Das Kreuz mit den Zahlen, aber nicht nur Zahlenspielerei – auch Österreich streitet über „offene“ und „versteckte“ Arbeitslose

In diesen wechselhaften Zeiten ist es schon fast ein Wert an sich, wenn man sich auf ein ewig wiederkehrendes Ritual verlassen kann – gemeint ist an dieser Stelle die allmonatliche Berichterstattung über die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland. Aber mit dem Begriff „die Arbeitslosen“ fängt das Problem schon an.

So verkündete beispielsweise die Bundesagentur für Arbeit für den August 2013 die folgende Botschaft: „Im August ist die Zahl der Arbeitslosen erneut leicht auf 2,94 Millionen gestiegen“. Und genau diese Zahl flimmert dann bereits am Abend über die Bildschirme der Fernseher in den deutschen Wohnstuben und wird am Folgetag auf den ersten Seiten vieler Tageszeitungen zu lesen sein. Aus Sicht der politischen Psychologie besonders wichtig sind natürlich die ,94 hinter der zwei, denn damit liegt die Zahl der Arbeitslosen unter der Grenze von 3 Millionen. Aber wie so oft im Leben gibt es auch in diesem Fall Kritikaster, die sich mit der offiziellen Mitteilung nicht zufrieden geben wollen. Und die gar behaupten, dass die echte Zahl der Arbeitslosen deutlich über den hier ausgewiesenen 2,94 Millionen liegen würde. So beispielsweise – mittlerweile ebenfalls jeden Monat – die Webseite „O-Ton-Arbeitsmarkt„, wo man zu den aktuellen Arbeitsmarktzahlen diesen Hinweis finden kann: „Offizielle Statistik verschweigt über 816.000 Menschen ohne Arbeit„. Wobei man fair sein sollte, den die Statistik der Bundesagentur für Arbeit liefert sehr wohl diese deutlich höheren Zahlen, allerdings wird genau diese Zahl nicht genannt in den Pressekonferenzen des Vorstands der BA, sondern die niedrigere Zahl der „registrierten“ Arbeitslosen, also eben jene 2,94 Mio. Menschen, wird auf den Pressekonferenzen an der vor allem für die Medien relevanten ersten Stelle genannt. Man kann sich dann die Zahl der fehlenden Arbeitslosen aus dem Statistik-Tabellen der Bundesagentur für Arbeit heraus suchen, was aber die wenigsten Journalisten tun.

Und dann ergibt sich eben mit der Befund, auf denen O-Ton-Arbeitsmarkt abstellt: »Denn Monat für Monat filtert die Bundesagentur für Arbeit tatsächlich Arbeitslose aus der offiziellen Arbeitslosenzahl in die Sonderkategorie Unterbeschäftigung. Im Juli über 816.000 Menschen nur deshalb, weil sie etwa an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnahmen, zum Zeitpunkt der Erfassung krankgeschrieben waren oder als über 58-Jährige innerhalb eines Jahres kein Jobangebot erhielten.«

Allerdings muss der Vollständigkeit halber angemerkt werden, dass auch diese um 816.000 Menschen erhöhte Zahl an Arbeitslosen nicht in der Lage ist, die wirkliche Problematik auf dem Arbeitsmarkt in toto abzubilden. Denn das landläufige Gegenteil von Arbeitslosigkeit ist bekanntlich eine Beschäftigung – und viele Menschen assoziieren – oftmals unbewusst – Beschäftigung mit einer normalen Vollzeitbeschäftigung mit einem halbwegs normalen Verdienst. Aber beschäftigt im Sinne der Statistik ist eben auch jemand, der beispielsweise nur einen 450-Euro-Job ausübt oder der nur 20 Stunden in der Woche arbeitet, auch wenn beide eigentlich gerne länger arbeiten würden, wenn es der berühmte Arbeitsmarkt nur hergeben würde. Und natürlich sagt die eine Zahl der Beschäftigten auch nichts darüber aus, zu welchen Bedingungen die „Normalarbeitnehmer“ oder die Minijobber oder die Selbständigen in der Praxis wirklich tätig sind. Aber auch wenn wir uns im Rahmen der konventionellen Arbeitsmarktstatistik bewegen, sind die von den Kritikern ausgewiesenen 816.000 Menschen, die tatsächlich arbeitslos sind und den 2,94 Millionen registrierten Arbeitslosen hinzuzurechnen wären, noch zu niedrig angesetzt. So können wir der IAB-Prognose 2013 „Der Arbeitsmarkt bekommt konjunkturellen Rückenwind“ entnehmen: »Zur Stillen Reserve im engeren Sinn zählen entmu- tigte Personen, die sich trotz Erwerbslosigkeit nicht bei den Arbeitsagenturen melden.« Und diese Gruppe, die zu denen, die sich Maßnahmen oder vorruhestandsähnlichen Maßnahmen befinden, noch hinzuzuzählen wären, hat nach IAB-Angaben ein Volumen von weiteren 720.000 Menschen. Wir werden auf diese hier für Deutschland ausgewiesen Gruppe noch zurückkommen.

Und so richtig schwierig wird es für die allermeisten, wenn man darauf hinweist, dass es nicht nur die 2,94 Millionen Menschen gibt, die offiziell arbeitslos registriert sind, sondern das sich allein im Grundsicherungssystem („Harz-IV“) mehr als 5,2 Millionen erwerbsfähige Leistungsempfänger befinden, von denen ganz offensichtlich viele gar nicht als registrierte Arbeitslose gezählt werden, obgleich sie erwerbsfähig und zugleich hilfebedürftig sind (vgl. hierzu den Blog-Beitrag „Mit den Millionen kann man schon mal durcheinander kommen: Von Leistungsberechtigten, An-sich-Leistungsberechtigten und der Restgruppe der Arbeitslosen. Und was das alles mit dem Regelsatz für Hartz IV-Empfänger zu tun hat“ auf dieser Website).

Aber alle diese Punkte sollen hier nicht weiter diskutiert, sondern der Blick soll über die Landesgrenzen nach Österreich gerichtet werden, wo es jetzt ebenfalls eine interessante Debatte darüber gibt, wer eigentlich – wirklich – arbeitslos ist und wer davon (nicht) gezählt wird. Österreich ist auch deshalb interessant, weil es nicht nur wie Deutschland im europäischen Vergleich über eine niedrige Arbeitslosenquote verfügt, sondern ganz konkret im EU-Vergleich der offiziellen Arbeitslosenzahlen auf dem ersten Platz mit einer entsprechend niedrigen Arbeitslosenquote rangieren kann. Also eine echte Erfolgsstory, die sich natürlich generell, vor allem aber in Zeiten des Wahlkampfs, gut verkaufen lässt. So wie derzeit gerade. Da mag man es aus der Perspektive der herrschenden Kräfte gar nicht, wenn jemand kommt und behauptet, die Arbeitslosenzahlen wären viel zu niedrig ausgewiesen. Und mit dem Platz 1 im EU-Vergleich ist es auch vorbei. Aber der Reihe nach.

Offiziell gibt es in Österreich 220.000 Arbeitslose. Das ist eine erfreulich niedrige Zahl. Laut der Statistikbehörde Eurostat gibt es seit 2010 keinen anderen EU-Staat, in dem die Arbeitslosenquote derart niedrig gewesen wäre. Aber die Zahl der offiziell ausgewiesenen Arbeitslosen wird nun durch eine neue Studie angegriffen, wie der „Standard“ in seiner Online-Ausgabe berichtet („250.000 Arbeitslose jenseits der Statistik„):

»… Ökonomen der Denkfabrik Agenda Austria haben nachgerechnet und kommen zu teils erstaunlichen Ergebnissen über die wahre Zahl der Arbeitslosen in Österreich. Demnach gibt es in Österreich 250.000 versteckte Arbeitslose, die meisten von ihnen sind zwischen 55 und 64 Jahre alt. Rechnet man sie in die Statistik mit ein, wäre Österreichs Arbeitslosenquote im ersten Quartal 2013 nicht bei 5,1, sondern bei 10,3 Prozent gelegen. Im Europavergleich stünde die Republik zwar immer noch gut da, den Spitzenplatz in der EU wäre man aber los.«

Die Agenda Austria ist eine von Industriellen und vermögenden Privatleuten finanzierte Forschungseinrichtung unter Leitung des illustren Dr. Franz Schellhorn, ehemals Journalist bei der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“. Auch die Tageszeitung „Kurier“ berichtet in ihrer Online-Ausgabe von den neuen Ergebnissen: „Auf den Spuren der versteckten Arbeitslosig­keit. Studie: Heimische Arbeitslosen-Quote in Wirklichkeit doppelt so hoch wie angegeben„. So etwas kommt in der Endphase des Wahlkampfs in Österreich bei vielen sicher nicht gut an, aber wir schauen trotzdem oder gerade deswegen mal genauer hin:

Grundlage ist die Studie „Österreich, das Land der versteckten Arbeitslosigkeit“ der „Denkfabrik“ Agenda Austria. Darin kommen die beiden Autoren zu dem Ergebnis, dass man »vor allem bei den AMS-Schulungsteilnehmern, Frühpensionisten und der sogenannten „stillen Reserve“ fündig« geworden sei. Diese Gruppe erklären die Differenz zwischen den offen ausgewiesenen und den nun genannten „tatsächlichen“ Arbeitslosen. Wobei man an dieser Stelle darauf hinweisen sollte, dass der AMS – also das österreichische Pendant zur Bundesagentur für Arbeit – bei den allmonatlichen Präsentationen immer sehr deutlich auf die Zahl der Schulungsteilnehmer hinweist, offensiver als die BA. »„Österreich versteckt vor allem bei den 55- bis 64-Jährigen jede Menge Arbeitslose, dafür sind wir bei den Jüngeren wider Erwarten gut“, meint Agenda-Austria-Chef Franz Schellhorn und verweist auf die im EU-Vergleich nach wie vor niedrige Erwerbsquote bei den Älteren. Der Spitzenplatz bei der EU-Arbeitslosenquote sei aber mit teuren Frühpensionierungen erkauft worden«, schreibt der Kurier. Die Studie spricht an dieser Stelle von rund 81.000 versteckt Arbeitslose in dieser Altersgruppe und damit weit mehr als die 60.000 Menschen in Schulungsmaßnahmen des AMS, die auch nicht auftauchen in der offiziellen Zahl. Der Rest der Differenz speist sich aus der hier schon für Deutschland angesprochenen „stillen Reserve“, die auf 190.000 taxiert wird.

Aber auch Eurostat weist die „stille Reserve“ für Österreich auf der Basis der monatlich 1.500 Haushaltsbefragungen aus, nur tauchen die eben nicht in der offiziellen Arbeitslosenzahl auf, denn sie sind ja auch nicht offiziell arbeitslos. Eurostat kommt derzeit auf 126.000 Menschen in dieser Gruppe.

„Diese Zahl gibt es, die Medien interessieren sich nicht für sie“ , wird Melitta Fasching von der Statistik Austria zutreffend in dem Kurier-Artikel zitiert. Und auf die Frage, warum diese Menschen nicht auch offiziell ausgewiesen werden, sagt sie: „Die stille Reserve ist keine homogene Gruppe – zu ihr zählen Pensionisten ebenso wie Studenten und Eltern, die ihre Kinder betreuen“ , sagt Fasching, „es mache wenig Sinn, sie mit klassischen Arbeitssuchenden in einen Topf zu werfen“.
Das AMS kann mit der Studie wenig anfangen: „Die Zahlen sind überhaupt nicht nachvollziehbar“, so Sprecherin Beate Sprenger. Den betroffenen Frühpensionisten werde automatisch ein Arbeitswunsch unterstellt, was man bei den Frühpensionisten durchaus diskutieren kann und muss. Und IHS-Arbeitsmarktexperte Helmut Hofer hält es für unseriös, ein mögliches, aber theoretisches Beschäftigungspotenzial pauschal als Arbeitslose zu bezeichnen.

Da ist er schon, der Mindestlohn. Bevor sich die Parteien nach der Bundestagswahl überhaupt sortiert haben, wird schon wieder mit Studien hantiert

Diese Schlagzeile ist natürlich kein Zufall, sondern bewusst platziert: „Forscher halten Mindestlohn von 8,50 Euro für zu hoch„. Denn während die Parteien am Tag 2 nach der Bundestagswahl entweder noch staunend die knapp verpasste absolute Mehrheit betasten oder sich als Oppositionsparteien SPD und Grüne vor dem Anruf der Bundeskanzlerin fürchten, weil sie ahnen, was ihnen in einer Koalition drohen könnte/wird, versuchen alle möglichen Akteure ihre Anliegen und Inhalte in und über die Medien in das politische Grundrauschen einzuspeisen, damit sie bei den irgendwann dann doch anstehenden Koalitionsverhandlungen Berücksichtigung finden können. Und das angesichts der Bedeutung, die das Thema bei den Noch-Oppositionsparteien hat, in diesen Verhandlungen der Mindestlohn eine wichtige, symbolhafte Bedeutung bekommen wird, erscheint nun wirklich sehr plausibel.

Die Ausgangslage ist relativ einfach: Es geht um zwei Grundsatzfragen, die entschieden werden müssen:

  1. Soll es einen einheitlichen, gesetzlichen Mindestlohn geben, der quer über alle Branchen und Regionen Gültigkeit hätte oder doch eher ein System von zahlreichen nach Branchen und Regionen ausdifferenzierten Lohnuntergrenzen, die von den Tarifparteien zu vereinbaren wären, aber nur da, wo derzeit keine wie auch immer gearteten tariflichen Regelungen existieren?
  2. Und wenn es einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn geben würde, welche Höhe soll denn dieser allgemeine Mindestlohn haben? 8,50 Euro, 10 Euro gar – oder doch lieber erst mal deutlich unter diesen in der öffentlichen Debatte bereits gesetzten Werte bleiben?

Immer mehr in den Hintergrund rückt die bislang dominierende Grundlinie des Streits über den Mindestlohn an sich: Auf der einen Seite die Apologeten einer „Mindestlohn-löst-ganz-viele-Probleme“-Erwartungshaltung, auf der anderen Seite die Funktionäre der Wirtschaft wie auch großer Teile des deutschen Establishments der Wirtschaftswissenschaft, die mit der Einführung eines Mindestlohns den Teufel höchstselbst vor unserer Haustür klingeln sehen und teilweise – wie der Herr Sinn vom ifo-Institut – millionenfache Jobverluste im Kaffeesatz gefunden haben. Angesichts der neuen Machtverhältnisse seit der Bundestagswahl und der aus ihr entspringenden Zwangsläufigkeit einer wie auch immer gefärbten Koalition von Frau Merkel mit den Roten oder Grünen wird auch den Teufelsaustreibern klar sein, dass der Mindestlohn kommen wird. Also macht es Sinn, die Argumentationskraft zu fokussieren auf die letztendliche Höhe dieser Regulierung des Preises für den Faktor Arbeit.

So muss man dann wohl auch die neue Studie des DIW verstehen und einordnen, über die heute schon auf Spiegel Online berichtet wird, obgleich sie erst morgen der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll. Die Hauptbotschaft wird folgendermaßen zusammen gefasst: »Die möglichen Koalitionspartner der Union wollen einen Mindestlohn von 8,50 Euro. Doch der könnte laut einer DIW-Studie kleine Betriebe in Schwierigkeiten bringen und die Zahl der Minijobs steigen lassen. Die Forscher empfehlen, niedriger einzusteigen.« Das DIW konstatiert auf der einen Seite, dass die Einführung einer Untergrenze von 8,50 Euro demnach wie gewünscht die Ausbreitung von Niedriglöhnen in bestimmten Branchen bremsen könnte, ohne international tätige Unternehmen in ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden. Auf der anderen Seite wird hervorgehoben, dass insbesondere Kleinste- und Kleinbetriebe von einem Mindestlohn in dieser Höhe getroffen werden und versuchen müssen, die damit verbundenen höheren Kosten an die Verbraucher in Form höherer Preise weiterzureichen.

Zwar würden nach den DIW-Berechnungen immerhin 17% der Arbeitnehmer unmittelbar in Form höherer Stundenentgelte profitieren, aber zugleich wird darauf hingewiesen, dass – angeblich – nur etwa ein Viertel der zusätzlichen Lohnsumme in der Haushaltskasse ankommen wird. Das DIW betont außerdem, dass auch das Aufstocker-Phänomen größtenteils nicht wirklich gelöst wird, denn die Mehrheit der Aufstocker im Grundsicherungssystem gehen einer geringfügigen Beschäftigung nach – allerdings, das taucht in dem Beitrag nicht auf, würde der systematischen Subventionierung von Niedrigstlöhnen über Steuermittel ein gewisser Riegel vorgeschoben werden können.
Die DIW-Forscher befürchten deshalb, dass Arbeitgeber noch häufiger Minijobs anbieten würden. „Die Abkehr von Normalarbeitsverhältnissen zulasten der Sozialversicherungen könnte einen neuen Schub erhalten“, so ein Zitat aus der noch nicht veröffentlichten Studie – was allerdings auch so gelesen werden kann, dass man sich ja mal Gedanken machen könnte über die (Un-)Sinnhaftigkeit der Minijobs in der heutigen Form an sich.

Immerhin: „Es gibt keine eindeutigen Belege dafür, dass ein Mindestlohn zu Arbeitsplatzverlusten führt“, so die DIW-Studie.

Aber das DIW gibt sich pragmatisch: Die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns sei ein „Feldexperiment“, das vorsichtig begonnen werden sollte. Es wird dafür plädiert, etwas tiefer als bei 8,50 Euro einzusteigen, eventuell bei sieben Euro. „Dann sollte man die Dosis langsam erhöhen – wenn es funktioniert.“

Während das DIW das große Menetekel Arbeitsplatzabbau für weitgehend gegenstandslos erklärt (wenn man es denn nicht übertreibt mit der Höhe), wirft Johannes Pennekamp in der FAZ genau diese Frage bereits in seiner Artikelüberschrift erneut auf den Markt: „Vernichten Mindestlöhne Arbeitsplätze?“ Und auch er bezieht sich bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, auf Studien, denn »die wissenschaftlichen Arbeiten, die die tatsächliche Wirkung strikter Lohnuntergrenzen untersucht haben, ergeben ein sehr viel differenzierteres Bild. In mehreren empirische Studien aus dem Ausland konnten keine negativen Beschäftigungseffekte festgestellt werden.«
Er verweist am Anfang seines Beitrags auf ein derzeit von den Mindestlohn-Gegnern gerne zitiertes Negativbeispiel:

»Als Musterbeispiel dafür, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten oder den Einstieg in den Arbeitsmarkt von vornherein verhindern, gilt Frankreich. Der Mindestlohn betrug dort zuletzt 9,43 Euro, die Arbeitslosigkeit der 15 bis 24 Jahre alten Franzosen betrug im vergangenen Jahr nach OECD-Angaben beinahe 24 Prozent. Eine Reihe wissenschaftlicher Studien sieht einen direkten Zusammenhang … Und die französischen Ökonomen Peirre Cahuc und Stéphane Carcillo kamen im vergangenen Jahr zu dem Schluss, dass ein einprozentiger Anstieg der Arbeitskosten die Beschäftigung unter den Geringqualifizierten um ein Prozent reduziere.«

Aber wo das Schlechte verweilt, da ist das Gute nicht weit. Es gibt eben auch Positivbeispiele:

»Für Schlagzeilen sorgte vor zwei Jahren eine Studie aus den Vereinigten Staaten, in der Arbeitsmarktforscher der Eliteuniversität Berkeley zu dem Schluss kommen, das Mindestlohnerhöhungen „starke Verdiensteffekte und keine Beschäftigungseffekte“ nach sich ziehen. Aus der Masse empirischer Mindestlohnstudien ragte die Arbeit heraus, da die Forscher nicht nur isoliert zwei Regionen  – eine mit und eine ohne Mindestlohn – über einen kurzen Zeitraum miteinander verglichen. Sie betrachteten stattdessen Regionen im ganzen Land und griffen auf Daten aus einzelnen Counties (Landkreise) zurück. Da der Untersuchungszeitraum auf 16 Jahre ausgedehnt wurde, konnten auch Langzeitfolgen eingeführter oder erhöhter Mindestlöhne betrachtet werden. Am positiven Fazit der Forscher änderte das nichts.«

Auch  aus Großbritannien, einem Land, in dem seit vielen Jahren ein flächendeckender Mindestlohn existiert, werden positive Studienergebnisse berichtet. Und die haben mit der „Low Pay Commission“ auch ein durchaus interessantes und vor allem schlankes Verfahren der Festlegung der Mindestlohnhöhe gefunden, bei dem gerade die tatsächlichen Arbeitsmarkteffekte umfassende Berücksichtigung finden.

Wir dürfen gespannt sein, wie die Mindestlohndiskussion in die Koalitionsverhandlungen rein geht und wie sie wieder raus kommen wird.

Ab Montag muss (wieder) gearbeitet werden: Sozialpolitische Themen und Baustellen für die kommende Legislaturperiode

Wie auch immer die genaue Regierungskonstellation in der vor uns liegenden Legislaturperiode aussehen wird – die Akteure werden mit einigen großen sozialpolitischen Baustellen konfrontiert sein, denen man nicht auf Dauer wird ausweichen können. Schon viel zu lange wurden und werden wichtige Grundsatzentscheidungen auf die lange Bank geschoben und auch die um sich greifende Seuche einer „Playmobil-Sozialpolitik“ (zu denen ich solche Kreationen wie das Betreuungsgeld oder den Pflege-Bahr zähle) erschweren objektiv die Aufgabenstellung, wieder mehr Ordnung in die sozialpolitischen Systeme zu bringen, denn immer mehr problematische Schnittstellen werden produziert, die zu teilweise skurrilen Folgen führen, die dann erneute Partikular-Maßnahmen auslösen.

Insofern stellt sich anlässlich der Bundestagswahl die – natürlich nur in sehr groben Linien skizzierbare – Frage, mit welchen grundsätzlichen Themen und Arbeitsaufträgen sich die neue Bundesregierung wird auseinandersetzen müssen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen im folgenden Beitrag einige große Schneisen in das sozialpolitische Dickicht geschlagen werden.

Eine der wichtigsten
Herausforderungen betrifft die Pflege. Und dies nicht nur im Sinne einer
sofortigen Engführung auf die sicher sehr wichtige Pflegeversicherung und deren
Weiterentwicklung bzw. Umbau. Damit soll angedeutet werden, dass für die
Sicherstellung und nachhaltige Gewährleistung einer menschenwürdigen Pflege zur
Kenntnis genommen werden muss, dass diese Mega-Aufgabe nicht in oder von einem
System bewältigbar ist, sondern das kann praktisch nur in einem vielgestaltigen
Mix in konkreten sozialräumlichen Bezügen geleistet werden, wo die Leistungen
der Pflegeversicherung eine wichtige, aber eben nur eine anteilige Rolle
spielen. In diesem Kontext wird es um höchst komplexen Fragen der
Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen gehen müssen, also neben der
stationären und häuslich-ambulanten Pflege die Entstehung und
Ausdifferenzierung zahlreicher neuer Formen der Pflege und Betreuung. Bereits
heute müssen die Bundesländer Antworten geben, wie sie denn neben den
„klassischen“ Heimen und Pflegediensten mit Wohngemeinschaften und anderen
Formen umgehen wollen. In diesem Zusammenhang wird eine der großen Aufgaben der
vor uns liegenden Jahre der Auf- und Ausbau von Tageseinrichtungen gerade für
die vielen Menschen am Anfang oder im mittleren Stadium einer demenziellen
Erkrankung sein – und an diesem Beispiel kann man zugleich zeigen, was
besonders Not tut in der höchst versäulten und aussegementierten
Soziallandschaft: Feldübergreifendes, vernetztes Denken. Konkret: Von den
Erfahrungen, die wir in vielen Jahrzehnten mit der Tagesbetreuung für Kinder
und aktuell gerade mit der von sehr kleinen Kindern gemacht haben, für die
notwendigen Strukturen und Prozesse für die älteren Menschen lernen,
idealerweise die Strukturen verbinden und einer gemeinsamen Nutzung zuführen.
Im Ergebnis bedeutet das alles, dass wir eine starke Rolle der Kommunen in
diesen Bewältigungsprozessen brauchen werden.

Für den Sozialpolitiker
keine Frage: In der neuen Legislaturperiode müssen endlich die jahrelangen
Vorarbeiten zur Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsgesetzes in die
Wirklichkeit gehoben werden. Weitere Verzögerungen seitens der Politik müssen
als vorsätzliches Handeln bezeichnet und skandalisiert werden. Das bedeutet
natürlich auch eine Mittelaufstockung für den Bereich der Pflege – auch und
gerade in Verbindung mit der unbedingt erforderlichen Verbesserung der
Arbeitsbedingungen für die Professionellen in diesem Feld, womit nicht nur eine
bessere Vergütung, sondern auch bessere Personalschlüssel gemeint sind. Das
wird – man kann es drehen und wenden wie man will – keine billige oder gar
„aufkommensneutrale“ Angelegenheit werden.
Darüber hinaus wird man
um eine offene Grundsatzdiskussion über die Existenz und konkrete Ausgestaltung
der sozialen Pflegeversicherung nicht herum kommen, hier gemeint im Sinne einer
Infragstellung der Separierung von Pflege- und Krankenversicherung. Man wird in
der alternden Gesellschaft die Frage stellen dürfen und müssen, ob es
angesichts der vielen fließenden Übergänge und der bereits heute bestehenden
und vielseits beklagten Verschiebebahnhöfe zwischen den beiden
Versicherungszweigen nicht sinnvoller wäre, beide Systeme zu integrieren in
einem neuen Sicherungsgebilde.
Wenn wir schon an der
Schnittstelle zur Gesetzlichen Krankenversicherung und damit mittendrin im
großen Formenkreis der Gesundheitspolitik sind, dann kann man auch hier einige
Hinweise geben. Weiter und mit zunehmender Dringlichkeit wird es um die Frage
nach der (Nicht-)Zukunft des dualen Krankenversicherungssystems gehen. Man kann
parteipolitische Kampfbegriffe wie „Bürgerversicherung“ entsorgen – aber die
grundsätzliche Frage nach der Sinnhaftigkeit oder ganz unideologisch nach der
Überlebensfähigkeit des privaten Krankenversicherungssystems werden sich nicht
in Luft auflösen. Die Zeichen stehen auf einen Systemwechsel und man sollte das
lieber früher als zu spät machen. Darüber hinaus stellen sich weitere große
Herausforderungen, beispielsweise im Bereich der Krankenhausfinanzierung. Auch
hier darf und muss man systemische Fragen stellen, so nach der Notwendigkeit
und Möglichkeit eines sektorübergreifenden Finanzierungssystems. Vor dem
Hintergrund der Sicherstellungsprobleme, die wir heute schon und zunehmend
haben auch aufgrund der immer noch starren Trennung zwischen ambulanter und
stationärer Versorgung wird man sich nicht nur modellhafte, sondern
systematische Gedanken machen müssen über die (Nicht)Zukunftsfähigkeit der
ärztlichen Einzelpraxen und mutigerer Schritte hin zu neuen Versorgungsformen.
Damit unlösbar einhergehend brauchen wir endlich eine systematische Entwicklung
des weiten Feldes der Gesundheitsberufe neben den Ärzten, hier gemeint im Sinne
einer systematischen Aufwertung und auch größerer Delegation bislang ärztlicher
Leistungen an anderer Berufsgruppen. Anders werden sich die Versorgungsaufgaben
gar nicht lösen lassen. Das ganze Thema ist komplex und besonders vermint
aufgrund der erheblichen Interessenkonflikte und Machtspielereien. Eigentlich
notwendig wäre die gemeinsame Ausbildung der Gesundheitsberufe an einer
„Medical School“, um die Homogenisierung des Arztberufs schon während des
Studiums aufzubrechen.
Kommen wir zu einer
weiteren Großbaustelle (und das hoffentlich nicht im Sinne von Stuttgart 21
oder dem angeblich im Bau befindlichen Berliner Großflughafens): Arbeitsmarkt
und Arbeitsmarktpolitik. Hier besteht ganz offensichtlich einer erheblicher
Bedarf an einer umfassenden Ordnungspolitik und diese gerade nicht nur
beschränkt auf die unteren Etagen des Arbeitsmarktes. Das kann man am höchst
aktuellen Beispiel der zunehmenden Instrumentalisierung von Werk- und
Dienstverträgen verdeutlichen, von denen eben nicht „nur“ osteuropäische
Wanderarbeiter in den deutschen Billigschlachthöfen betroffenen sind, sondern
die sich immer mehr in die Kernbereiche der Belegschaften hineinfressen, man schaue
sich beispielsweise nur die Situation vieler Ingenieure in der
Automobilindustrie an. Die Re-Regulierung der Leiharbeit und die Regulierung
der Werkverträge werden sicher eine prominente Rolle in der kommenden
Legislaturperiode bekommen. Daneben geht es um eine grundsätzliche kritische
Infragestellung der 450-Euro-Jobs gerade angesichts der Verwüstungen, die diese
Beschäftigungsform in vielen Frauenbiografien anrichtet. Es geht natürlich auch
um die hoch aufgeladene Frage nach einem Mindestlohn bzw. ganz vielen einzelnen
Lohnuntergrenzen. Hier sollte man von den Erfahrungen in anderen Ländern
lernen. Aber „nur“ mit einem Mindestlohn bzw. darauf aufsetzend vielen
branchenbezogenen Mindestlöhnen alleine wird es nicht getan sein. Man wird auch
über die Struktur und den Verbindlichkeitsgrad des Tarifsystems nachdenken
müssen, beispielsweise über eine wieder stärkere Nutzung des Allgemeinverbindlichkeitsinstrumentariums.
Eine zentrale Erkenntnis aus vielen Jahren Befassung mit dem Arbeitsmarkt
lautet: Keine Engführung auf nur partikulare Regulierungsversuche, die – siehe
derzeit die Erfahrungen mit der „Verteuerung“ der Leiharbeit – sofort zu
Ausweichreaktionen bei einem Teil der Unternehmen führen werden.

Wenn wir von Arbeitsmarkt
und Arbeitsmarktpolitik reden, dann können und dürfen wir vom
Grundsicherungssystem nach dem SGB II nicht schweigen – außer man gibt sich der
leider gar nicht so selten anzutreffenden Selbstillusionierung hin, wir haben
Vollbeschäftigung und das Arbeitslosigkeitsproblem werde sich jetzt gleichsam
biologisch durch Verschwinden dieser Spezies „lösen“. Dem ist nicht so und das
wird auch nicht passieren. Ganz im Gegenteil haben wir bereits in den
zurückliegenden Jahren eine massive Polarisierung in diesem Bereich sehen
müssen. Dies in dem Sinne, dass sich die Situation für viele Menschen, die nur
kurzfristig arbeitslos sind, tatsächlich deutlich verbessert hat, während
gleichzeitig eine massive Verhärtung der Langzeitarbeitslosigkeit im
Grundsicherungssystem festzustellen ist. Gleichzeitig sind die zur Verfügung
stehenden finanziellen Mittel sowie – eigentlich noch schlimmer – die
förderrechtlichen Rahmenbedingungen für eine Arbeitsmarktpolitik, die sich vor
allem auf den harten Kern der Langzeitarbeitslosen bezieht, erheblich
schlechter geworden. In diesem Teilbereich wird eine der dringlichsten Aufgaben
eine umfassende Reform der öffentlich geförderten Beschäftigung sein, wenn man
nicht jeden Rest von Teilhabeorientierung für die von Langzeitarbeitslosigkeit
betroffene Menschen entsorgen will. Entsprechend ausgearbeitete und gut
begründete Reformkonzepte für eine öffentlich geförderte Beschäftigung, die den
Erwartungen und Notwendigkeiten der besonderen Zielgruppe entsprechen würde,
liegen seit Jahren vor. Ganz offensichtlich haben wir hier neben
Systemproblemen innerhalb des SGB II vor allem ein normatives oder sagen wir es
deutlicher: ein ideologisches Problem.

Zum Thema Arbeitsmarkt
und Arbeitsmarktpolitik gehören aber auch immer konfliktärer werdende
systematische Fragen im Bereich der Ausbildung, sowohl an der ersten Schwelle,
also beim Übergang von der Schule in den Beruf, wie auch insgesamt beim
Verhältnis von dualer bzw. fachschulischer Berufsausbildung und der immer
stärker werdenden Akademisierung in unserer Gesellschaft. Eines der größten
Herausforderungen in den vor uns liegenden Jahren wird die Bewältigung des
doppelten Drucks auf das gewachsene System der dualen Berufsausbildung sein,
also dass immer mehr junge Menschen nicht nur formal die Hochschulreife
erwerben, sondern auch ein Studium aufnehmen, während gleichzeitig eine Öffnung
der Berufsausbildung nach unten, also in Richtung der „leistungsschwächeren“
Jugendlichen aufgrund der kognitiven Aufladung viele Berufsbilder schwer,
manchmal gar nicht möglich ist. Diese strukturellen Herausforderungen des
dualen Berufsausbildungssystems verbinden sich mit der demografischen
Entwicklung, die zu einer erheblichen Angebots-Nachfrage-Verschiebung
zuungunsten der Unternehmen geführt hat, die sich in den vor uns liegenden
Jahren weiter verstärken wird. Die bereits heute erkennbare und – wenn sich
nichts grundlegendes ändert – weiter zunehmende Schwächung des dualen
Berufsausbildungssystems wird sich besonders negativ bemerkbar machen, weil
zahlreiche Handwerker und Facharbeiter, die heute das Rückgrat der deutschen
Volkswirtschaft bilden, demnächst altersbedingt in den Ruhestand gehen werden. Der
vielbeschworene Fachkräftemangel wird weniger einer der akademischen Berufe
sein, sondern sich im Handwerk und im mittleren Segment der deutschen Industrie
abspielen. Aber selbst innerhalb des Hochschulsystems gibt es erhebliche
Zweifel an dem bislang eingeschlagenen Weg, als Stichwort sei hier nur die
Bologna-Reform genannt. Ganz offensichtlich haben die deutschen Hochschulen den
Systemwechsel, der mit der Bologna-Reform verbunden ist, dergestalt umgesetzt,
dass die Bachelor-Studiengänge in einer unglaublichen Heterogenität
ausgestaltet werden, teilweise mit einer extremen Hyper-Spezialisierung, die
möglicherweise den aktuellen, kurzsichtigen Interessen einer Branche oder
zuweilen nur einzelner Unternehmen entsprechenden mag, was sich aber mittel-
und langfristig bitter rächen kann hinsichtlich der Beschäftigungsfähigkeit der
so ausgebildeten jungen Menschen.
Wenn wir über
Berufsausbildung und Hochschulbildung sprechen, dann sind wir im großen
Formenkreis von Bildung und Betreuung angekommen. Hier dominierten in den
vergangenen Jahren der Ausbau der Kindertageseinrichtungen und der
Kindertagespflege, Stichwort: Ausbau der Betreuungsangebote für die unter
dreijährigen Kinder, die Diskussion. Nach der formalen Inkraftsetzung des
Rechtsanspruchs auf ein Betreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr
muss es in den vor uns liegenden Jahren um eine „Aufpolsterung“ der
Kindertageseinrichtungen und der Kindertagespflege gehen. Dies meint eine
deutliche Verbesserung der strukturellen Rahmenbedingungen in den Einrichtungen
und in der Tagespflege, also vor allem hinsichtlich der Personalschlüssel sowie
der Arbeitsbedingungen für die dort arbeitenden Fachkräfte. Angesichts der
besonderen Bedeutung einer qualitativ hochwertigen Bildung, Betreuung und
Erziehung für die Kleinkinder ist es unausweichlich, dass die seit langem
diskutierten und wissenschaftlich abgesicherten Qualitätsanforderungen in einem
bundesweiten Qualitätsgesetz für den Kita-Bereich normiert werden, dies auch
vor dem Hintergrund der erheblichen Varianz der Rahmenbedingungen zwischen den
Bundesländern. Ein auf der Bundesebene normiertes Qualitätsgesetz für diesen
Bereich würde zugleich die dringend notwendige Finanzierungsreform
vorantreiben. Hier muss es um eine regelhafte Beteiligung des Bundes an den
laufenden Kosten der Kindertagesbetreuung gehen. Diese hier nur anzudeutenden
offenen Strukturprobleme im Bereich der Kindertagesbetreuung pflanzen sich fort
im Schulsystem, das mit den gleichen föderalen Problemen durchsetzt ist. Mittlerweile
gibt es konkrete Forderungen, als nächste Stufe der Entwicklung einen
Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz verbindlich zu normieren. An dieser
Stelle muss dringend darauf hingewiesen werden, dass dies zwar ein logischer
Schritt in der Entwicklung wäre, man aber auf keinen Fall die gleichen Fehler
wie bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für die
kleinen Kinder machen sollte. Dies bedeutet konkret, dass vor einem solchen
Rechtsanspruch nicht nur die finanziellen Fragen der Mittelaufbringung und
Mittelverteilung geklärt werden müssen, sondern vor allem auch die personellen
Voraussetzungen. Wer soll das machen und wie viele brauchen wir für die
Erfüllung eines solchen Rechtsanspruchs?
Gerade der Ausbau der
Kindertagesbetreuung sowie die damit zusammenhängende Einführung des unseligen
Betreuungsgeldes verweisen auf das Feld der Familienpolitik. Hier müsste jedem
unbefangenen Beobachter deutlich geworden sein, auch durch die mittlerweile
vorliegenden Ergebisse einer umfassenden Evaluierung der existierenden
familienpolitischen Leistungen, dass wir es mit einem Wirrwarr an
unterschiedlichen Leistungen, vor allem Geldleistungen, zu tun haben, die
dringend einer systematischen Neuordnung bedürfen, dies zu einem im Sinne einer
zielorientierten Zusammenlegung der vielen einzelnen Leistungen. Zum anderen
muss vor dem Hintergrund der erschreckenden „Infantilisierung“ der Armut über
die Einführung einer Kindergrundsicherung diskutiert werden. Die Einführung
einer solchen Kindergrundsicherung hätte übrigens erhebliche positive
Auswirkungen in anderen Teilbereichen der Sozialpolitik, man denke hier an die
zahlreichen Aufstocker im Grundsicherungssystem, von denen viele deswegen
aufstocken müssen, weil der bestehende Familienlasten- und -leistungsausgleich
defizitär ist.
Gerade für die finanziell
schwach aufgestellten Familien wird sich das Themenfeld Wohnen als neue soziale
Frage in den vor uns liegenden Jahren besonders schmerzhaft ausformen. Hier
wird es in der nächsten Legislaturperiode deutliche Eingriffe in den
Wohnungsmarkt geben müssen, die allerdings recht komplex und mit zahlreichen
Nebenwirkungen versehen sein werden. Dies gilt vor allem für Instrumente, die
derzeit von den politischen Akteuren besonders gerne diskutiert werden,
beispielsweise eine Anhebung des Wohngeldes. Die Verantwortlichen werden
eingestehen müssen, dass der massive Abbau der sozialen Wohnungsbauförderung in
den vergangenen Jahren im Zusammenspiel mit den vielen aus der Sozialbindung
herausfallenden Wohnungen dazu führen wird, dass wir eine neue
wohnungspolitische Offensive im Sinne des Baus neuer Sozialwohnungen benötigen.
In diesem Themenfeld ist auch die neue Diskussion einzuordnen, die unter dem
Stichwort „Energiearmut“ geführt wird und die im Zusammenhang mit dem Ausbau
und der Förderung der erneuerbaren Energien stehen. Die damit verbundenen
Kostensteigerungen für die Privathaushalte treffen die finanziell schwach
aufgestellten Haushalte ganz besonderes und werden das Problem der zunehmenden
Wohnungsnot weiter vorantreiben.
Auf der sozialpolitischen
Agenda kann und darf natürlich das Thema Alterssicherung und Rente nicht fehlen. Hier
erleben wir bereits derzeit und in den kommenden Jahren immer stärker die
Zuspitzung der „Systemfrage“ in der Gesetzlichen Rentenversicherung aufgrund
der zahlreichen Rentenreformen in der Vergangenheit, insbesondere die Eingriffe
der damaligen rot-grünen Bundesregierung um die Jahrtausendwende. Mit
Systemfrage ist an dieser Stelle gemeint, dass die zentralen
Konstruktionsprinzipien der Funktionsfähigkeit der umlagefinanzierten
gesetzlichen Rentenversicherung durch die Rentenreformen, aber auch durch die
gesellschaftlichen Veränderungen fundamental infrage gestellt werden. Denn die
immer mehr zu einer Kunstfigur werdende Person des deutschen „Eckrentners“, der
45 Jahre lang immer und ohne Unterbrechungen Beiträge auf der Basis des
durchschnittlichen Arbeitseinkommens eingezahlt hat (und der derzeit daraus
eine Brutto-Monatsrente in Höhe von etwas mehr als 1.100 € erhält), wird
zunehmend abgelöst von Menschen, die aufgrund ihrer brüchigen Erwerbsbiografien
und/oder niedriger Arbeitsentgelte diese Voraussetzungen nicht mehr werden
erfüllen können. In Verbindung mit der massiven Absenkung des Rentenniveaus
durch die so genannten Rentenreformen wird hier der Marsch in die Altersarmut
für sehr viele ältere Menschen, vor allem für Menschen aus dem
Niedriglohnbereich, unausweichlich, wenn sich nicht grundlegendes mehr an der
Mechanik des Rentensystems ändert. In der kommenden Legislaturperiode muss
verhindert werden, dass es zu einer Verengung auf eine „Lösung“ gibt, die den
betroffenen Menschen eine Rente garantieren will, die gerade etwas über der
Grundsicherung im Alter liegt, die auch die bekommen, die ihr Leben lang nicht
gearbeitet haben. Hier muss es zu einem Lösungsansatz kommen, der deutlich über
diesem minimalistischen Ansatz liegt. Ein Blick in andere Länder, hier
beispielsweise der Schweiz mit ihrer Basisrente in einem stark umverteilenden
Alterssicherungssystem, wäre hilfreich.
Auch die teilweise recht
problematischen Entwicklungen im Bereich der privaten Altersvorsorge, die mit
Milliarden Steuermitteln gefördert wird, also die „Riester-Rente“ wie aber auch
die Entgeltumwandlung im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge, gehören in
der kommenden Legislaturperiode auf dem Prüfstand. Insgesamt – das zeigen auch
die Erfahrungen der Länder mit starken kapitalgedeckten
Alterssicherungssystemen im Gefolge der Finanzkrise und der nun schon seit
Jahren und absehbar weiter anhaltenden Niedrigzinswelt – muss es um eine
deutliche Stärkung der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung
gehen.
Eine besondere
Herausforderung wird in den kommenden Jahren vor dem Hintergrund der deutlichen
Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters (Stichwort: Rente mit 67) die
Lösung des Problems darstellen, dass es viele Menschen gibt, die tatsächlich
nicht in der Lage sind bzw. sein werden, das gesetzliche Renteneintrittsalter
erreichen zu können. Hier müssen flexible Lösungen für eine adäquate
Absicherung der Betroffenen gefunden werden.
Wenn wir über
Alterssicherung sprechen, dann sprechen wir immer auch über eine eigenständige
Säule der Alterssicherung in Deutschland, also die Pensionen für die Beamten.
Hier nun sind wir nicht nur mit einer generellen Zunahme der Pensionäreund der
damit verbundenen Pensionsverpflichtungen, die auf dem laufenden
Steueraufkommen gedeckt werden müssen, konfrontiert, sondern vor allem mit
einem großen Sprengsatz für die Haushalte der Bundesländer. Denn die meisten
Beamten, dann denke hier an die vielen Lehrer, Polizisten, Hochschullehrer,
Richter, sind Beamte der Bundesländer. Viele von ihnen wurden in den 1970er
Jahren eingestellt und viele von ihnen werden in den kommenden Jahren in die
Pension wechseln. Unter sonst gleichbleibenden Bedingungen würde diese
Entwicklung die meisten Länderhaushalte komplett paralysieren.
Nein, die notwendige dem
Palette für die vor uns liegenden Jahre ist noch nicht abgearbeitet. Ebenfalls
eine Mega-Baustelle wird der gesamte Bereich der so genannten Inklusion
darstellen. Die Diskussion über die Umsetzung von Inklusion wird in Deutschland
sehr schullastig geführt, was vor dem Hintergrund des stark separierenden
Schulsystems bei uns, Stichwort Förderschulen, auch nicht überrascht. Alleine
die Umsetzung von inklusiven Ansätzen in den Schulen wird zu einer herkulischen
Aufgabe werden. Aber darüberhinaus betrifft die Inklusion weitaus mehr Bereiche
als nur die Schule. Es geht um eine umfassende Teilhabeorientierung und die
lässt sich eben nicht begrenzen auf die Frage der Inklusion behinderter Kinder
und Jugendliche in unsere Regelschulen, sondern sie strahlt aus in viele andere
Bereiche, man denke hier nur an die Arbeitswelt.
Und mit einer gewissen
Zuspitzung kann man eine weitere, ebenfalls nur in Querschnitten bearbeitetbare
Aufgabe als eine inklusive wahrnehmen: Gemeint ist hier das gesamte Feld der
Integration von „Menschen mit Migrationshintergrund“, wie das heute oftmals
etwas verquast genannt wird. Und die Aufgaben, die sich hier zum einen mit
Blick auf die in unserem Land bereits teilweise seit vielen Jahren lebenden
Menschen stellen, wie auch angesichts des erwartbaren Zuwanderungsdrucks vor
dem Hintergrund des großen Wohlstandsgefälles innerhalb der Europäischen Union,
sind enorm. Hinzu kommt erwartbar eine wieder deutlich ansteigende Zahl an
Flüchtlingen und Asylbewerbern aufgrund der großen Wanderungsströme, die wir
beobachten müssen.
Wer bis zu dieser Stelle
durchgehalten hat, der wird sicherlich überwältigt sein von der
Vielgestaltigkeit der sozialen Aufgaben und Herausforderungen, die
thematisiert, eingeordnet, bearbeitet oder wenigstens zur Diskussion gestellt
werden müssten. All diese Themen und Aufgaben und offenen Fragen treffen nun
zum einen auf zahlreiche versäulte Institutionen, die nachvollziehbarerweise
ihr Eigenleben führen und an ihrer Existenzberechtigung arbeiten, auf der
anderen Seite ist auch der sozialpolitische Sach- und Fachverstand in einem
zunehmenden Maße kleinteilig strukturiert. Ganz offensichtlich fehlt es nicht
nur innerhalb der Politik, sondern auch und gerade in der Wissenschaft und
Beratung an ganzheitlich ausgerichteter sozialpolitischer Expertise. Je
komplizierter aber die gewachsenen Teilsysteme geworden sind, je mehr Anreicherungen
stattfinden, und je stärker die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen
Teilsystemen ist, umso störungsanfälliger wird das gesamte Sozialsystem. Dies
lässt sich ab einem bestimmten Komplexitätsgrad natürlich nicht vermeiden oder
gar aufheben, aber wir brauchen dringend ein stabiles Netzwerk für eine
umfassende sozialpolitische Begleitung dieser ineinander verschachtelten
Prozesse.

In diesem Kontext gehört
auch die Forderung, die bestehende und äußerst asymmetrische
Kosten-Nutzen-Wahrnehmung der Sozialpolitik und ihrer Leistungen vom Kopf auf
die Füße zu stellen: Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass gegenwärtig
Sozialpolitik und soziale Leistungen fast ausschließlich als Kostenproblem
wahrgenommen werden. Viel zu wenig und in nicht wenigen Fällen sogar gar nicht
berücksichtigt werden aber die Nutzeneffekte, die wir durch diese Leistungen
generieren beziehungsweise ermöglichen. Wenn es uns in den kommenden Jahren
nicht weitaus stärker als bisher gelingt, eine „richtige“, zumindest eine korrekterer Kosten-Nutzen-Betrachtung
der Sozialpolitik und der dort geleisteten Arbeit, durchaus auch in einer
monetarisieren Art und Weise, also in Geldeinheiten ausgedrückt, zu entwickeln
und zu kommunizieren, dann werden die aus einer gegebenen Haushaltslogik
abgeleiteten reflexartigen Angriffe auf die Substanz vieler sozialpolitischer
Handlungsfelder noch mehr an Gewicht gewinnen.