Hört sich gut an, fühlt sich gut an – ist es aber nicht, wie so oft in der Steuerpolitik: Das „Familiensplitting“-Modell der Union

Wenn wir über Steuern reden, dann sprechen wir von staatspolitisch und emotional fundamentalen Fragen – im wahrsten Sinne des Wortes handelt es sich um ein Minenfeld, auf dem nicht nur rational-materielle Interessen wirken, sondern hier werden Verteilungskämpfe ausgefochten und im übrigen kann man es in aller Regel keinem Recht machen. Die einen meinen, sie zahlen zu viel, die anderen meinen wiederum, die anderen, also nicht sie, zahlen zu wenig und sollten doch mehr zahlen.
Ein besonderer Zankapfel in Deutschland ist das Splitting in der Einkommenssteuer und hierbei das an die Institution Ehe gebundene Ehegattensplitting. Bei gemeinsamer Veranlagung wird das gesamte zu versteuernde Einkommen der beiden Ehepartner halbiert, die darauf entfallende Einkommensteuer berechnet und die Steuerschuld anschließend verdoppelt. Es wird also immer so getan, als ob beide Partner genau die Hälfte des gemeinsamen Einkommens verdienen würden. Dadurch ist die Steuerschuld des Ehepaares von der tatsächlichen Verteilung der Einkommen auf beide Partner unabhängig. Die ursprüngliche Begründung für dieses Vorgehen war die Annahme, dass Ehe = Kinder und einer in der Ehe, also die Frau, kümmert sich um die Kinder und geht keiner Erwerbsarbeit nach, so dass man über das Ehegattensplitting die Familien entlastet, denn sie zahlen ja weniger Steuern.

Nun wird seit langem am Institut des Ehegattensplitting herumgemäkelt, denn aufgrund der Bindung nur an den Tatbestand der Ehe kommt es natürlich auch zur Anwendung, wenn keine Kinder da sind. Illustriert wird das dann immer wieder gerne am Beispiel des sehr gut verdienenden Mannes und der nicht erwerbstätigen Ehefrau, die vom vollen Splittingvorteil profitieren können, obgleich keine Kinder vorhanden sind – während beispielsweise zwei nicht miteinander verheiratete Menschen, auch wenn dort drei oder mehr gemeinsame Kinder sind, überhaupt nicht vom Ehegattensplitting berührt werden, sie sind ja auch nicht miteinander verheiratet. Durch die Einführung der „Reichensteuer“ im Jahr 2007 ist der maximale Splittingvorteil für Ehepaare mit einem zu versteuernden Einkommen von über 250.000 Euro weiter gestiegen und erreicht für Einkommen von über 500.000 Euro jetzt ein Maximum von etwa 15.000 Euro pro Jahr.

Vor diesem Hintergrund gibt es zwei grundsätzliche Kritiklinien gegen das Ehegattensplitting, die immer wieder vorgetragen werden:

  1. Das Ehegattensplitting sei antiquiert, weil es (nur) auf das (formale) Institut der Ehe abstellt und hinsichtlich seiner spezifischen Anreizarchitektur – der Splittingvorteil nimmt rasch ab, wenn der andere Ehepartner zunehmend zum Haushaltseinkommen beiträgt, und er verschwindet, wenn beide Ehepartner das gleiche Einkommen erzielen – die Nicht- oder Niedrigst-Erwerbstätigkeit eines der beiden Partner, im Regelfall die Frau, massiv fördert.
  2. Die zweite Kritiklinie bezieht sich auf den (immer wieder behaupteten) „eigentlichen“ Zweck des Ehegattensplittings, darüber Familien mit Kindern, die durch die Nicht-Erwerbstätigkeit eines der Ehepartner, der sich um die Kinder kümmert, Einkommensausfälle haben, wenigstens partiell  über die niedrigere Besteuerung des Paares zu entlasten. Innerhalb dieses Begründungszusammenhangs gibt es dann noch die Kritik, dass das Ehegattensplitting ungerecht sei, wenn Paare nicht in den Genuss der Entlastung kommen , obwohl sie Kinder haben, nur weil sie nicht miteinander verheiratet sind.
  3. Es gibt noch eine dritte Kritiklinie, die hier aber nicht geteilt wird, die aber in der aktuellen Debatte eine Rolle spielt: Die Entlastung sei um so größer, je höher die Einkommen sind. Das nun ist richtig, entspringt aber der inneren Logik einer Steuerentlastung, denn die hohen Einkommen zahlen ja auch höhere Steuern. Und das die unteren Einkommensgruppen, die oftmals gar keine oder nur sehr niedrige Steuern zahlen, dann gar nicht oder nur marginal von einer Steuerentlastung profitieren können, ist nun keine böse Absicht, sondern leitet sich aus der Besteuerungslogik an sich ab.

So weit die Vorrede, denn das Thema Splitting im Steuerrecht hat insofern den Wahlkampf erreicht, da die Unionsparteien – aber auch die FDP – mit der Forderung nach einem „Familiensplitting“ auftreten – einer Forderung, die für viele Beobachter des Geschehens zunächst durchaus nachvollziehbar daherkommt. Konkret: CDU/CSU schlagen vor, den Kinderfreibetrag auf die Höhe des Grundfreibetrags für Erwachsene anzuheben, was natürlich, weil an die Kinder gebunden, eine zusätzliche Entlastung der (verheirateten) Familien mit einem oder gar mehreren Kindern bedeuten würde, denn der derzeitige Kinderfreibetrag (7.008 Euro im Jahr) liegt unter dem für die Erwachsenen (demnächst 8.354 Euro). Natürlich weiß die Union um die Problematik, dass viele Familien im unteren Einkommensbereich gar keine oder nur sehr wenig Steuern zahlen, so dass bei ihnen keine Entlastung ankommen kann. Auch für diese Gruppe haben CDU/CSU (nicht aber die FDP) was im Gepäck, denn das Kindergeld soll um 35 Euro pro Monat erhöht werden – und das Kindergeld bekommen ja auch die Familien, die gar keine Steuern zahlen müssen, weil sie so wenig verdienen, also fast alle Familien, außer den „Hartz IV“-Familien, denn bei denen wird nach der bestehenden Rechtslage das gesamte Kindergeld auf den Grundsicherungsanspruch angerechnet, sie gehen also bei einer Erhöhung des Kindergeldes leer aus. Und schon sind wir mittendrin in einer Auseinandersetzung über das Familiensplitting.

Die Süddeutsche Zeitung berichtet unter der Überschrift „Schlechte Noten fürs Familiensplitting“ über eine massive Kritik des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin an den Plänen der Union, auch andere Medien sind auf den Zug aufgesprungen, beispielsweise Spiegel Online mit dem Artikel „Familiensplitting der Union kostet Steuerzahler Milliarden„. Claus Hulverscheidt fasst die zentralen Kritikpunkte der Ökonomen an dem Familiensplitting-Modell so zusammen: »Das Konzept der Union koste Milliarden, bevorzuge Gut- und Spitzenverdiener und halte Frauen davon ab, nach der Geburt eines Kindes in den Job zurückzukehren«.

Wer die Ausführungen des DIW im Original lesen möchte, der kann den Beitrag im neuen DIW Wochenbericht hier als PDF-Datei abrufen:

Richard Ochmann und Katharina Wrohlich: Familiensplitting der CDU/CSU: Hohe Kosten bei geringer Entlastung für einkommensschwache Familien. In: DIW Wochenbericht, Nr. 36/2013, S. 3-11

Das DIW hat das Familiensplitting-Modell der Union  in ihrem Wahlprogramm mit den beiden bereits skizzierten Komponenten Erhöhung des Kindergeldes und Anhebung der Kinderfreibeträge auf das Niveau der Erwachsenen untersucht und kommt zu folgendem Ergebnis: Dieses Familiensplitting-Modell

»würde nach Berechnung des DIW Berlin Familien mit Kindern durchschnittlich um rund 700 Euro pro Jahr entlasten. Die Entlastung steigt mit dem Einkommen. Im untersten Zehntel (Dezil) der Einkommensverteilung beträgt die durchschnittliche Entlastung der Familien knapp 300 Euro pro Jahr, während sie im obersten Zehntel rund 840 Euro ausmacht. Familien mit geringen Einkommen werden also unterdurchschnittlich entlastet. Insgesamt kostet die Reform mehr als sieben Milliarden Euro pro Jahr.«

Damit man die vom DIW errechneten Kosten von zusätzlich 7 Mrd. Euro (Kinderfreibetrag und Kindergeld kosten die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden derzeit etwa 40 Milliarden Euro im Jahr) einordnen kann: »Das wäre fast die Hälfte dessen, was der Staat heute für die Subventionierung von Kindertagesstätten ausgibt«, so Hulverscheidt in seinem Artikel. Und zwar für alle Kindertageseinrichtungen (sowie der öffentlichen Förderung der Kindertagespflege) in Deutschland.

Die Idee für ein Familiensplitting stammt übrigens aus Frankreich, wo die Finanzämter das Familieneinkommen rein rechnerisch nicht nur auf die Ehepartner, sondern auch auf die Kinder verteilen. Dadurch sinkt für die Familie insgesamt die Steuerlast. Immer wieder wird man in der familienpolitischen Diskussion konfrontiert mit der Aussage, in Frankreich sei das besser geregelt für die Familien, denn die werden dort über die kindbezogene Entlastung besser gestellt als bei uns in Deutschland. Aber auch hier lohnt es sich wie so oft, genauer hinzuschauen:
Das DIW hat sich vor diesem Hintergrund erneut mit dem französischen Modell auseinandergesetzt und dieses sowohl mit dem bestehenden deutschen System wie auch mit den Vorschlägen der Union hinsichtlich einer Weiterentwicklung des Ehegatten- zu einem Familiensplitting beschäftigt. Die Ergebnisse sind ernüchternd. So schreiben die Forscher in ihrer Zusammenfassung:

»Es zeigt sich, dass schon das bestehende deutsche Modell in weiten Teilen großzügiger ist als das französische. Die finanziellen Vorteile für deutsche Familien würden sich bei Umsetzung der Unionspläne vergrößern.«

Das sind nun alles keine neuen Befunde, denn das DIW hat schon in der Vergangenheit sowohl die Forderung nach einem Familiensplitting wie auch die Behauptung, die Franzosen stehen besser da, kritisch unter die Lupe genommen – verwiesen sei an dieser Stelle nur auf die Pressemitteilung des DIW vom 06.03.2013: „Französisches Familiensplitting taugt nur bedingt als Vorbild„. Bereits damals wurde herausgearbeitet, dass die Einführung des französischen Modells in Deutschland nur geringe Veränderungen zur Folge hätte: »Nur Familien mit drei oder mehr Kindern würden stärker entlastet, da in Frankreich die steuerliche Förderung des dritten Kindes doppelt so hoch ausfällt wie die für das zweite Kind. Die gleichen Wirkungen könnten in Deutschland jedoch mit einer Verdoppelung des Kinderfreibetrages für das dritte Kind erreicht werden.«
Und auch schon damals wurde auf einen allerdings wichtigen Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland hingewiesen:

»Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem deutschen und dem französischen System betrifft den Familienstand: Französische Paare mit oder ohne Kinder müssen im Unterschied zu deutschen Paaren nicht verheiratet sein, um vom Familiensplitting zu profitieren – es reicht, wenn sie den PACS (pacte civil de solidarité) eingegangen sind. Dies ist in Frankreich auch für gleichgeschlechtliche Paare möglich.«

Während mittlerweile – vor allem durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – die Benachteiligung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften abgebaut worden ist, bestehen aus der Perspektive einer primär am Tatbestand der angestrebten Entlastung von Familien mit Kindern zwei zentrale Verwerfungen, die im Unionskonzept perpetuiert werden:

  1. Die steuerliche Entlastung ist weiterhin – weil in der Systematik des Ehegattensplitting bleibend – geknüpft an den Tatbestand, dass hier verheiratete Paare entlastet werden (und mittlerweile auch gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften) – aber eben nicht unverheiratete Paare mit Kindern.
  2. Nicht nur sozialpolitisch fragwürdig ist die Exklusion der vielen Familien im „Hartz IV“-Bezug, denn die können natürlich nicht von der steuerlichen Entlastung profitieren, kommen aber auch noch nicht einmal in den Genuss des erhöhten Kindergeldes, denn das wird vollständig angerechnet auf ihren Grundsicherungsanspruch. Hier wird also der beklagenswerte Tatbestand einer Zwei-Klassen-Gesellschaft an Familien fortgeschrieben und verfestigt.

Fazit: Vor dem Hintergrund des enormen finanziellen Aufwandes in Höhe von geschätzt 7 Mrd. Euro für die Umsetzung des Familiensplitting-Modells (man sollte eigentlich korrekter von einem „Verheirateten-Familiensplitting-Modell sprechen) kann man die Schlussfolgerung der DIW-Ökonomen durchaus nachvollziehen: »Angesichts der hohen fiskalischen Kosten des Unionsvorschlags sollte deswegen in Erwägung gezogen werden, die Mittel eher in Maßnahmen zu investieren, die einen solchen Zielkonflikt nicht aufweisen, wie zum Beispiel den Ausbau qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung«, schreiben Ochmann und Wrohlich in ihrer Zusammenfassung.

Man muss sich nur mal vorstellen, welche erheblichen Verbesserungen wir in der so wichtigen Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur für Kinder erreichen könnten, wenn wir sieben Milliarden Euro zusätzlich investieren könnten. Aber auch wenn wir im Themenfeld Entlastung der Familien mit Kindern (und hier völlig unabhängig von der Frage, ob verheiratet oder nicht) bleiben und nach Alternativen suchen, dann lohnt ein Blick auf das Konzept einer „Kindergrundsicherung“, das von einem breiten Bündnis vertreten wird. Weiterführende Informationen zu diesem Ansatz gibt es auf der Website www.kinderarmut-hat-folgen.de.

Auf das Basisjahr kommt’s an. Statistiker-Weisheit hilft bei der Einordnung der vielen Jubelmeldungen über den deutschen Jobwunder-Arbeitsmarkt

Da war sie wieder – eine dieser vielen Erfolgsmeldungen der Bundesregierung von der Arbeitsmarktfront: „Gute Jobaussichten für Langzeitarbeitslose„, so ist eine Pressemitteilung der Bundesregierung überschrieben. Darin findet sich gleich am Anfang die wohltuend daherkommende Botschaft: »Auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist deutlich gesunken: zwischen 2007 und 2011 von 1,72 Millionen auf 1,05 Millionen.« 670.000 Langzeitarbeitslose weniger – das ist doch was!
Doch bevor man jetzt in Ehrfurcht erstarrt angesichts dieses doch offensichtlichen Erfolgs der Bundesregierung, kann es hilfreich sein, kritische Stimmen zu Wort kommen zu lassen.

Und kritische Kommentierungen und Analysen findet man beispielsweise auf der Website „O-Ton Arbeitsmarkt„, die eine alternative Arbeitsmarktberichterstattung zu liefern verspricht. Dort wurde diese Jubelmeldung vom Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit unter die Lupe genommen – und das Fazit findet sich kompakt in der Überschrift: „Bundesregierung rechnet Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit schön“. Schauen wir uns die Argumentation genauer an.

Die Hauptkritik lautet: Bei genauem Hinsehen entpuppt sich der herausgestellte Rückgang der Langzeitarbeitslosigkeit als ein rein statistischer Effekt, den sich die Bundesregierung zunutze macht. Um das zu verstehen, muss man zurückschauen in das Jahr 2005: »Mit den Hartz-Reformen wurden die Arbeitslosen- und Sozialhilfe 2005 zur Grundsicherung für Arbeitssuchende („Hartz IV“) zusammengeführt. Zahlreiche ehemalige Sozialhilfeempfänger erhielten im Zuge dieser Umstellung irrtümlich den Status arbeitslos, obwohl sie dem Arbeitsmarkt tatsächlich nicht zur Verfügung standen. Das führte zu einem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosenzahl 2005 und daher im Verlauf der Jahre 2006 und 2007 zu einem deutlichen Zuwachs bei den Langzeitarbeitslosen. Im Jahresdurchschnitt 2007 war die Zahl der Langzeitarbeitslosen allein deshalb auf den absoluten Höchstwert von 1,7 Millionen Menschen angestiegen.«

Dieser Höchstwert reduzierte sich in den Folgejahren durch Korrektur der Fehlzuweisungen. Daraus ergibt sich der überdurchschnittlich starke, aber hauptsächlich statistische, Abbau der Langzeitarbeitslosenzahl zwischen 2007 und 2009, so „O-Ton Arbeitsmarkt“.

Nun ist es so – um gleich möglichen Einwänden den Wind aus den Segeln zu nehmen -, dass die das nicht einfach behaupten, sondern das behauptet die Bundesagentur für Arbeit selbst. Hierzu ein Zitat aus dem 2011 von der BA veröffentlichten Bericht „Sockel- und Langzeitarbeitslosigkeit“:

»Allerdings können die hohen Werte in den Jahren 2005 und 2006 auch als Folge der anfänglich sehr weitreichenden Statuszuweisung „arbeitslos“ für erwerbsfähige Hilfebedürftige im Zuge der Einführung des SGB II gelten. Der deutliche Rückgang ist damit teilweise einer Bereinigung der übererfassten Fälle insbesondere in den ersten drei Jahren des SGB II geschuldet.«

„O-Ton Arbeitsmarkt“ arbeitet heraus, dass der Großteil des Rückgangs der Langzeitarbeitslosigkeit zwischen 2007 und 2011 in den Jahren 2008 und 2009 erfolgte, in denen die Korrekturen der Fehlzuweisungen vorgenommen wurden. In diesen beiden Jahren wurde die Langzeitarbeitslosenzahl statistisch um 590.000 Personen nach unten korrigiert.

Um tatsächlich von arbeitsmarktpolitischen Erfolgen sprechen zu können, sind erst die Zahlen ab 2010 aussagekräftig. Erst dann lässt sich wieder von einem statistisch unbeeinflussten Abbau der offiziell ausgewiesenen Langzeitarbeitslosigkeit sprechen – und für diesen Zeitraum sind die Rückgänge dann weitaus bescheidener.

Aber auch hier muss man genau auf die Wortwahl achten – denn „O-Ton Arbeitsmarkt“ spricht von der „offiziell ausgewiesenen Langzeitarbeitslosigkeit“ und will damit zum Ausdruck bringen, dass diese Zahl eine Unterschätzung des tatsächlichen Phänomens der Langzeitarbeitslosigkeit ist:

So müsse man berücksichtigen, »dass die offizielle Statistik die Zahl der Langzeitarbeitslosen massiv unterzeichnet.  So genannte „schädliche Unterbrechungen“ machen bisherige Langzeitarbeitslose zu „neuen“ Arbeitslosen – zumindest statistisch.
Denn was sich Unterbrechung nennt, bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Arbeitslosigkeit tatsächlich zeitweise beendet wurde. „Schädlich“ ist beispielsweise schon die Teilnahme an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme oder eine längere Krankheit. Nach dieser Unterbrechung wird die Dauer der Arbeitslosigkeit von vorne gezählt und ein neues Startdatum eingetragen. Dass die betreffenden Personen in der Zwischenzeit weder Arbeit gefunden noch den Arbeitslosengeldbezug beendet haben, ist irrelevant.«

Bereits im November 2012 hatte „O-Ton Arbeitsmarkt“ über diesen Tatbestand berichtet: „Statistik schönt Ausmaß der Langzeitarbeitslosigkeit„, so ist der damalige Artikel überschrieben worden.

Fazit: Eine alternative, kritische Berichterstattung kann ein wichtiges Korrektiv sein, vor allem in Zeiten, in denen Politiker gerne so mit Zahlen jonglieren, dass dem Bürger schwindelig wird.

Die österreichische „Partei der Arbeit“ in der Realität der Leiharbeit sowie ein deutscher Wahlkampf ohne Arbeitslose

Bei ihrem Wahlkampfauftakt im Wiener Museumsquartier inszenierte sich die österreichische Sozialdemokratie, die SPÖ, als „Partei der Arbeit“. Das tut sie auch in Werbefilmen und im Internet. Jedes einzelne prekäre Arbeitsverhältnis sei eines zu viel in Österreich, die „sogenannte Flexibilisierung“ sei nichts anderes als ein Abbau der Arbeitnehmer-Rechte, so der Bundeskanzler Werner Faymann in seiner Eröffnungsrede. Hört sich gut an. Aber für den „Schutzpatron der Arbeitnehmer“ sind dann solche Schlagzeilen weniger schön: „Bei der „Partei der Arbeit“ bedienen Leiharbeiter„. Die meisten der 1.500 Genossinnen und Genossen wussten aber nicht, dass sie von Angestellten einer Personalvermittlung, also von Leiharbeitern, mit Essen und Trinken versorgt wurden. Wenn Anspruch und Wirklichkeit aufeinander treffen:

»Rund neun Euro verdienen die Beschäftigten der Leiharbeiterfirma laut eigenen Angaben pro Stunde – für den Geschmack vieler SPÖ-Mitglieder viel zu wenig. Man habe ihm „fast den Appetit“ verdorben, meinte ein Funktionär, der „15 Euro aufwärts“ für einen angemessenen Stundenlohn hält.«

Der SPÖ-Bundesgeschäftsführer Norbert Darabos verdeutlicht in seiner Stellungnahme ein Grundproblem, das hier viel interessanter ist, verweist es doch auf die allgemeinen Mechanismen, die auf dem Arbeitsmarkt ablaufen: „Es ist so, dass wir die Firmen, die hier Catering betreiben, als Firma anstellen“.

Und weiter erfahren wir, dass die SPÖ sich ganz korrekt wie ein stinknormaler Arbeitgeber verhalten hat, der sich in der Welt des Outsourcing bewegt – wir lernen aber auch etwas, was ich an dieser Stelle besonders hervorheben möchte, nämlich die Relationen von dem, was Auftraggeber zahlen und was unten ankommt:

»Die SPÖ beteuerte am Samstag in einer Stellungnahme, der beauftragten Firma Cateringdesign pro Stunde und Person 22 Euro ohne Steuern bezahlt zu haben, für die Dauer der Veranstaltung also 110 Euro netto pro Person. Die Cateringfirma habe für den Personalbereich wiederum das Unternehmen GVO beaufragt und die 22 Euro pro Person und Stunde „1:1 an GVO weitergegeben“. Es sei der SPÖ versichert worden, dass GVO laut Kollektivvertrag entlohnt, heißt es in der Stellungnahme weiter.«

Erneut zeigt dieses Beispiel einen Grundtatbestand, den wir aus der Debatte über Leiharbeit, aber auch dem zunehmend an Relevanz gewinnenden Thema Werkverträge schon kennen: Es ist eine Frage der Logik, dass es keine große Differenz geben muss zwischen dem, was unten ankommt und was oben gezahlt wird, wenn zwischen dem, der die Arbeit macht und dem, der die Arbeit in Anspruch nimmt ein oder mehrere Unternehmen zwischengeschaltet sind, die aus diesem Vorgang ihren Gewinn ziehen wollen. Das war schon beim Sklavenhandel so und ist in der modernen Welt des Mit-Arbeitskräften-Handelns nicht anders.

Wenn wir schon aus Österreich irgendwie wieder in Deutschland angekommen sind, dann fällt einem ergänzend der in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienene Kommentar „Wahlkampf ohne Arbeitslose“ von Winand von Petersdorff ins Auge. Er zitiert in seinen Anmerkungen eine leider bittere Wahrheit und eine steile These, die allerdings derzeit immer öfter in den Medien verbreitet wird.

Der Kommentator bezieht sich auf vor kurzem vorgelegte Umfrageergebnisse des Instituts für Demoskopie Allensbach über Themen, die den Deutschen in Zeiten des Wahlkampfs wichtig seien: Auf dem vorletzten Platz lag das Thema Sicherheit des Arbeitsplatzes. Und das sei, so der Kommentator, absolut verständlich: »Deutschland hat so viele Erwerbstätige wie nie. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Normalarbeitsplätze steigt stetig. Immer mehr Regionen in Deutschland nähern sich der Vollbeschäftigung.«

Grundsätzlich stimmt die Aussage, vor dem Hintergrund von mehreren Jahren positiver Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland im Zusammenspiel mit vielen anderen Faktoren wie demografischer Entwicklung usw. ist das auch kein Wunder, wobei man an dieser Stelle natürlich immer wieder Einwände vorbringen kann, wenn man – wie beispielsweise in der Abbildung der Gewerkschaft ver.di – versucht, einen differenzierteren Blick zu werfen auf die Arbeitsmarktentwicklung. Und hier ist noch gar nicht die Entwicklung der Qualität der Arbeitsverhältnisse hinsichtlich der Löhne berücksichtigt. Weitaus bedrückender – zugleich aber auch weitaus realitätsnäher – wird es, wenn man dann auch noch in Rechnung stellt, dass es für einen bestimmten Teil der Arbeitslosen in den vergangenen Jahren sogar noch schwieriger geworden ist, auf dem Markt für bezahlte Arbeit wieder Fuß zu fassen: Wir beobachten eine massive Verhärtung der Langzeitarbeitslosigkeit im „Hartz IV-System“, die aber auch so gut wie gar nicht mehr auftaucht im Wahlkampf und – was noch schlimmer ist – im Bewusstsein vieler politisch Verantwortlicher ebenfalls nicht mehr. Es sei an dieser Stelle nur auf die Veröffentlichungen auf der Seite „O-Ton Arbeitsmarkt“ hingewiesen, wo immer wieder auf die empirisch beobachtbare Verhärtung der Langzeitarbeitslslosigkeit hingewiesen wird. Hierzu nur zwei Beispiele: Die Dauer des Hilfebezugs ist nach „Hartz IV“ deutlich länger als in der alten Arbeitslosen- und Sozialhilfe („Hartz IV“: Dauer des Hilfebezugs deutlich länger als vor den Reformen) sowie „Von Erfolgsmeldungen und der Wirklichkeit: Nur monatlich 0,3 Prozent der „Hartz IV“-Empfänger beenden ihre Hilfebedürftigkeit durch Arbeit„.

Doch für den Kommentator Winand von Petersdorff spielen diese Aspekte keine Rolle, er kaut statt dessen das wieder, was der Mainstream so perpetuiert: Gerhard Schröders »Arbeitsmarktreformen haben nicht nur die nötige Flexibilisierung gebracht, sie haben auch die Arbeitsmoral selbst gestärkt«. Stärkung der Arbeitsmoral, so kann man die Wirkungen der Hartz-Reformen auch titulieren. Diese immer wieder zu beobachtenden Verkürzung, wenn nicht gar Verdrehung des Auswirkungen des komplexen Gefüges „Hartz IV“ sind schade und unnötig, bringt der Kommentator doch vorher wesentlich relevantere Faktoren zur Erklärung des deutschen Erfolgs auf dem Arbeitsmarkt, der doch immer – das darf hier aus einer alten volkswirtschaftlichen Position erwähnt werden – ein abgeleiteter Markt ist. So schreibt er:

»Die diversifizierte Struktur der Volkswirtschaft mildert die Wirkung von Schocks, die von einzelnen Branchen ausgehen wie zuletzt vom Bankensektor. Die deutsche Industrie profitiert mit ihrem Sortiment besonders stark vom Megatrend der letzten Jahre, von dem Aufstieg der Schwellenländer.
Sehr langsam entspannt zudem die demographische Entwicklung des Landes den Arbeitsmarkt. Firmen und Verwaltungen bekommen zunehmend Probleme, für ausscheidende Arbeitnehmer Ersatz zu finden.«

Aber der hier besonders interessierende Punkt in seiner Argumentation ist ein ebenfalls immer öfter auftauchendes Bild: »Die Jugendarbeitslosigkeit – in den meisten europäischen Ländern eine der größten sozialen und ökonomischen Herausforderungen überhaupt – verschwindet hierzulande gerade.« Damit reflektiert er eine Welle der Berichterstattung, die auch durch solche Artikel vorangetrieben wird: „Suche Azubi, biete Auto„: »Kurz vor Beginn des Lehrjahrs sind in Deutschland noch Zehntausende Ausbildungsplätze frei. Die Lehrbetriebe locken mit Begrüßungsgeld, Smartphone oder einem eigenen Wagen«, so die Frontberichterstattung auf Spiegel Online. Garniert wird der Bericht mit Beispielen aus ostdeutschen Handwerksunternehmen, was jungen Leuten heutzutage angeblich alles so nachgeschmissen wird, wenn sie sich den bequemen, eine Berufsausbildung anzufangen oder eine solche länger als einige wenige Monate durchzuhalten. Dabei findet man komplexere Hinweise auf die Realität in dem Artikel selbst:

»Vor allem in Ostdeutschland habe sich die Zahl der Schulabgänger in den vergangenen zehn Jahren auf rund 114.000 halbiert. Zudem gebe es einen anhaltenden Trend zum Studium. Und von den tatsächlichen Bewerbern erfülle eben ein Teil nicht die Anforderungen für die Berufsausbildung.«

So ist es. Eine komplexe Gemengelage, die im Ergebnis dazu führt, dass zwar immer mehr Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben, andererseits aber auch immer noch mehr als 270.000 junge Menschen pro Jahr in das überaus heterogene „Übergangssystem“ eingetreten sind, teilweise in mehrjährige Warteschleifen. Allerdings werden die dann alle nicht als „arbeitslos“ gezählt, weil sie ja irgendwie beschäftigt sind.

Zu der ganzen – wie gesagt komplexen – Problematik und den Notwendigkeiten wie auch die Möglichkeiten einer Unterstützung der dualen Berufsausbildung vgl. weiterführend die Beiträge in Christine Henry-Huthmacher und Elisabeth Hoffmann (Hrsg.): Duale Ausbildung 2020. 14 Fragen & 14 Antworten, St. Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung, 2013.