Seien wir ehrlich – viele werden das kaum noch zur Kenntnis nehmen, wenn sie solche Meldungen lesen: Wieder Streiks bei Amazon: »Seit Jahren verweigert Amazon der Gewerkschaft ver.di Verhandlungen über einen Tarifvertrag. Daran änderten bis heute auch zahlreiche Streiks nichts.« Seit fast vier Jahren geht das nun schon so. Die Gewerkschaft fordert eine Bezahlung der Amazon-Beschäftigten nach den Tarifverträgen des Einzel- und Versandhandels, davon will das US.-amerikanische Unternehmen nichts wissen. Ver.di ruft zu Streiks bei Amazon auf: »Rund um die Aktionstage „Black Friday“ und „Cyber Monday“ will die Gewerkschaft Ver.di den Onlinehändler Amazon bestreiken. Der Konzern zeigte sich gelassen.« Und diesem Artikel kann man entnehmen: »Gestreikt wurde an den sechs großen Amazon-Standorten Bad Hersfeld (Hessen), Leipzig (Sachsen), Rheinberg (NRW), Werne (NRW), Graben (Bayern) und Koblenz (Rheinland-Pfalz). Nach Angaben der Gewerkschaft Verdi hatten sich 2.300 Amazon-Mitarbeiter an den Streiks beteiligt. Außer in Koblenz sollen die Arbeitskämpfe am Samstag fortgesetzt werden.« Zur Einordnung muss man wissen, dass Amazon bundesweit mehr als 12.000 festangestellte Mitarbeiter beschäftigt. Aber das geht doch schon seit Jahren so, wird der eine oder andere einwerfen und die Sache als eine verlorene für die dort Beschäftigten abhaken.
Die andere Seite dieses Unternehmens wird dann vor allem in der Wirtschaftspresse so diskutiert: Amazon-Chef Bezos ist 100 Milliarden Dollar schwer: »Der „Black Friday“ brachte ihm die Führung: Amazon-Gründer Jeff Bezos ist auf den ersten Platz der Milliardärs-Rangliste vorgerückt. Das liegt auch daran, dass Bill Gates so viel gespendet hat.« Bei Bezos‘ Vermögen gab am Freitag das Kursplus von 2,58 Prozent bei Amazon-Aktien den Ausschlag für Platz eins. Das starke Geschäft am Einkaufstag „Black Friday“ hatte die Anleger zuversichtlich gestimmt.
Und die FAZ berichtet unter der Überschrift Amazon gegen Zalando & Co.: »Die vorweihnachtliche Schlacht im Onlinehandel könnte dieses Jahr besonders spannend werden. Denn Amazon, der Weltmarktführer aus den Vereinigten Staaten, reitet in Europa eine neue Attacke und nimmt verstärkt Kleidung ins Angebot. Das setzt etablierte Anbieter wie Zalando oder die britische Asos unter Druck.« Allein innerhalb der letzten zwölf Monate nahm das Unternehmen, das in den Vereinigten Staaten mit dem Kauf der Supermarktkette Whole Foods auch in großem Stil ins Lebensmittelgeschäft eingestiegen ist, rund neun Milliarden Dollar für neue Projekte in die Hand. Zalando zählt gut 21 Millionen aktive Kunden, Amazon kommt weltweit inzwischen auf rund 300 Millionen Kundenkonten. Diese Marktmacht dürfte auch im Modesektor erdrückend sein.
Und dann wird man mit solchen Nachrichten aus dem Amazon-Universum konfrontiert: »Im eigenen Auto, gesteuert per App: Seit Kurzem liefern Privatleute Amazon-Bestellungen aus. Wie Uber für Pakete. Kritiker protestieren am Black Friday gegen den Konzern«, so Bernd Kramer und Juliane Frisse in ihrem Artikel Amazon Flex: Flex und fertig. »Flex, das heißt: Privatleute sollen als Lieferpartner Amazon-Pakete zustellen. Ein Smartphone, ein Führerschein, ein eigenes Auto – mehr braucht es nicht, um sein „eigener Chef“ zu sein, wie es auf der Flex-Seite heißt, über die sich seit etwa zwei Wochen auch in Deutschland Kuriere registrieren können. Es winke ein „attraktiver Verdienst“. Arbeiten könne man, wann es einem passt, sodass einem genug Zeit bleibe, die eigenen „Ziele und Träume zu verwirklichen“. Seit etwa zwei Wochen wirbt der Online-Händler in Deutschland so um Kuriere, erst einmal nur in Berlin, bald sollen aber weitere Städte folgen. Die ersten Fahrer seien bereits in der vergangenen Woche in der Hauptstadt für Amazon Flex unterwegs gewesen, sagt eine Unternehmenssprecherin.«
Bereits im vergangenen Jahr wurde aus den USA berichtet: »Der Onlinehändler fordert große Paketdienste wie UPS und FedEx heraus, eine eigene Fahrerflotte sei im Entstehen. In Deutschland hat Amazon ähnliche Pläne.« Und nicht nur dort.
„Tausende Lieferpartner“ fahren laut einer Unternehmenssprecherin allein in Großbritannien mit dem Privat-Pkw für den Internethändler durch die Innenstädte. Eine inoffizielle Facebook-Gruppe, in der sich Flexfahrer der Insel organisieren, zählt derzeit 3.800 Mitglieder; in der Facebook-Ortsgruppe für Los Angeles sind es 1.700.«
Nun also Deutschland, was nicht überrascht: »Amazon dominiert den Online-Handel in Deutschland: 30 Prozent des Geschäfts laufen inzwischen über das Unternehmen. Die Paketzustellung nimmt der Netzkonzern dabei verstärkt in die eigene Hand. In München, Berlin und Nordrhein-Westfalen liefert Amazon teilweise selbst aus. An Tankstellen stellt Amazon Schließfächer auf, aus denen Kunden ihre Pakete abholen können – ein Angriff auf die Packstationen von DHL.«
Kramer und Frisse legen den Finger auf die offene Wunde:
»Was der US-Konzern nun mit Flex auch in Deutschland anbietet, klingt, als hätte jemand die Arbeit der Fahrradkuriere, die für Deliveroo und Foodora Restaurantessen ausliefern, mit der der Uber-Fahrer gekreuzt. Alle drei Unternehmen stehen für ein neues Modell, bei dem die Beschäftigten ihre Anweisungen per App und Algorithmus bekommen und der Arbeitgeber, wie Kritiker anprangern, sich im digitalen Nebel aus der Verantwortung stiehlt. Ist Amazon Flex der nächste Schritt, um Mitarbeiter hierzulande in Miniunternehmer zu verwandeln, die auf eigene Rechnung arbeiten – und auf eigenes Risiko?«
Aber macht Amazon nicht wirklich ein Super-Angebot, wie man es auch der eigens eingerichteten Website Amazon Flex entnehmen kann? »Angestellte Zustellerinnen und Zusteller bekommen in Berlin, sofern ihr Unternehmen sich an den Tarifvertrag hält, derzeit 11,38 Euro brutto in der Stunde. Amazon bezahlt dagegen für eine auf vier Stunden angesetzte Liefertour pauschal 64 Euro – also 16 Euro pro Stunde.«
Die Gewerkschaft Verdi ist mehr als skeptisch: »Die Selbstständigen müssen den Sprit für ihr Auto, die Kfz-Versicherung, die Reparaturen bezahlen. All dies betrachtet Amazon als abgegolten, die Fahrer sollen laut Unternehmen allerdings nach Abzug ihrer Kosten immerhin auf mindestens gut 10 Euro pro Stunde kommen.«
Von den Erfahrungen anderer lernen: Flex-Fahrer aus den USA beklagen sich in einem Reddit-Forum darüber, dass die Touren mitunter sehr viel länger dauern als angepeilt.
Was das für die Flex-Paketboten bedeutet: »Die Paketboten in Deutschland bewerben sich um eine Vier-Stunden-Schicht, im Amazon-Sprech: einen „Lieferblock“. Auf der Internetseite heißt es allerdings: „Die verfügbaren Zustellblöcke können von Woche zu Woche schwanken und werden nicht garantiert.“«
Wenn jemand mit Flex seinen Lebensunterhalt zu verdienen sucht? Selbst schuld. „Es sollte nicht als Vollzeittätigkeit eingeplant werden“, heißt es auf der Amazon-Seite für den deutschen Flex-Dienst.
Was Amazon probiert, klingt wie die Uberisierung der Paketbranche. Tatsächlich werden Tätigkeiten im Logistiksektor aber schon seit Jahren an Kleinunternehmer verlagert. Darauf weisen Kramer und Frisse zu Recht hin. »Auch Amazon arbeitet in Berlin und München bereits an den großen Versandfirmen vorbei mit lokalen Subunternehmen zusammen – die die Aufträge wiederum an ihre Angestellten oder auch an selbstständige Fahrer weitergeben.«
»Mit Flex verkürzt der Internetkonzern diese Kette im Prinzip nur – und gießt eine längst laufende Entwicklung in der Logistikbranche in ein Programm fürs Smartphone. Die App teilt die Schichten zu, die App scannt die Pakete, wenn sie in der Lieferstation abgeholt werden, die App spuckt den Weg zum Kunden aus, die App gibt im Auto Navi-Anweisungen, die App listet den Verdienst unter dem Menü-Punkt „Gewinn“ auf. Gewinner der Flexibilisierung des Lieferservices ist am Ende vor allem Amazon selbst.«
Zu „Amazon Flex“ vgl. auch den Beitrag »Amazon Flex« lässt tragen: Pakete und Risiko: »Der Versandkonzern Amazon sucht selbstständige Paketboten – und verspricht freie Zeiteinteilung sowie fast das Doppelte vom Mindestlohn. Klingt gut? Höchstens für das Unternehmen, das hier größtmögliche Flexibilität auf dem Rücken von Privaten sucht, die alle Risiken tragen.«
Aber wieder zurück zu den erneuten Streikaktionen bei Amazon in Deutschland. Die werden diesmal unterstützt von der außerbetrieblichen Kampagne Make Amazon Pay. Zu deren Selbstverständnis findet man diese Ausführungen:
»Leistungsverdichtung und körperliche Langzeitschäden prägen die Arbeitssituation in den Amazon-Werken. Amazons lernende Lagersoftware gibt Tempo und Ablauf aller Arbeitsschritte vor und übernimmt damit die „Steuerung“ der Beschäftigten, die zu Werkzeugen reduziert werden: Sie erkennen Signale, scannen Waren, greifen, heben, schieben, laufen – 20 km pro Tag, 200 Päckchen jede Stunde. Algorithmen (Computerprogramme) erfassen zugleich alle Bewegungen, erstellen individuelle Leistungsprofile und errechnen Durchschnittsproduktivitäten – eine total-überwachende (panoptische) Fabrik, in der die permanente Erfassung und Bewertung zu psychischem Druck und Stress führt … Durch den immensen Fluss an Echtzeit-Daten kann Amazon die Leistung seiner Mitarbeiter bis ins Detail überwachen. Doch es kommen noch perfidere Methoden zum Einsatz: Per Feedback-App sind Mitarbeiter*innen dazu angehalten, sich permanent gegenseitig zu bewerten und anonym beim Chef anzuschwärzen. Intrigen sind an der Tagesordnung. Das „schlechteste“ Mitglied eines Teams droht am Jahresende ersetzt zu werden.
Zur Bekämpfung des überdurchschnittlich hohen Krankenstandes von bis zu 20% führte Amazon an einigen Standorten eine „Anwesenheitsprämie“ ein – nicht für jede Mitarbeiter*in einzeln, sondern in Teambewertung. Abteilungen, die in der Summe weniger Krankheitstage auf dem Negativkonto haben, erhalten einen Bonus von 70-150 Euro je Mitarbeiter*in monatlich.«
Aber mal ganz zugespitzt gefragt – warum soll das, was bei Amazon passiert, eigentlich wirklich so wichtig sein? Dazu Jörn Boewe und Johannes Schulten mit ihrem Beitrag Tarifverträge für die Welt. Ihre zentrale These: Die Streiks bei Amazon haben zentrale Bedeutung für die Zukunft der Arbeiterrechte im digitalen Kapitalismus.
Ihr erster Punkt: »In Wahrheit dreht sich der Kampf aber eben nicht um ein paar hundert Euro mehr oder weniger im Jahr: Der Weltmarktführer des Onlinehandels weigert sich prinzipiell, mit Gewerkschaften Tarifverträge abzuschließen … Als im Frühjahr 2013 hunderte Amazon-Beschäftigte im hessischen Bad Hersfeld die Arbeit niederlegten, handelte es sich nicht nur um den ersten Streik bei Amazon in Deutschland, sondern weltweit um den ersten Arbeitskampf in der Geschichte des 1994 gegründeten Unternehmens. Nirgendwo auf der Welt war der Onlinehändler bis dahin je bestreikt worden, nirgends hatte er sich je auf Tarifverhandlungen mit Gewerkschaften eingelassen oder gar einen Kollektivvertrag abgeschlossen. Das ist bis heute so und soll aus Sicht des Unternehmens so bleiben. Die Auseinandersetzung mit Verdi ist daher von fundamentaler Bedeutung. Ein Tarifvertrag in Deutschland hätte Signalwirkung auch für andere Länder. Amazon will einen Präzedenzfall deshalb unbedingt vermeiden.«
Warum aber kommt die Gewerkschaft seit mehreren Jahren nicht wirklich voran, wird sich der eine oder andere berechtigterweise fragen.
»Amazon rekrutiert Personal in strukturschwachen Regionen. Viele Beschäftigte kommen aus der Arbeitslosigkeit oder hatten vorher andere prekäre Jobs, etwa in der Logistik, dem Einzelhandel oder auf dem Bau. Im Vergleich dazu hat die Arbeit bei Amazon Vorteile: Die Löhne befinden sich meist über dem regionalen Durchschnitt für vergleichbare Tätigkeiten und kommen pünktlich. Es handelt sich um Vollzeitarbeitsverhältnisse, anders als etwa im Einzelhandel, wo der Anteil der Minijobs und unfreiwilligen Teilzeitarbeitsverhältnisse inzwischen bei fast 50 Prozent liegt.«
Und das Unternehmen reagierte frühzeitig auf die Bestrebungen der deutschen Gewerkschaft:
»Ein Jahr nach Beginn der Streiks in Deutschland begann Amazon seine Expansion nach Osteuropa. 2014 wurden in Polen drei Zentren eröffnet, in steuerbegünstigten Sonderwirtschaftszonen in Nähe zur deutschen Grenze und in großem Stil von der EU subventioniert. In der Tschechischen Republik gibt es seit 2013 ein Retourenzentrum in der Nähe des Prager Flughafens. Im Herbst 2015 wurde in unmittelbarer Nähe ein weiteres Versandzentrum eröffnet, der Bau eines weiteren bei Brno ist in Planung. Entgelte und Arbeitszeiten liegen weit unter den deutschen Standards, die Stundenlöhne bei rund einem Viertel der deutschen. Auf die nationalen Märkte in Polen und Tschechien hat es Amazon dabei nicht primär abgesehen. Osteuropa dient praktisch ausschließlich als verlängerter Packtisch für den deutschen und österreichischen Markt.«
Dazu auch bereits aus dem Jahr 2015 dieser Beitrag: Die gnadenlose Effizienzmaschine hinter Amazon wird gefeiert und beklagt. Und in Polen spürt man die handfesten Folgen, wenn man ein kleines Rädchen in der großen Maschine ist.
»Gemeinsam mit Google, Facebook, Apple und Microsoft gehört Amazon zu den „Big Five“, die heute das Internet beherrschen. Aber vielleicht mehr noch als die anderen versucht das Vorzeigeunternehmen aus Seattle, die Arbeitsbedingungen im digitalen Kapitalismus neu zu definieren«, so Boewe und Schulten. Und weiter: »Der Streik der Amazon-Beschäftigten für ihr Recht auf Tarifverträge ist von zentraler Bedeutung für die Frage, welche Standards in den Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital im 21. Jahrhundert als normal gelten werden.«
Und die beiden Autoren verweisen auf die Folgewirkungen dessen, was bei Amazon passiert: »Es gehört wenig dazu, sich vorzustellen, wie bald auch Logistikunternehmen, bei denen noch tarifliche Standards gelten, unter Druck gesetzt werden. Bei DHL, wo bisher ein Großteil der Amazon-Bestellungen abgewickelt wird, bekommt man schon kalte Füße.«