Es ist sicher keine Übertreibung, wenn man schreibt, dass das Versprechen eines sozialen Aufstiegs neben der D-Mark, an deren Einführung mit einer Währungsreform vor 70 Jahren in diesen Tagen in vielen Artikeln erinnert wird, gleichsam zur DNA der Bundesrepublik Deutschland gehört (zur D-Mark-Einführung 1948 vgl. beispielsweise den Beitrag Haste mal die Mark? von Nikolaus Piper, der auf die Bedeutung für das bundesdeutsche „Wirtschaftswunder“ hinweist). Und so war es denn ja auch in den Jahrzehnten nach 1948 – viele Menschen hatten den Eindruck bzw. erlebten es tatsächlich, dass es nicht nur ihnen Jahr für Jahr besser ging, sondern dass davon auch die Kinder profitieren konnten. Das Bild eines Fahrstuhls bzw. einer Rolltreppe nach oben trifft die Wahrnehmung und das Selbstverständnis vieler sicher sehr gut.
Nun wird aber schon seit vielen Jahren über eine zunehmende soziale Ungleichheit in Deutschland diskutiert. Diese These ist wahrlich nicht unumstritten, aber in den vergangenen Jahren häufen sich doch die Befunde, dass es erhebliche Störungen beim Aufstieg(sversprechen) in unserem Land gibt. Und manche Wissenschaftler haben ihre Karriere darauf aufbauen können, beispielsweise der Soziologe Oliver Nachtwey mit seinem Buch Die Abstiegsgesellschaft – Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, das auf große Resonanz gestoßen ist und das nicht ohne Hintergrund zu erinnern versucht an das Buch eines anderen Soziologen, Ulrich Beck, der damit in den 1980er Jahren die Debatten beeinflusst hat (und in dem es übrigens in weiten Teilen neben der ökologischen Dimension auch schon um die Verwerfungsfolgen zunehmender sozialer Ungleichheit ging: Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne, so hatte Beck seine gesellschaftliche Bestandsaufnahme und Analyse betitelt und 1986 publiziert.
Und Oliver Nachtwey spricht die hier behaupteten besondere Bedeutung des Aufstiegsversprechens offen an: »Die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs war eines der zentralen Versprechen der „alten“ BRD – und tatsächlich wurde es meistens eingelöst: Aus dem Käfer wurde ein Audi, aus Facharbeiterkindern Akademiker. Mittlerweile ist der gesellschaftliche Fahrstuhl stecken geblieben: Uniabschlüsse bedeuten nicht mehr automatisch Status und Sicherheit, Arbeitnehmer bekommen immer weniger ab vom großen Kuchen. Oliver Nachtwey analysiert die Ursachen dieses Bruchs und befasst sich mit dem Konfliktpotenzial, das dadurch entsteht: Selbst wenn Deutschland bislang relativ glimpflich durch die Krise gekommen sein mag, könnten auch hierzulande bald soziale Auseinandersetzungen auf uns zukommen, die heute bereits die Gesellschaften Südeuropas erschüttern.« So seine These. Die auf viele Zustimmung, aber auch auf distanzierte Rezeption und Ablehnung gestoßen ist (vgl. nur als ein Beispiel die Rezension von Stephan Lessenich in der FAZ unter der bezeichnenden Überschrift Aufstand der Eingebildeten. Lessenich packt die Vorbehalte in diese Formulierung: „Ein irritierend deutsches Buch.“).
Darüber kann man also schon auf der ganz grundsätzlichen Ebene streiten und sich verhaken. Aber man kann auch den Blick richten auf empirische Befunde, die sich mit dem Thema soziale Ungleichheit beschäftigen. Die dann in solche Überschriften gegossen werden: Sozialer Status hängt von Urgroßeltern ab: »Einmal unten, immer unten? Einer neuen Studie zufolge ist der soziale Aufstieg in Deutschland noch schwieriger als gedacht. Demnach hat sogar der Berufsstand der Urgroßeltern Auswirkungen auf den ihrer Nachfahren.« Und auf was stützt man solche Aussagen?
Das sei das Ergebnis einer Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) und der Universität Madrid. Demnach lassen etwa Bildungsgrad oder Berufsstand der Urgroßeltern noch heute auf den sozialen Status ihrer Nachfahren in der vierten Generation schließen. Beim genannten Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel findet man das hier: Sozialer Aufstieg in Deutschland schwerer als bislang angenommen. Dort werden die wichtigsten Ergebnisse einer Studie (vgl. Braun/Stuhler 2018: The Transmission of Inequality Across Multiple Generations: Testing Recent Theories with Evidence from Germany) so zusammengefasst:
»Die soziale Mobilität in Deutschland ist deutlich geringer als bislang angenommen. Sebastian Braun, Arbeitsmarktforscher am Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel), und Jan Stuhler, Universität Madrid, untersuchten Daten, die über vier Generationen hinweg den sozialen Status von Familien in Deutschland im 20. Jahrhundert beschreiben. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass durchschnittlich 60 Prozent der für den sozialen Status einer Person maßgeblichen Faktoren von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Dazu könnten Lebensumstände wie das gesellschaftliche Netzwerk zählen, aber auch vererbte Begabungen. Das Ergebnis gilt unabhängig davon, ob der soziale Status anhand des Bildungsgrads oder des Berufs gemessen wird.«
„Dies bedeutet, dass sich die soziale Ungleichheit in Deutschland nur sehr langsam abbaut. Selbst nach vier Generationen konnten wir immer noch einen Zusammenhang zwischen dem eigenen sozialen Status und dem der Vorfahren messen“, wird Sebastian Braun zitiert. „Je geringer der soziale Status der Ur-Großeltern, desto geringer der Status der Ur-Enkel heute. Ein niedriger Status der Vorfahren wirkt wie eine Last, die den sozialen Aufstieg auch vier Generationen später noch bremst. Umgekehrt gilt: Je höher der soziale Status der Ur-Großeltern, desto höher der Status ihrer Nachfahren heute.“
Das kann man noch weitertreiben und etwas flapsig formuliert fragen: Wer bietet mehr? Wie wäre es beispielsweise mit der OECD?
Denn auch die hat sich das angeschaut und die Medien greifen deren Befunde unter solchen Überschriften auf: Sechs Generationen lang arm. »Wer unten ist, bleibt unten. Wer oben steht, bleibt oben. So lässt sich die Misere des hiesigen Sozialgefüges zugespitzt zusammenfassen … „In Deutschland könnte es sechs Generationen dauern, bis die Nachkommen einer einkommensschwachen Familie das Durchschnittseinkommen erreichen“, heißt es in einem Bericht«, den die OECD gerade veröffentlicht hat. Sechs Generationen, das sind in der Regel mehr als 150 Jahre. Deutschland steht damit schlechter da als der Durchschnitt der OECD-Länder, der bei viereinhalb Generationen liegt.
Konkret bezieht man sich auf diese Studie der OECD (2018): A Broken Social Elevator? How to Promote Social Mobility: Der Bericht illustriert »anhand des gegenwärtigen Ungleichheitsniveaus und der generationenübergreifenden Einkommensmobilität in einer Modellrechnung, dass es in den untersuchten Ländern durchschnittlich etwa fünf Generationen dauert, ehe die Nachkommen einer armen Familie das Durchschnittseinkommen erreichen können. Die untersuchten Länder weisen hier allerdings große Unterschiede auf: Während der Wert für die nordischen Länder lediglich bei zwei bis drei Generationen liegt, beträgt er in Deutschland sechs und in einigen aufstrebenden Volkswirtschaften neun und mehr Generationen. Jedes dritte Kind, dessen Vater Geringverdiener ist, wird ebenfalls Geringverdiener – in Deutschland 42%. Bei den restlichen zwei Dritteln beschränken sich die Aufstiegsmöglichkeiten hauptsächlich lediglich auf die nächsthöhere Einkommensgruppe.«
»Während für viele Menschen, die zwischen 1955 und 1975 geboren wurden, und deren Eltern einen geringen formalen Bildungsstand hatten, noch ein hohes Maß an Einkommensmobilität eine Realität war, stagniert diese für die nach 1975 Geborenen.« Das beschreibt das bereits am Anfang dieses Beitrags angesprochene Problem einer Rückwärtsentwicklung bei der sozialen Mobilität.
Natürlich werden auch die möglichen Ursachen (und die daraus abgeleiteten Handlungsoptionen) in dem Bericht diskutiert. Dazu erfahren wir hier:
»Die Forscher führen das unter anderem auf Deutschlands mehrgliedriges Schulsystem, den zögerlichen Ausbau der Ganztagsschulen und den Mangel an Kitaplätzen zurück. „Diese Faktoren verringern die Chancen für Kinder aus bescheideneren Verhältnissen, eventuelle Bildungsrückstände aufzuholen“, schreiben sie. Eine Rolle spiele auch die relativ hohe Langzeitarbeitslosigkeit und die hohe Quote an Teilzeitjobs in Deutschland. „Ein Arbeitsplatz allein ermöglicht oftmals keine großen Schritte auf der Einkommensleiter“, heißt es.«
Der „Mangel an Kita-Plätzen“ taucht da auf – aber das ist nur eine allererste und mehr als grobe Annäherung an eine tatsächlich überaus wirkkräftige Quelle der Produktion soziale Ungleichheit, denn es geht nicht nur um die Quantität, sondern um viel mehr. Und es geht um den Anfang der Biografien.
Dazu wurde eine interessante Studie veröffentlicht:
Thomas Groos, Carolin Trappmann und Nora Jehles (2018): Keine Kita für alle. Zum Ausmaß und zu den Ursachen von Kita-Segregation, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2018
Die »Studie weist am Beispiel von drei Ruhrgebietsstädten (Mülheim an der Ruhr, Gelsenkirchen und Hamm) nach, dass arme und sozial privilegierte Kinder schon in der Kita geringe Chancen haben, miteinander zu spielen und zu lernen«, so Brigitte Schumann in ihrer lesenswerten Zusammenfassung der Befunde: Das Ausmaß der sozialen Trennung von armen und sozial privilegierten Kindern als Folge der sozialräumlichen Segregation, wie sie für Großstädte typisch ist, wird in den Kitas verstärkt. Schumann schreibt:
»Die Untersuchung zeigt, dass die Dauer des Kitabesuchs und damit der Zeitpunkt des Eintritts in die Kita von sozioökonomischen Merkmalen der Familie abhängen. Mit dem sozialen Status der Eltern steigt auch die Besuchsdauer. Während beispielsweise in Mülheim 11,1 Prozent aller Einjährigen aus Familien ohne SGB-II-Bezug eine Kita besuchen, sind es nur 3,3 Prozent der Kinder aus Familien mit SGB-II-Bezug. Die Autoren können vorrechnen, dass erst bei den Vierjährigen die Kita-Besuchsquote von armen und nichtarmen Kindern ungefähr vergleichbar ist. Das gilt auch für Kinder mit und ohne Migrationshintergrund. Für die Autoren sind diese Befunde Ausdruck einer fatalen gesellschaftlichen Schieflage, da gerade sozial benachteiligte Kinder, die auch in ihrer Entwicklung benachteiligt sind, von einem Kitabesuch in den ersten drei Jahren während der sensitiven Phase der Hirnentwicklung besonders profitieren.«
Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dass dieser Befund eben ein Abbild der segregierten Sozialraumstruktur sei. Dazu berichtet die Studie aber:
»Vielmehr trägt die freie und sozial selektive Kitawahl zur Verstärkung der Kitasegregation bei. Die Wohnortnähe ist für die Wahl kein hinreichendes Kriterium mehr. Nur 16,7 Prozent aller Kinder besuchenbeispielsweise in Mülheim noch die nächstgelegene Kita. Auch bei der Kitawahl macht sich bemerkbar, was aus Untersuchungen zur freien Schulwahl bekannt ist. Die Wahl findet in Abhängigkeit von der sozioökonomischen Situation der Eltern statt. Mit dem steigenden sozialen Status steigen die Ansprüche an die pädagogische Qualität und an die soziale Zusammensetzung in der Kita.«
Das hat messbare Folgen: »In Mülheim weisen alle Einrichtungen in konfessioneller und freier Trägerschaft fast ausschließlich niedrige und unterdurchschnittliche Anteile an Kindern mit SGB-II-Bezug und Migrationshintergrund auf, während sich in den städtischen Kitas Kinder mit diesen Merkmalen konzentrieren. Dabei sind alle Einrichtungen der verschiedenen Träger gleichmäßig in der Stadt verteilt. Die konfessionellen Einrichtungen binden etwa zu zwei Drittel die evangelischen und katholischen Kinder Mülheims an sich. Über 75 Prozent der Kinder muslimischen Glaubens besuchen demgegenüber städtische Einrichtungen. 43 Prozent von ihnen beziehen SGB-II, aber nur zehn Prozent der evangelischen und 14 Prozent der katholischen Kinder.«
Analysen sind bekanntlich das eine, politische Konsequenzen das andere. Die Studie bleibt aber nicht nur auf der Ebene der Analyse: »Die Autoren plädieren entschieden für eine nach Sozialindex gesteuerte Ressourcenverteilung, um zumindest die negativen Folgen der Kitasegregation abzuschwächen.« Man muss sich an dieser Stelle klar darüber werden, was diese – richtige – Forderung bedeuten würde: Für Kitas und andere Einrichtungen, sie aufgrund der (ebenfalls zunehmenden sozialräumlichen Segregation) mit höheren Anforderungen und Belastungen konfrontiert sind, müsste es nicht nur mehr, sondern deutlich mehr, ein Vielfaches an Ressourcen geben als in den Einrichtungen, in denen man beispielsweise überwiegend oder ausschließlich Kinder sind, die über einen ganz anderen familiären Hintergrund verfügen als die Kinder in einem Stadtteil, den man als „sozialen Brennpunkt“ etikettiert.
Diese Forderung wird übrigens schon seit langem und immer wieder vorgetragen. Dass Politiker das Thema meiden wie der Teufel das Weihwasser überrascht nicht, wenn man bedenkt, was das für eine Umverteilungsentscheidung bedeuten würde und wen das – mit Blick auf das Wahlverhalten besonders relevant für die Politiker – besonders treffen würde. Das ändert nichts an der Richtigkeit der Forderung, bettet diese aber ein in das große Themenfeld, um das es geht, wenn man die vielen Befunde aus der Ungleichheitsforschung nur ansatzweise ernst nehmen würde hinsichtlich möglicher Konsequenzen: Verteilungspolitik.