geboren, bleiben sie länger in der Kita. Hinzu kommt der Erziehermangel, der sich in Berlin verschärft hat, weil der Betreuungsschlüssel verbessert worden ist. Dadurch braucht die Stadt mehr Erzieher für die gleiche Anzahl an Kindern.«
Und vor diesem Hintergrund wird man dann mit solchen Meldungen konfrontiert: Brauchen Erzieher in Berlin bald kein Abitur mehr? »Jugendsenatorin Scheeres prüft, ob der Mittlere Schulabschluss als Voraussetzung für den Erzieherberuf wieder ausreichen könnte. Gründe sind Personalmangel und Platznöte.«
Zum Hintergrund muss man wissen: Das Abitur als Einstiegshürde war 2003 eingebaut worden im Zusammenhang mit der Entwicklung der Kita zu einer Bildungseinrichtung. Seit rund 15 Jahren dürfen die Erzieherfachschulen nur dann Bewerber mit einem mittleren Schulabschluss aufnehmen, wenn diese eine Berufsausbildung abgeschlossen haben. Dahinter stand die Erwartung, dass der Betreffende damit eine höhere Lebenserfahrung aufweise, was der Arbeit mit Kindern ebenfalls zuträglich sei.
Die nun anvisierte Absenkung der Zugangsvoraussetzungen in die Erzieherausbildung wird dabei sowohl vom Paritätischen Wohlfahrtsverband (als Kita-Träger) wie auch von den Grünen „als sinnvolle Maßnahme“ begrüßt. Es soll hier gar nicht um das beliebte Thema gehen, was man denn für Voraussetzungen für eine bestimmte Ausbildung braucht oder nicht – sondern es geht um den strukturellen Mechanismus, dass man die Absenkung der formalen Zugangshürden genau dann vornehmen will, wenn Not an der Frau ist, wenn Leute fehlen und man glaubt, auch eine Öffnung „nach unten“ mehr Leute finden zu können. Die Absenkung wird ja nicht vollzogen, weil man durch umfangreiche Untersuchungen herausgefunden hat, dass sich die Gruppe der jungen Menschen mit einem mittleren Schulabschluss hervorragend eignen würde für eine Tätigkeit als Erzieher/innen und derzeit aber keinen direkten Zugang finden können.
Und man muss das in Berlin im Zusammenspiel mit anderen Entwicklungen sehen und einordnen. »An Berliner Kitas fehlen Erzieher. Das weiß auch der Senat und versucht gegenzusteuern. Die Gewerkschaft GEW schlägt nun Alarm, denn ihrer Meinung läuft die Sache aus dem Ruder«, kann man diesem Artikel entnehmen: GEW beklagt Defizite bei Erzieher-Ausbildung: »Es entstünden immer mehr private Fachschulen, bei denen es weder einheitliche Standards noch Qualitätskontrollen wie bei den staatlichen Einrichtungen gebe, kritisierte GEW-Landeschefin Doreen Siebernik am Donnerstag. Sie sprach von „Wildwuchs“ … Nötig seien einheitliche Ausbildungsstandards. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) gehe es angesichts des Erziehermangels jedoch eher um Quantität als um Qualität. „Das Land Berlin ist in Aktionismus verfallen“, so Siebernik.« Aktuell gibt es in Berlin fünf staatliche Fachschulen für Sozialpädagogik und laut GEW um die 50 Einrichtungen in freier Trägerschaft.
Und mittlerweile kommen immer mehr Quereinsteiger aus anderen Berufen in die Kitas. Inzwischen absolvierten 43 Prozent der Studenten ihr Fachschulstudium berufsbegleitend in Teilzeit, sowohl die GEW. »Sie müssten in den Kitas oft vom ersten Tag an Verantwortung übernehmen, ohne dafür gerüstet zu sein. Inhalte der Ausbildung und der Arbeitsstelle passten oft nicht zusammen, die Lernzeit komme zu kurz. Viele Arbeitsverträge genügten nicht arbeitsrechtlichen Mindeststandards, etliche Studenten würden im Rahmen von Minijobs angestellt.«
Über das Thema Quereinsteiger hat auch Martin Klesmann kritisch berichtet: Quereinsteiger verschärfen Kita-Krise: „Zahl funktionaler Analphabeten wird zunehmen“, so ist sein Artikel dazu überschrieben. Er beginnt mit einem Beispiel:
»Desirée Gromilovic ist 36 Jahre alt und studierte Skandinavistin. Nun hat sie sich beruflich neu orientiert. Die ein wenig schüchtern wirkende Frau lässt sich in Berlin zur Kita-Erzieherin ausbilden. Als Quereinsteigerin. An einer privaten Fachschule studiert sie die Theorie, gleichzeitig arbeitet sie bereits mit einem 28,5 Stunden-Vertrag in einer Kita. „In der Kita bin ich gleich in einer Gruppe von Ein- und Zweijährigen eingesetzt worden“, erzählt sie. „Dabei wusste ich selbst noch nicht einmal, wo bei einer Windel hinten und vorne ist.“ Das musste sie dann beim nötigen Windewechsel ganz schnell lernen. Vieles andere auch, zum Beispiel wie man Elterngespräche führt. Nach einem Arbeitstag kamen abends oft noch Fachschulkurse dazu. Andere Quereinsteiger aus ihrem Kurs wurden gleich in Früh- und Spätdienste in Kitas eingeplant, wo sie nahezu allein mit den Kindern sind.«
43 Prozent der Studierenden an Fachschulen sind nach GEW-Angaben mittlerweile Quereinsteiger. Viele Kita-Träger hätten ihre eigenen Fachschulen gegründet. Klesmann zitiert in seinem Artikel Fred Michelau, Schulleiter der Jane-Addams-Schule, zu der auch die größte staatliche Fachschule für Erzieher gehört: »Problematisch seien nicht Akademikerinnen wie Desirée Gromilovic. Aber es gebe andere Quereinsteiger, die weniger als Vorbilder taugten. Die würden Dinge sagen wie „isch geh mit die Kindern spazieren“. Dabei gelten Kitas doch als frühkindliche Bildungseinrichtungen. Die privaten Fachschulen würden aber kam überprüft, auch nicht durch eine Schulinspektion. Fred Michelau fürchtet drastische Folgen: „Die Zahl der funktionalen Analphabeten wird zunehmen“, sagt er. Zumal an Brennpunkt-Schulen ja besonders viele Quereinsteiger tätig seien … Die konfessionellen Fachschulen in Trägerschaft der evangelischen oder katholischen Kirche nahm Michelau von seiner Kritik ausdrücklich aus. „Mir geht es um die GmbHs und Co. Kgs“, betonte er. Tatsache ist, dass die staatlichen Fachschulen einen Rückgang an Bewerbern zu verzeichnen haben. „Wir sind denen zu schwer“, sagt Fred Michelau selbstbewusst.«
Darüber kann und muss man sicher kontrovers streiten und man darf den Einzelfall nie aus den Augen verlieren. Unübersehbar aber ist der Trend hin zu einer Absenkung von Standards und Anforderungen, um das alles dominierende Problem des quantitativen Personalmangels irgendwie in den Griff zu bekommen. Das kann und wird sich aber rächen. Vergleichbare Entwicklungen sehen wir derzeit auch in den Pflegeberufen. Womit sich der Kreis wieder schließt.