Das Kreuz mit den Sanktionen im Hartz IV-System und die (nicht nur verfassungsrechtlich) eigentlich offene, in der Praxis allerdings gegebene Antwort auf die Frage: Wie weit darf man gehen?

Viele, sehr viele Beiträge haben sich in diesem Blog angesammelt zum Thema Sanktionen im Hartz IV-System. Es ist ein in mehrfacher Hinsicht polarisierendes Thema. Für die einen sind die Sanktionen das scharfe Schwert eines strafenden Systems, dem es um Einschüchterung und Drangsalierung geht, um die Betroffenen auf das „richtige“ Gleis zu setzen. Zugleich kann man mit dem Damoklesschwert-Charakter der Sanktionen die vielen anderen dazu bringen, sich systemkonform zu verhalten. Auf der anderen Seite wird der bedürftigkeitsabhängige Sozialhilfe-Charakter der Grundsicherung herausgestellt und auf die unbedingten Mitwirkungspflichten der Hilfeempfänger abgestellt. Wenn man das Instrumentarium der Sanktionen nicht mehr zur Verfügung hätte, dann könnten einem die Transferleistungsbezieher auf der Nase herumtanzen.

Wir können schon an dieser holzschnittartigen Zusammenfassung erkennen, dass es hier zum einen um ganz unterschiedliche Menschenbilder geht (die sich auch in der letztendlich nie auflösbaren und höchst widersprüchlichen Dichotomie von Fördern und Fordern spiegeln), zum anderen geht es hier aber eben auch um den systemischen Aspekt, dass es sich bei Hartz IV um eine Art „nicht-bedingungsloses Grundeinkommen“ (vor allem für diejenigen, die lange Zeit in diesem System verbringen müssen) handelt, in dem man die Einhaltung der Bedingungen im Griff behalten muss.

Der eigentliche Kern der Sanktionsfrage ist aber ein logisches Dilemma, mit dem sich irgendwann trotz aller offensichtlichen Widerwilligkeit und Zeitschinderei auch das Bundesverfassungsgericht entscheidungsrelevant auseinandersetzen muss, denn seit langem liegt ein Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Gotha in Karlsruhe, nach dem die Verfassungswidrigkeit der Sanktionen behauptet und dem höchsten deutschen Gericht zur Entscheidung vorgelegt worden ist (vgl. dazu zuletzt den Beitrag „Keine Atempause. Geschichte wird gemacht. Es geht voran“. Das würden sich manche wünschen vom Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der umstrittenen Sanktionen im Hartz IV-System vom 28. Februar 2018).

Das angesprochene logische Dilemma lässt sich so formulieren: Wie kann man eine Leistung, die das soziokulturelle Existenzminimum sicherstellen soll und die das Bundesverfassungsgericht selbst noch im Jahr 2010 als „Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ charakterisiert hat und das „dem Grunde nach unverfügbar“ sei und „eingelöst werden“ muss, kürzen? Wie kann man sogar Menschen dieses Grundrecht vollständig entziehen, also zu 100 Prozent sanktionieren? Nun wird der eine oder andere völlig zu Recht erstaunt einwerfen, wie das sein kann in einem „Hilfesystem“ – man kann das auch anders formulieren: Selbst einem Mörder wird auch bei totaler Verweigerung der normalen Regeln  im Strafvollzug doch nicht das Essen und die Zelle gekürzt. Aber bei Hartz IV-Empfängern geht das?

Ja, das geht bislang offensichtlich: »Im vergangenen Jahr wurde 34.000 Personen der Bezug von Hartz IV vollständig gestrichen, weil sie gegen Auflagen der Behörden verstießen.« So der Artikel Sanktionen gegen eine halbe Million Hartz-IV-Empfänger. Grundlage der Berichterstattung ist die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion (Sanktionspraxis im SGB II, BT-Drs. 19/2104 vom 14.05.2018). Auf diesen erschreckenden Tatbestand wurde bereits 2016 in diesem Beitrag hingewiesen: Hartz IV: Mehrfachsanktionen auf dem Vormarsch: »Hartz-IV-Empfänger erhalten immer häufiger mehrere Strafen gleichzeitig. Im Juni war jeder dritte Sanktionierte betroffen. 7.200 Menschen wurde die Hartz-IV-Leistung vollständig gestrichen.« Und noch weiter zurück, in den Februar 2013: Monatlich 10.403 vollsanktionierte „Hartz IV“-Empfänger in 2011. Es möge also keiner sagen, dass das alles eine ganz neue Erkenntnis ist.

Nach Angaben der BA wurden im Jahr 2017 insgesamt rund 953.000 Sanktionen ausgesprochen. Dabei werden Personen, die mehrfach sanktioniert wurden, auch mehrfach gezählt.
Gegen insgesamt 204.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte wurden zwei und mehr Sanktionen ausgesprochen, 217.000 weitere Bezieher von Hartz IV bekamen eine Sanktion auferlegt – zusammen also knapp eine halbe Million.

Und während viele Menschen bei Sanktionen an Hartz IV-Empfänger denken, die eine angebotene Arbeit verweigern und damit die Möglichkeit, den Leistungsbezug zu beenden, spielt das in der Sanktionspraxis kaum eine Rolle. Im Vordergrund stehen mit 78 Prozent die Meldeversäumnisse, aufgrund dessen die Jobcenter zu dieser drakonischen Bestrafung greifen (dazu auch: Hartz-IV-System: Vier von fünf Sanktionen wegen versäumter Termine).

Das zeigen auch die Daten, die von der Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Anfrage der Grünen vorgetragen werden: Bei 204.000 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten wurden zwei und mehr Sanktionen aus­gesprochen, darunter 124.000 ausschließlich wegen Meldeversäumnissen. Im Jahr 2017 wurden infolge einer neu ausgesprochenen Sanktion insgesamt 34.000 erwerbsfähigen Leistungsberechtigten die Leistungen komplett gekürzt, darunter 6.000 ausschließlich wegen Meldeversäumnissen.

Man muss sich das einmal vorstellen – mehrere tausend Menschen, denen vollständig die Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums entzogen worden sind, ausschließlich wegen Meldeversäumnisse. Es geht hier nicht darum, ein solches Verhalten in irgendeiner Form gutzuheißen. Es geht auch nicht darum, dass man aus der Praxis ganz unterschiedliche Fallkonstellationen bei Meldeversäumnissen kennt, unter denen es Menschen gibt, die einen Termin versäumt haben, weil sie Analphabeten sind, weil sie so überschuldet sind, dass sie ihren Briefkasten nicht mehr öffnen aus Angst vor den Mahnungen und viele andere das Ereignis durchaus erklärbar machende Ursachen könnten angeführt werden – es geht um den Tatbestand, dass eine im wahrsten Sinne des Wortes existenzielle und die Existenz in Frage stellende Verwaltungspraxis derzeit ganz offensichtlich als Antwort auf die Frage „Wie weit darf man gehen?“ zur Kenntnis genommen werden muss. Man geht weit über die Grenzen des eigentlich Zulässigen hinaus.

Selbst wenn man Befürworter des Instruments einer zeitlich wie auch immer begrenzten und vom Absenkungsbetrag gedeckelten Sanktionierung sein sollte, muss man allein schon die Möglichkeit einer hundertprozentigen Sanktionierung für das halten, was es ist: eine massive Verletzung der Menschenrechte, die noch nicht einmal, wie angesprochen, der übelste Geselle in einer Strafvollzugsanstalt zu befürchten hat. Apropos Strafvollzug: Im Strafrecht werden die jungen Menschen anders, nach dem Jugendstrafrecht und damit milder behandelt als die Erwachsenen. Im Hartz IV-System ist es genau anders herum. Dort sind die Sanktionsregelungen für die unter 25-Jährigen erheblich schärfer als für die Älteren.

Und wenn man sich dann noch anschaut, mit welcher Varianz wir zwischen den einzelnen Jobcentern konfrontiert sind hinsichtlich der Sanktionierungsintensität, so dass man von „milden“ und „scharfen“ Jobcentern sprechen muss, denen die Betroffenen quo Wohnort ausgeliefert sind, dann wird der eben nicht objektive, sondern der Willkür-Charakter nicht weniger Sanktionsentscheidungen offenbar.

Man kann nur hoffen, dass wenigstens das Bundesverfassungsgericht dieser menschenverachtenden Praxis ein rechtsprechungsbedingtes Ende setzt. Aber sicher kann man sich angesichts der heutigen und im Vergleich zu vor einigen Jahren wesentlich defensiveren Rechtsprechung des BVerfG an dieser Stelle nicht sein und man sollte es auch nicht sein.

Nachtrag (02.06.2018):

Am Montag, dem 04.06.2018, findet im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages eine öffentliche Anhörung zu Sanktionen im SGB II statt. Gegenstand der Anhörung sind zwei Anträge aus den Reihen der Opposition: BT-Drs. 19/103 – Antrag der Fraktion DIE LINKE sowie BT-Drs. 19/1711 – Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Stellungnahmen zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 04. Juni 2018 kann man als Ausschussdrucksache 19(11)42 abrufen.