So sieht sie aus in diesen Tagen, eine dieser so typischen Schlagzeilen der BILD-Zeitung. Und direkt darunter wird die Hauptbotschaft transportiert. »Experten kritisieren: Für viele Stütze-Empfänger lohnt es sich gar nicht mehr zu arbeiten.« Erneut, werden viele an dieser Stelle denken, spielt man die unten gegen die aus, die noch weiter unten stehen. Und der BILD-Mann Dirk Hoeren kommentiert die Berichterstattung seiner Zeitung so: »Auch zehn Jahre nach der Einführung bleibt Hartz IV ein Stein des Anstoßes. Für die einen ist es zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Für Millionen Arbeitnehmer, die das System Jahr für Jahr mit Milliarden Steuern am Laufen halten, ist es die Einladung zum bezahlten Nichtstun. Selbst Facharbeiter kommen beim Blick auf den Gehaltszettel ins Grübeln. Mit Hartz und Nebenjobs würden viele mehr herausbekommen.« Ach ja.
Die BILD-Zeitung hat hier etwas aufgegriffen und – formulieren wir es mal nett – „zielgruppengerecht“ zu verpacken versucht, was ein grundsätzliches Problem im und vor allem über das Grundsicherungssystem hinaus ist: Es geht um Bruttoschwellen und Durchschnittsentgelte. Ja, das hört sich technisch an, ist aber ein mehr als handfestes Thema. Für das Jahr 2012 hat dies Johannes Steffen, der das „Portal Sozialpolitik“ betreibt, in einer wahren Fleißarbeit, die alle Kreise und kreisfreien Städte umfasst, aufgearbeitet: Bruttoschwellen und Durchschnittsentgelte 2012. Wohngeld leistet kaum einen Beitrag zur Überwindung von »Hartz IV«. Worum geht es genau?
»Um sich aus der Harz-IV-Abhängigkeit zu lösen, müssen alleinstehende erwerbsfähige Leistungsberechtigte durch abhängige Beschäftigung eine bestimmte Entgelthöhe erzielen (bedarfsdeckende Bruttoschwelle). Die Chancen hierfür hängen neben vielen anderen Faktoren auch vom regionalen Lohnniveau ab (Durchschnittsentgelte). Die unterschiedliche Höhe der Bruttoschwellen wiederum wird maßgeblich bestimmt durch die regional stark schwankenden Kosten für Unterkunft und Heizung.«
Offensichtlich ist dieser allgemeine Zusammenhang: Bedingt durch hohe Kosten der Unterkunft in einer bestimmten Region kommt es zu hohen Bruttoschwellen, die aber in der Regel mit hohen regionalen Durchschnittsentgelten korrespondieren – und umgekehrt. Aber:
»Entscheidend sind aber nicht die absoluten Werte, sondern deren prozentuales Verhältnis: Je höher der Anteil der Bruttoschwelle im Verhältnis zum Durchschnittsentgelt aller Beschäftigten ausfällt, umso schwieriger wird sich insgesamt die Überwindung der Hartz-IV-Abhängigkeit alleine durch Aufnahme bzw. Ausweitung abhängiger Beschäftigung auf dem regionalen Arbeitsmarkt gestalten.«
Steffen kommt zu diesem Ergebnis: »Im Bundesdurchschnitt betrug der Anteil des Schwellen-Brutto am Durchschnittsentgelt 52,2% (51,8% im Westen einschließlich Berlin und 60,5% im Osten). Je höher der Anteilswert ausfällt, um so schwerer wird es Leistungsberechtigten c.p. fallen, das erforderliche Entgeltniveau auf dem regionalen Arbeitsmarkt zu erzielen und sich dadurch aus der Hartz-IV-Abhängigkeit zu lösen.«
Beispiel: Das Durchschnittsentgelt lag 2012 in Westdeutschland (mit Berlin) bei 2.606 Euro im Monat. Der bedarfsdeckende Bruttomonatslohn für einen Alleinstehenden belief sich auf 1.349 Euro pro Monat. Genau dann ist die Schwelle erreicht, aber der man aus dem Hilfeanspruch rauswächst.
Johannes Steffen identifiziert eine zentrale Schwachstelle, die am Übergang zwischen Hilfebedürftigkeit und dem Bestreiten der Existenz aus eigenem Erwerbseinkommen zu verorten ist (und aus die die BILD-Zeitung natürlich nicht hinweist, würde es doch gewissermaßen eine Überforderung der Zielgruppe darstellen):
»Um die Chancen zur Überwindung der Hartz-IV-Abhängigkeit durch die Erzielung von Erwerbseinkommen zu erhöhen, ist u.a. eine durchgreifende Reform des Wohngeldes erforderlich. Denn bei einem Arbeitsverdienst in Höhe der hier ermittelten Bruttoschwellen haben Single-Haushalte durchweg keinen Wohngeldanspruch mehr. Das Wohngeld leistet damit zur Zeit keinen Beitrag zur Überwindung der Fürsorgeabhängigkeit von alleinstehenden Erwerbstätigen. Ein erhöhtes Wohngeld würde die Bruttoschwellen hingegen merklich senken. Bestandteile einer Wohngeldreform müssten
– die Wiedereinführung des Heizkostenzuschusses und
– die Erweiterung der Werbungskosten bei der Wohngeldberechnung spiegelbildlich zur Ausgestaltung des Erwerbstätigen-Freibetrages im SGB II
sein. Der Erwerbstätigen-Freibetrag beläuft sich bei Alleinstehenden aufs Jahr gerechnet derzeit auf bis zu 3.600 Euro – die beim Wohngeld zu berücksichtigenden Werbungskosten sind hingegen auf 1.000 Euro begrenzt. Eine Harmonisierung der Beträge könnte vielen Beschäftigten den Gang zum Jobcenter ersparen.«
Das ganze Thema verdeutlich nicht nur die Komplexität des fragmentierten Hilfesystems, sondern auch zwei grundsätzliche Probleme im und um das Grundsicherungssystem herum:
Zum einen – so auch die simple Stoßrichtung des BILD-Ansatzes, versucht man die Niedriglöhner an der Grenze zur Hilfebedürftigkeit gegen die auszuspielen, die Hilfeleistungen beziehen. Mit der Botschaft, die auch Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft als „Experte“ zitiert unterstützt: Die Hartz IV-Leistungen seien zu hoch, um einen „Anreiz“ zu geben, zu den Bedingungen zu arbeiten, die da unten herrschen. Man könnte natürlich auch auf die Idee kommen zu fragen: Ist das nicht vielmehr ein Problem, dass viele Menschen zu offenbar sehr niedrigen Löhnen arbeiten (müssen), von denen man seine Existenz nicht bestreiten kann oder kein fühlbarer Abstand zu den Transferleistungsempfängern mehr besteht?
Die weitaus folgenreichere Problematik: Der große Bereich der Niedrigst- und Niedrigeinkommen erklärt neben anderen Gründen auch, warum die Politik eine aus fachlicher Sicht möglicherweise gut begründbare Anhebung der Regelleistungen scheut wie der Teufel das Weihwasser. Denn eine Anhebung um 50 oder x Euro würde viele in den Aufstockungsbereich des Hartz IV-Systems reinziehen von der Anspruchsseite her gesehen.
Mit einer damit eng verbundenen Grundsatzfrage beschäftigt sich Lisa Caspari in ihrem Artikel Definiere Existenz und Minimum und sie spricht einen wunden Punkt an bei der Frage, wie man das festlegt, was als „soziokulturelles Existenzminimum“ zu definieren ist und damit die Leistungen determiniert: »Was braucht ein Mensch zum Leben? Früher errechneten Experten die nötigen Tageskalorien und packten Kartoffeln in imaginäre Warenkörbe. Heute runden sie Statistiken ab.« Eine der zentralen Kritikpunkte in der Hartz IV-Diskussion ist immer wieder die – behauptete – zu niedrige Höhe der Regelleistungen. Aus fachlichen Gründen müssten die Leistungen höher ausfallen. Und erst vor kurzem war diese Frage Gegenstand der höchstrichterlichen Rechtsprechung, was in diesem Blog am 9. September 2014 behandelt worden ist: Das Bundesverfassungsgericht grummelt, beißt aber (noch) nicht. Zur Entscheidung über die Bestimmung der Höhe der Regelbedarfsleistungen im Grundsicherungssystem. Das Bundesverfassungsgericht ist in seiner jüngsten Entscheidung auch auf die von Caspari in ihrem Artikel angesprochene und durchaus fragwürdige Vermischung von Warenkorb- und Statistik-Modell bei der Bestimmung des Existenzminimums eingegangen, wenn auch nicht zur Freude der Kritiker am bestehenden System:
»Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, aus der Verbrauchsstatistik nachträglich einzelne Positionen – in Orientierung an einem Warenkorbmodell – wieder herauszunehmen. Die Modifikationen des Statistikmodells dürfen allerdings insgesamt kein Ausmaß erreichen, das seine Tauglichkeit für die Ermittlung der Höhe existenzsichernder Regelbedarfe in Frage stellt; hier hat der Gesetzgeber die finanziellen Spielräume für einen internen Ausgleich zu sichern. Derzeit ist die monatliche Regelleistung allerdings so berechnet, dass nicht alle, sondern zwischen 132 € und 69 € weniger und damit lediglich 72 % bis 78 % der in der EVS erfassten Konsumausgaben als existenzsichernd anerkannt werden. Ergeben sich erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Deckung existenzieller Bedarfe, liegt es im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, geeignete Nacherhebungen vorzunehmen, Leistungen auf der Grundlage eines eigenen Index zu erhöhen oder Unterdeckungen in sonstiger Weise aufzufangen.«
So weit das Bundesverfassungsgericht. Das sind eben nicht nur, wie es scheinen mag, technische Fragen, sondern letztendlich geht es um ein normatives Grundsatzproblem: Wie viel soll es denn sein und mit Blick auf die Interdependenzen mit dem Arbeitsmarkt und den dort herrschenden Verhältnissen verengt sich das dann auf die maßgebliche Frage: Wie viel darf es denn sein? Und diese Frage erklärt in sich dann schon die Antworten, die bislang (nicht) gegeben werden (können/dürfen).
Um abschließend wieder an den Anfang des Beitrags zurückzukommen: Die BILD-Zeitung und andere Interessierte sollten sich einmal die vorliegenden Daten beispielsweise des IAB zur „Konzessionsbereitschaft“ von Hartz IV-Empfängern anschauen, eine auch sehr niedrig entlohnte Arbeit an- und aufzunehmen. Dann erübrigt sich eine so billige Polemik nach unten.