Werkverträge als echtes Problem für Betriebsräte und Gewerkschaft. Und eine „doppelte Tariffrage“ für die IG Metall

Während sich die Medien untereinander über die Abgas-Probleme des VW-Konzerns austauschen und ihr Augenmerk auf Personalien richten wie den Rücktritt des VW-Vorstandsvorsitzenden Winterkorn, war heute eine Menge los in den Produktionsstätten der deutschen Automobil-Industrie, eines der wichtigsten Branchen der deutschen Volkswirtschaft. Denn die IG Metall hatte zu einem bundesweiten Aktionstag gegen Werkverträge aufgerufen. Dazu aus der Berichterstattung beispielsweise Beschäftigte protestieren gegen Werkverträge in der Autoindustrie oder an anderer Stelle  Protesttag gegen Werkverträge. Und was sagt die Gewerkschaft selbst?  Gemeinsam gegen die Billig-Strategie der Arbeitgeber, so hat die IG Metall ihre Pressemitteilung dazu überschrieben: »Mehrere zehntausend Beschäftigte von Automobilherstellern und Zulieferern senden beim bundesweiten Automobil-Aktionstag der IG Metall gegen den Missbrauch von Werkverträgen eine deutliche Botschaft an Arbeitgeber und Politik: Wir lassen uns nicht spalten!« Der IG Metall-Vorsitzende Detlef Wetzen stellte zugleich klar, dass die IG Metall nicht grundsätzlich gegen Werkverträge sei, „sondern gegen die Werkverträge, die ausschließlich dazu genutzt werden, um Löhne zu senken und Arbeitsbedingungen zu verschlechtern.“ Mehr als 150.000 Arbeitsplätze in der Automobilbranche in den Bereichen Industrielogistik, Entwicklungsdienstleistung und Industrieservice seien bereits über Werkverträge ausgelagert.

Und was fordert die Gewerkschaft? Es sind vor allem zwei Punkte, die heute vorgetragen wurden:
Schluss mit der Auslagerung von Tätigkeiten, die zum Kerngeschäft eines Unternehmens gehören und unvermeidbare Auslagerungen nur an Dienstleister mit IG Metall-Tarifen und Betriebsräten. Die letzte Forderung berührt die „erste“ Tariffrage, vor der die Metallgewerkschaft steht. Gerade in der Automobilindustrie hat die IG Metall sehr hohe Organisationsgrade unter den Beschäftigten und entsprechende Einflussmöglichkeiten. Bei vielen Zulieferern und Werkvertragsunternehmen sieht das ganz anders aus, da gibt es oft noch nicht einmal einen Betriebsrat. Mindestens 44 Prozent der beauftragten Werkvertragunternehmen haben keine Tarifverträge, kann man dem Artikel Protesttag gegen Werkverträge entnehmen. Da sind wir schon bei der ersten „Tariffrage“ für die IG Metall. Deren Aktivitäten zum Thema Werkverträge kann und muss man auch als ein Signal an die Werkvertragsunternehmen verstehen, dass auch dort tarifvertragliche Regelungen gelten sollen. Aber es gibt noch ein anderes Problem, das die Gewerkschaft zu adressieren versucht: Ein Drittel der Werkverträge betreffen nach Gewerkschaftswahrnehmung die Produktion und damit den Kernbereich der Autoindustrie.

Bayerns IG Metall-Chef Jürgen Wechsler wird mit diesem Beispiel zitiert:

»Ein besonders dreistes Beispiel für einen Werkvertrag kennt er von BMW am Standort Dingolfing. „BMW hat dort eine Werkshalle leergeräumt und per Werkvertrag den Kontraktlogistiker Schnellecke ins Haus geholt“, sagt er. Der erledige mit 400 Leuten dort, was vorher BMW-Stammpersonal getan habe. Kontraktlogistik ist dabei ein ziemlich irreführender Begriff. Denn in dieser Branche wird weniger transportiert als vielmehr montiert. Im BMW-Beispiel werden angelieferte Teile auf dem Werksgelände zusammengeschraubt und dann an Autos montiert. Vorgesehen sind Werkverträge aber aus Sicht der IG Metall für Tätigkeiten wie das Streichen einer Werkshalle oder allenfalls noch deren Säuberung, nicht aber für die Kernarbeiten eines Unternehmens.«

Da sind wir schon bei einem zentralen Problem angekommen: Der Frage nach der Abgrenzung von „guten“ und „schlechten“ Werkverträgen. Um das an einem Beispiel zu illustrieren: Wenn man etwas anstreichen lassen will in seinem Unternehmen, dann beauftragt man eine Malerfirma und vereinbart einen Preis. Keiner würde auf die Idee kommen, dass das beauftragende Unternehmen Maler vorhalten sollte, um den vielleicht einmal im Jahr oder auch noch weniger oft anfallenden Bedarfen gerecht werden zu können – außer man kombiniert das mit anderen anfallenden Tätigkeiten, die dann von einer Person ausgeübt werden können.

Ganz anders stellt sich die Situation dar, wenn die Werkvertragsunternehmen sukzessive vordringen in den Kernbereich der Produktion, der bislang der Stammbelegschaft vorbehalten ist. Wenn es also bei einem „Logistikunternehmen“ eben nicht nur darum geht, Ware an die Pforten irgendeines Lagers zu fahren, sondern Tätigkeiten innerhalb des beauftragenden Unternehmens auszuüben. Und genau so sieht es in der Automobilindustrie mittlerweile aus, wenn man der Argumentation der Gewerkschaften folgt:

»Kontraktlogistik ist dabei ein ziemlich irreführender Begriff. Denn in dieser Branche wird weniger transportiert als vielmehr montiert. Im BMW-Beispiel werden angelieferte Teile auf dem Werksgelände zusammengeschraubt und dann an Autos montiert. Vorgesehen sind Werkverträge aber aus Sicht der IG Metall für Tätigkeiten wie das Streichen einer Werkshalle oder allenfalls noch deren Säuberung, nicht aber für die Kernarbeiten eines Unternehmens.«

Und das habe erhebliche Folgen für die Beschäftigten in den Werkvertragsunternehmen, wie der Vergleich mit der Stammbelegschaft verdeutlicht:

»Gegenüber dem Stammpersonal bekommen Beschäftigte bei Werkverträgen im Schnitt nur etwa halben Lohn, sagt Wechsler. Beim Beispiel Schnellecke in Dingolfing ist es nach Berechnung der IG Metall noch weniger. Statt tariflich 35 Wochenstunden arbeiten die auf dem BMW-Gelände Beschäftigten 40 Stunden. Sie erhalten nicht einmal halben Grundlohn, drei Tage weniger Urlaub und nur ein Drittel Urlaubsgeld. Höhere Leistungszulagen gleichen das nicht aus.«

Vor diesem Hintergrund ist der Aktionstag der IG Metall zu sehen, der sich einbettet in zahlreiche Aktivitäten dieser und anderer Gewerkschaften gegen „die“ Werkverträge. Und das bisherige Tun der IG Metall war und ist nicht ohne Erfolg.

Es tut sich was am Rand, so hat Jörn Boewe seinen Artikel überschrieben, in dem er über die Entwicklungen rund um Leipzig berichtet. Der Blick auf Leipzig ist deshalb interessant, weil sich hier ein „Automobilcluster“ entwickelt hat:

»Ein paar Kilometer nördlich von Leipzig, auf der grünen Wiese nahe der Autobahn A 14, stehen die modernsten Autofabriken Europas. BMW und Porsche bauen hier seit zehn Jahren Limousinen, Coupés, Cabrios, Geländewagen – alle im »Premiumsegment«. Niemand kann genau sagen, wie viele Menschen hier arbeiten. Der »Automobilcluster« Leipzig, wie der Produktionsstandort im Branchenjargon genannt wird, ist nach einem hochflexiblen Fertigungskonzept organisiert: Man spricht von der „atmenden Fabrik“. Gibt es viel zu tun, pumpt sie sich auf. Ist die Auftragslage mau, schrumpft sie.«

Und gerade hier finden wir auf den ersten Blick die Diagnose der Gewerkschaft bestätigt, dass die Werkvertrags-Beschäftigung immer stärker in die Kernbereiche der Produktion diffundiert:

»18.000 Menschen arbeiten nach Schätzungen der IG Metall in der Leipziger Autoindustrie, doch nicht einmal die Hälfte gehört zu den Stammbelegschaften von BMW und Porsche. Die Mehrheit sind Leiharbeiter oder bei Werkvertragsunternehmen beschäftigt, die als sogenannte produktionsnahe Dienstleister für die großen Hersteller tätig sind. Sie montieren Einzelteile und Komponenten und bringen sie „just in sequence“, in genau abgestimmter Reihenfolge, direkt an die Produktionsfließbänder von BMW und Porsche. Die Tätigkeiten sind unmittelbarer Teil der Produktion, von der sie nicht zu trennen sind.«

Die IG Metall hat nun einen Sozialreport Automobilcluster Leipzig veröffentlicht und sich die Situation der Beschäftigten genauer angeschaut. Ein Ergebnis: Fast 30 Prozent der Befragten verdienen inklusive aller Zuschläge weniger als 1.750 Euro brutto. Fast 44 Prozent sagen, ihnen fehle das Geld für Urlaub. Dabei arbeiten 90 Prozent auch an Wochenenden und Feiertagen. Das ist auch eine Folge der Tatsache, dass die Automobilindustrie den Standort Leipzig zu einem Labor für Produktions- und Arbeitszeitkonzepte gemacht habe. Dem allerdings hat sich die IG Metall gestellt. „Die harten Tarifauseinandersetzungen bei Schnellecke, Rudolph Logistik und der WISAG waren Meilensteine zu einem tariflichen Ordnungsrahmen. Lange Zeit waren die Arbeitsbedingungen bei den Kontraktlogistikern und Industriedienstleistern ungeregelt. Die Beschäftigten haben in diesen Konflikten erfahren, dass sie nicht per se prekäre Hilfskräfte an der letzten »verlängerten Werkbank« sind, sondern genauso Teil des Gesamtprozesses wie ihre Kolleginnen und Kollegen der Stammbelegschaften an den Endmontagebändern von BMW und Porsche“, so wird der IG Metall-Bezirksleiter Olivier Höbel zitiert. (Der ganze Report als PDF-Datei: IG Metall: Sozialreport Automobilcluster Leipzig. Zur Lage der Beschäftigten bei industriellen Dienstleistern. Wege zu einem gemeinsamen tariflichen Ordnungsrahmen. Frankfurt 2015).

Von den schrittweise Erfolgen der Gewerkschaft berichtet auch Jörn Boewe in seinem Artikel:

»Der Report zeigt aber auch, dass es etwa seit fünf, sechs Jahren eine Verbesserung der Situation gibt. Das Wiederanziehen der Konjunktur nach der Krise von 2008/2009 spielt dabei eine Rolle, aber auch eine veränderte Herangehensweise der Gewerkschaft. 2008 hatte sie eine großangelegte Kampagne zur Gleichstellung der Leiharbeiter gestartet und damit erstmals die »Arbeit am Rand« in den Blick genommen. In Leipzig suchten Gewerkschaftssekretäre Kontakt zu den Beschäftigten der zahlreichen Industriedienstleister und unterstützten die Wahl von Betriebsräten und Tarifkommissionen.

2010 konnte die IG Metall beim weltweit agierenden Autozulieferer Schnellecke einen Haustarifvertrag durchsetzen, was den Kollegen im Schnitt 400 Euro mehr pro Monat bedeutete. Der Durchbruch folgte zwei Jahre später beim Industrielogistiker Rudolph. Hier beteiligten sich die Beschäftigten sogar fünfmal an Warnstreiks. Weitere Tarifabschlüsse in anderen Firmen folgten. Auf diese Weise konnten Einkommenserhöhungen und kürzere Arbeitszeiten für insgesamt rund 2.400 Arbeiter durchgesetzt werden.«

Was man hier erkennen kann ist die mühsame, aber offensichtlich sukzessiv auch durchaus erfolgreiche Bearbeitung der einen Tariffrage: Wenn der Druck auf die Stammbelegschaften durch die immer stärkere Ausbreitung der Werkverträge in den Kernbereich hinein steigt, dann muss man eben die eigene Tarifpolitik auf diese vor- und nachgelagerten Bereiche ausdehnen, um das tarifpolitisch wieder in Griff zu bekommen.

Genau hier aber tut sich eine zweite Tariffrage auf. Gemeint ist die Tatsache, dass viele der Werkvertragsunternehmen der Logistik-Branche zugeordnet sind und hier gilt die Zuständigkeit einer anderen Gewerkschaft – von Verdi. Und da gibt es zunehmend Konflikte, denn die IG Metall muss immer stärker diese Zuständigkeitsgrenze überschreiten, um die ganze Wertschöpfungskette wieder unter ihr Dach zu bekommen. Das führt zu handfesten Konflikten – vgl. dazu den Beitrag Wenn unterschiedlich starke Arme eigentlich das Gleiche wollen und sich in die Haare kriegen: „Tarifeinheit“ aus einer anderen Perspektive vom 3. September 2014.

Es gibt also gute Gründe, „die“ Werkverträge zu einem Thema zu machen – allerdings sollen die Anführungszeichen verdeutlichen, dass es eben eine enorme Heterogenität der Werkverträge gibt und nicht alle können und dürfen unter dem Label „Lohndumping“ subsumiert werden. Hinzu kommt: Die Ambivalenz vieler Betriebsräte erklärt sich aus der Tatsache, dass natürlich in gewissem Maße ein Teil der schlechteren Bedingungen bei den Werkvertrags-Beschäftigten die besseren Bedingungen der Stammbeschäftigten stabilisiert. Insofern könnte am Ende des Prozesses das Ergebnis stehen, dass die IG Metall die an solchen Aktionstagen natürlich grundsätzlich beklagte Auffächerung der Tarifstruktur nach unten (aus der Perspektive des Niveaus der heutigen Stammbelegschaft) in geordneten Bahnen mitgehen wird (so meine These in dem Beitrag Outsourcing mit Folgen: Werkverträge im Visier. Die IG Metall versucht, den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen vom 1. September 2015).

Von der nun anstehenden gesetzlichen Neuregelung der Werkverträge – auch wenn sich der Aktionstag hier ausdrücklich an Berlin gerichtet hat – werden sich die Gewerkschaften außer einem Informationsrecht für Betriebsräte nicht viel erwarten dürfen. Das von ihrer Seite aus geforderte Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte wird es nicht geben. Dazu ist der Widerstand der Arbeitgeber an dieser Stelle viel zu groß und die politischen Handlungsspielräume der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) innerhalb der Großen Koalition sind zu klein bzw. gar nicht mehr vorhanden, was weitere Regulierungen angeht. Die Formulierung im Koalitionsvertrag spricht nur von Informations-, nicht aber von Mitbestimmungsrechten, so dass sich die Union hier auch nicht weiter wird bewegen müssen.

Outsourcing mit Folgen: Werkverträge im Visier. Die IG Metall versucht, den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen

Werkverträge? Da denken viele Menschen an die Ausbeutung osteuropäischer Billigarbeiter auf deutschen Schlachthöfen oder auf den vielen Baustellen im Land. Und das die Regaleinräumer in den Discountern oftmals Werkvertragskräfte sind, hat man auch schon mal gehört. Irgendwie ein Thema aus den untersten Etagen des Arbeitsmarktes, wo die Niedriglöhner arbeiten (müssen). Aber nur wenige werden vor Augen haben, dass das auch in ganz umfangreichen Maße auf hoch qualifizierte Kräfte zutreffen kann, beispielsweise auf Ingenieure in der Forschung und Entwicklung in der Automobilindustrie. Das Thema Werkverträge und ihre Ausbreitung in der Welt der Wirtschaft ist also nicht neu, aber offensichtlich – folgt man der Wahrnehmung der großen Industriegewerkschaft IG Metall, die das volkswirtschaftliche Rückgrat der deutschen Industrie beackert – nimmt die aus ihrer Sicht missbräuchliche Nutzung eines Teils der Werkverträge zum Zwecke des Lohndumping zu und deshalb fordert man die Bundesregierung auf, auf dieser Baustelle wie im Koalitionsvertrag im Grunde auch vereinbart, endlich regulatorisch tätig zu werden.

Die Art und Weise der etwas umständlichen Formulierung der thematischen Einleitung dieses Beitrages soll darauf hinweisen, dass es gar nicht so einfach ist, hier eine klare, also eindeutige Beschreibung des Problems und der möglichen Lösung vorzunehmen. Da macht es Sinn, zuerst einmal die Gewerkschaft selbst anzuhören. Die hat ihre Pressemitteilung dazu so überschrieben: IG Metall wendet sich gegen Werkverträge, die zum Lohndumping missbraucht werden. Betriebsräte-Umfrage 2015: Werkverträge ersetzen immer mehr Stammarbeitsplätze. Der kann man entnehmen: Die IG Metall kritisiert den Missbrauch – es geht jedoch nicht um das Vertragskonstrukt Werkvertrag an sich. In der Metall- und Elektroindustrie seien vor allem die Bereiche Kontraktlogistik, industrielle Services sowie Entwicklungsdienstleister betroffen, so ein Ergebnis einer Befragung von mehr als 4.000 Betriebsratsvorsitzenden. Jörg Hofmann, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, wird mit diesen Worten zitiert: „Wir kritisieren nicht die sinnvolle Arbeitsteilung zwischen dem Produzenten von Fahrzeugen oder Maschinen und Spezialisten, die hierfür Dienstleistungen anbieten: Daneben hat sich aber eine Praxis der Auslagerung entwickelt, die alleine auf Lohndumping baut, um Extraprofite einzustreichen.“ Auch hier wieder: Kein Generalangriff, sondern ein differenzierter Blick auf eine bestimmte Form der Inanspruchnahme von Werk- und Dienstverträgen.

Der Impuls der IG Metall ist in einigen Medien sofort aufgegriffen worden – berührt er doch einen Kernbereich dessen, was in der Industrie abläuft. Die WirtschaftsWoche hat ihren Artikel dazu überschrieben mit IG Metall attackiert Outsourcing in der Industrie. Und Stefan Sauer schreibt in der Berliner Zeitung: Werkverträge spalten Belegschaft in „unterschiedliche Klassen“. Er verdeutlicht gleich am Anfang seines Beitrags, warum das Thema so sperrig und eben nicht einfach in „gut“ und „böse“ zu unterteilen ist:

»Werkverträge gibt es seit mehr als 100 Jahren. Die im Bürgerlichen Gesetzbuch niedergelegten Regularien ermöglichen es Unternehmen, andere Firmen mit speziellen Aufgaben zu betrauen, etwa mit dem Betrieb von Kantinen oder der Gebäudereinigung. Insoweit sind Werkverträge in einer komplexen, arbeitsteiligen Wirtschaft nicht wegzudenken.«

Ganz anders – aus Sicht der Gewerkschaften – stellt sich das dar, wenn Leistungen, die bislang von den Stammbelegschaften erbracht worden sind, von außen billiger eingekauft werden. Genau das ist die Stoßrichtung der IG Metall, die wie erwähnt auf der Grundlage einer Befragung von mehreren tausend Betriebsratsvorsitzenden argumentiert:

»Danach werden in mittlerweile 69 Prozent der Unternehmen Arbeiten an Fremdfirmen vergeben. In einer ersten Betriebsratsumfrage 2012 waren es 60 Prozent gewesen. Besonders größere Arbeitgeber mit mehr als 1000 Beschäftigen setzten verstärkt auf Werkverträge. In gut einem Drittel dieser Betriebe wurden 2015 mehr Fremdfirmen angeheuert als 2012, in nur neun Prozent der Unternehmen kam es zu einem Rückgang.«

Nun ist die rein quantitative Zunahme gar nicht das zentrale Problem aus Sicht der Arbeitnehmervertreter, sondern der veränderte Charakter der Werk- und Dienstverträge: Ging es früher vor allem um Arbeiten, die mit dem eigentlichen Unternehmenszweck eher am Rande zu tun hatten, so sind mittlerweile häufig auch zentrale Bereiche betroffen.

Anders gesagt: Die Werk- und Dienstverträge fressen sich vom Rand rein in den Kern dessen, was die produzierenden Unternehmen tun – und tangieren damit, um einen betriebswirtschaftlichen Terminus zu verwenden, die Kernkompetenz, deren Erledigung der Stammbelegschaft bislang die vergleichsweise hohen Löhne garantiert hat.

»Die Gewerkschaft macht dies an drei Beispielen fest: In 36 Prozent der Betriebe mit mehr als 1000 Mitarbeitern seien in der Forschungs- und Entwicklung Fremdfirmen tätig. Im Fahrzeugbau liege der Anteil sogar bei 50 Prozent.
Ein Drittel der in den Unternehmen mit Logistikaufgaben betrauten Arbeitnehmer sei mittlerweile bei Fremdfirmen angestellt, 2005 habe der Anteil noch bei fünf Prozent gelegen. Und auch die Wartung und Reinigung von Maschinen werde mittlerweile nur noch zu 70 Prozent von Stammbeschäftigten erledigt, zu 30 Prozent von Werkvertragsfirmen. Diese stellen in den genannten Bereichen mehr als 100 000 Beschäftigten in der Branche.«

»In fast drei Viertel aller Fälle müssen die Beschäftigten der Werkvertragsfirmen zu schlechteren Bedingungen arbeiten als ihre Kollegen, die fest angestellt sind«, so die IG Metall in ihrer Pressemitteilung. Was das bedeutet? Längere Arbeitszeiten, weniger Urlaub, geringere Stundenlöhne und schlechtere Altersvorsorge. Und wenn man beispielsweise an die Werkverträgler in den Fertigungsstätten der deutschen Automobilindustrie denkt: Sie haben auch keinen Zugang zu den zahlreichen und aufgrund jahrzehntelanger Arbeit der Gewerkschaft erkämpfter betrieblicher Sozialleistungen und „natürlich“ profitieren sie auch nicht von den Prämien, in deren Genuss die Stammbeschäftigten kommen (können).

Nun sind diese Probleme nicht neu, sondern sie werden bereits seit längerem kritisch diskutiert – man denke hier nur an die Dokumentation Hungerlohn am Fließband – Wie Tarife ausgehebelt werden über Werkverträge bei Daimler, die im ARD-Fernsehen am 13. Mai 2013 zur besten Sendezeit (und kurz vor der Präsentation der neuen S-Klasse des Konzerns) ausgestrahlt wurde und dazu geführt hat, dass der schwäbische Weltkonzern gegen den SWR mit der Forderung auf Nicht-Verbreitung der Fernsehbeitrags und der gerichtlichen Feststellung, dass die Aufnahmen mit versteckter Kamera unzulässig seien, vor Gericht gezogen ist – bislang allerdings in zwei Instanzen erfolglos.

Der Hintergrund für die aktuellen Aktivitäten der IG Metall ist eine bislang nicht eingelöste Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag der Großen Koalition aus dem Dezember 2013. Dort findet man auf der Seite 49 die folgende Absichtserklärung:


Missbrauch von Werkvertragsgestaltungen verhindern
Rechtswidrige Vertragskonstruktionen bei Werkverträgen zulasten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern müssen verhindert werden. Dafür ist es erforderlich, die Prüftätigkeit der Kontroll- und Prüfinstanzen bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit zu konzentrieren, organisatorisch effektiver zu gestalten, zu erleichtern und im ausreichenden Umfang zu personalisieren, die Informations- und Unterrichtungsrechte des Betriebsrats sicherzustellen, zu konkretisieren und verdeckte Arbeitnehmerüberlassung zu sanktionieren. Der vermeintliche Werkunternehmer und sein Auftraggeber dürfen auch bei Vorlage einer Verleiherlaubnis nicht bessergestellt sein, als derjenige, der unerlaubt Arbeitnehmerüberlassung betreibt. Der gesetzliche Arbeitsschutz für Werkvertragsarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer muss sichergestellt werden.
Zur Erleichterung der Prüftätigkeit von Behörden werden die wesentlichen durch die Rechtsprechung entwickelten Abgrenzungskriterien zwischen ordnungsgemäßen und missbräuchlichen Fremdpersonaleinsatz gesetzlich niedergelegt.

Das hört sich einfacher an, als es in der Wirklichkeit – in der bekanntlich der Teufel im Detail steckt – ist. Letztendlich und vereinfacht gesagt geht es um die (dann auch noch rechtssichere) Abgrenzungsfrage von „guten“ versus „schlechten“ Werkverträgen. Bert Losse und Max Haerder erläutern dazu in ihrem Artikel IG Metall attackiert Outsourcing in der Industrie:

»Die Bundesarbeitsministerin hat eine Reform der Werkverträge seit ihrem Amtsantritt auf der Agenda und will die heikle Reform noch in diesem Herbst auf den Weg bringen. Denn spätestens ab kommendem Frühjahr, wenn diverse Landtagswahlen die politische Agenda bestimmen, dürfte es schwierig werden, umstrittene Gesetze wie eine Werkvertragsregulierung durch den Bundestag zu peitschen.
Daher plant die SPD-Politikerin eine Art Paketlösung. Nahles will die Werkverträge gemeinsam mit der Zeitarbeit regulieren, wobei Letzteres deutlich einfacher sein dürfte – nicht zuletzt, weil die Eckpunkte bei der Zeitarbeit vergleichsweise detailliert im Koalitionsvertrag festgezurrt wurden. Das ist im Fall der Werkverträge anders. Ministeriums-Fachleute geben zu, dass es kompliziert werden könnte, nun eine Regelung zu finden, mit der Gewerkschaften, Arbeitgeber und der Koalitionspartner gleichermaßen leben können.«

Wie kompliziert die zu regelnde Materie aus rechtswissenschaftlicher Sicht ist, verdeutlicht das im vergangenen Jahr vorgelegte Gutachten der beiden Arbeitsrechtler Christiane Brors und Peter Schüren: Missbrauch von Werkverträgen und Leiharbeit verhindern. Gutachten für das Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Februar 2014. Eine kurze Zusammenfassung einiger Aspekte findet sich in dem Artikel Werkverträge: Den Dschungel lichten.

Vor diesem Hintergrund darf man gespannt sein, was die Bundesarbeitsministerin von ihrem Ministerium im Herbst vorlegen lässt. Wichtige Forderungen der Gewerkschaftsseite werden allerdings nicht berücksichtigt werden, also beispielsweise die Forderung nach Mitbestimmung beim Einsatz von Werkverträgen – auch der zitierte Passus im Koalitionsvertrag stützt diese These, denn dort ist lediglich die Rede davon, die „Informations- und Unterrichtungsrechte des Betriebsrats“ sicherzustellen, von Mitbestimmung steht da nichts. Und Nahles – auch wenn sie wollte – wird darüber keineswegs hinausgehen (können), ist sie doch seit dem Mindestlohn und dem Rentenpaket koalitionsintern kaltgestellt, was gewerkschaftsfreundliche Regulierungen angeht und zum anderen laufen die Wirtschaftsverbände bereits jetzt Sturm gegen eigentlich jede Regelung in diesem Bereich, denn aus ihrer Sicht handelt es sich um rein unternehmerische Entscheidungen, in die man sich nicht rein reden lassen will.

Vielleicht muss man die Intensivierung der IG Metall-Kampagne gegen Werkverträge – so soll es als nächste Stufe am 24.09.2015 an nahezu allen Standorten der deutschen Automobilhersteller einen Aktionstag geben und die Gesamtbetriebsratsvorsitzenden der Automobilhersteller und Zulieferer werden einen gemeinsamen Aufruf an die Politik absetzen – vor dem Hintergrund eines wirklich heftigen organisationspolitischen Dilemmas der IG Metall sehen: Durch das zunehmende Outsourcing verliert die Gewerkschaft den tarifpolitischen Zugriff auf immer mehr Beschäftigte. Wenn sich ihre Organisationshoheit nur noch auf die Stammbelegschaften verengt und immer mehr Werkvertragsarbeitnehmer in tarif- und mitbestimmungslosen Unternehmen befinden, dann wird die Schlagkraft der IG Metall erheblich abnehmen.

Insofern könnte am Ende des Prozesses – wir bewegen uns hier natürlich im Bereich der Spekulation – ein Ergebnis stehen, dass man trotz der großen Kritik an den Werkverträgen in Anerkenntnis ihrer betriebswirtschaftlicher Funktionalität (zu der auch – man muss es sagen dürfen – eine gewisse Stabilisierungsfunktion der Arbeitsbedingungen der Insider gehört, was auch die teilweise Ambivalenz der Betriebsräte bei diesem Thema erklären kann) wie aber auch angesichts der Tatsache, dass es gerade für produzierende Unternehmen immer auch die Option eines ausländischen Outsourcing gibt, das nicht selten als Damoklesschwert instrumentalisiert wird, wenn man nicht den Kostensenkungsvorgaben in den Unternehmen entgegenkommt, die derzeit heftig und verständlicherweise auch beklagte Auffächerung der Tarifstruktur nach unten (vgl. aktuell dazu Metall-Arbeitgeber fordern neuen Einstiegstarif) letztendlich mitgehen wird, wenn sie denn unter dem Dach der IG Metall stattfindet. Hinweise auf diese strategische Ausrichtung gibt es – gerade in dem so wichtigen Bereich der Logistik, deren Unternehmen sich über Werkverträge immer tiefer in die Kernprozesse der Automobilhersteller und anderer Schwergewichte der Stahl- und Metallindustrie fressen und die eigentlich – auch nach der DGB-Abgrenzung – unter die Zuständigkeit der Gewerkschaft ver.di fallen. Da ist die IG Metall dann auch schon mal auf Konfrontationskurs gegen ver.di gegangen, erinnert sei hier an die „Machtübernahme“ der Metaller beim Logistik-Unternehmen Stute (vgl. dazu meinen Blog-Beitrag Wenn unterschiedlich starke Arme eigentlich das Gleiche wollen und sich in die Haare kriegen: „Tarifeinheit“ aus einer anderen Perspektive vom 3. September 2014). Das alte Motto „Ein Betrieb = eine Gewerkschaft“ kann dann eine ganz neue Dimension bekommen, wenn man den „Betrieb“ ausweitet auf die vor- und nebengelagerten Betriebe.

Wie gesagt, alles derzeit zwangsläufig nur Spekulation.

Jenseits der Einzelfälle: Die sich selbst beschleunigende Verwüstungsmechanik von abnehmender Tarifbindung im Einzelhandel, gnadenlosem Verdrängungswettbewerb und dem Hamsterrad der Personalkostenreduzierung. Plädoyer für eine Wiederherstellung der Ordnungs- und Schutzfunktion des Tarifsystems gegen die „Rutschbahn nach unten“ durch Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge

Regelmäßig werden wir konfrontiert mit Berichten über
problematische, in Teilbereichen nur als mies zu bezeichnende
Arbeitsbedingungen des Personals im Lebensmitteleinzelhandel. Immer wieder
Lohndumping-Versuche der Arbeitgeber in einer Branche, in der nicht einige wenige
Leute beschäftigt sind, sondern sehr viele Menschen, vor allem Frauen, mit
ihrer Hände Arbeit den Lebensunterhalt verdienen (müssen). Und auch immer ganz
vorne dabei die großen Discounter, aus denen dann den Medien Bruchstücke einer
Arbeitswelt zugespielt werden, die ziemlich wenig zu tun hat mit dem
Euphemismus „Jobwunder“, mit dem so gerne in Deutschland hantiert wird. Und
diese Berichte in den Medien haben in den zurückliegenden Jahren immer mehr
zugenommen und sie betreffen fast alle der auf diesem hart umkämpften Markt
tätigen Unternehmen. Netto, Lidl, Rewe, auch Edeka – um nur einige aufzurufen. Allein
in dieser Woche durchaus prominent platziert kritische Fernsehberichte über
Lidl (Lidl
als Arbeitgeber
vom 03.08.2015) im Wirtschaftsmagazin „WISO“ (ZDF) und nur
einen Tag später am 04.08.2015 im Politikmagazin „Report Mainz“ (ARD) der
Beitrag Rewe
in der Kritik: Wie durch den Verkauf der Märkte Arbeitnehmerrechte ausgehöhlt
werden
. Und immer sind es die gleichen Muster, mit denen die betroffenen
Arbeitnehmer/innen konfrontiert werden. Immer mehr Teilzeitverträge, immer
öfter nur Stundenkontingente und Arbeit auf Abruf und immer wieder: unbezahlte
Mehrarbeit. Zugleich kaum oder keine betrieblichen Mitbestimmungsstrukturen
bzw. da, wo es welche gab, wurden sie beseitigt im Zuge von „Privatisierungen“,
also der Übernahme von bislang konzerneigenen Filialen durch selbständige
Kaufleute.

In diesem Beitrag soll es nicht darum gehen, den seit Jahren
immer und immer wieder vorgetragenen Einzelfällen weitere hinzuzufügen, sondern
einen Schritt zurückzutreten und die letztendlich entscheidende Frage zu
stellen: Kann es jenseits der wichtigen und berechtigten Kritik an dem Verhalten
einzelner Unternehmen – die teilweise schon Änderungen bewirken kann, aber bei
anderen, z.B. dem Discounter Netto, so gut wie keinen Effekt zeigen – eine strukturelle
Lösung eines offensichtlich eben strukturellen, also die gesamte Branche
betreffenden Problems geben? Und warum tut sich auf dieser grundsätzlichen
Baustelle so wenig? Es geht also um die von mir in vielen Beiträgen in den
vergangenen Jahren, in denen über die gleichen Muster in unterschiedlichen
Unternehmen berichtet wurde, immer und immer wieder beschriebene „Rutschbahn
nach unten“, auf der sich die Arbeitsbedingungen im Lebensmitteleinzelhandel
befinden (müssen) und die Aufgabe, wenn schon nicht das Rad wieder zurückzudrehen in
die alte Welt, so doch zumindest den Neigungswinkel der Rutschbahn erheblich zu
verkleinern.

Wenn wir über den Lebensmitteleinzelhandel in Deutschland
sprechen, dann wird man mit einem überaus konzentrierten Markt konfrontiert.
Die Abbildung über die Verteilung der Marktanteile im Lebensmittelhandel
verdeutlicht, dass wir es mit einem – wie die Ökonomen sagen – sehr engen
Angebotsoligopol zu tun haben, also einige wenige marktstarke Anbieter stehen
vielen kleinen marktschwachen Nachfragern (den Verbrauchern) gegenüber. Eine
Marktform, die aus Wettbewerbsgründen mit größter Vorsicht und Argwohn zu
behandeln ist. Genau das ist Aufgabe des Bundeskartellamtes und die tun das
dann auch ganz praktisch, man denke hier aktuell an den Fall der beabsichtigten
Übernahme von 450 Filialen von Kaiser’s Tengelmann durch EDEKA, die Anfang
April dieses Jahres vom Bundeskartellamt untersagt wurde (vgl. hierzu Bundeskartellamt
untersagt Übernahme von Kaiser’s Tengelmann durch EDEKA
).

Das Kartellamt hatte im vergangenen Jahr eine
„Sektoruntersuchung Lebensmitteleinzelhandel“ veröffentlicht, in dem die
Verfasstheit dieses Marktes ausführlich beschrieben worden ist (vgl. dazu: Bundeskartellamt:
Sektoruntersuchung Lebensmitteleinzelhandel
. Darstellung und Analyse der
Strukturen und des Beschaffungsverhaltens auf den Märkten des
Lebensmitteleinzelhandels in Deutschland. Bericht gemäß § 32 e GWB – September
2014, Bonn). Aus der Kurzfassung
der Sektoruntersuchung:

»Durch die Konzentrationsentwicklungen der letzten Jahre ist
heute nur noch eine über- schaubare Zahl an Lebensmitteleinzelhändlern in
Deutschland tätig. Auf nationaler Ebene handelt es sich im Wesentlichen um die fünf
führenden Unternehmen Edeka, Rewe, Schwarz Gruppe (Lidl und Kaufland), Aldi und
mit Einschränkungen Metro. Auch der Discounter Norma verfügt über ein überregionales
Filialnetz … Auf die führenden Unternehmen Edeka, Rewe, Schwarz Gruppe und
Aldi entfallen deutlich mehr als drei Viertel aller Umsätze im
Lebensmitteleinzelhandel, die mit Endkunden in Deutschland erzielt werden.«

Die oftmals hoch problematischen Folgen des gewaltigen
Konzentrationsprozesses betreffen nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch die
Zulieferer, auf die ein gnadenloser Preis- und damit Kostendruck ausgeübt wird
(den sie oft nur an die eigenen Beschäftigten weitergeben können, wenn sie im
Markt bleiben wollen) und auch für die Verbraucher. Auch das wird von den Medien
aufgegriffen, vgl. beispielsweise die ZDF-Dokumentation Die
Macht von Aldi, Edeka & Co. Kundenkampf um jeden Preis
, die am
08.07.2015 ausgestrahlt wurde.
Hinsichtlich der Entwicklung der Arbeitsbedingungen in den
Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels muss man von einer Welt „vor“ und
einer „nach“ dem Jahr 2000 sprechen. Bis zum Jahr 2000 war die Welt des
Einzelhandels insgesamt und damit auch in diesem Teilbereich des
Wirtschaftszweigs relativ wohlgeordnet, in der Arbeitsmarktforschung hat man
von einer „stabilen Branche“ gesprochen. Und das hatte damit zu tun, dass bis
zu diesem Jahr eine flächendeckende Tarifsystematik über alle Unternehmen
vorhanden war, denn: Bis 1999 waren im Einzel- und im Großhandel nahezu alle Tarifverträge
für allgemeinverbindlich erklärt, die Lohn- und Gehaltsstruktur insgesamt, die Manteltarifverträge
und die Tarifverträge zu vermögenswirksamen Leistungen usw. Bis zum Jahr 1999
gab es einen Konsens zwischen Arbeitgeberverbänden des Einzelhandels und den damaligen
Gewerkschaften HBV und DAG, nach Unterzeichnung der Tarifverträge einen Antrag
auf Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu stellen.

Dieser Konsens wurde im
Jahr 2000 von der Arbeitgeberseite aufgekündigt. Das stand in einem
unmittelbaren Zusammenhang mit einer Spaltung der Arbeitgeberverbände, denn im
Jahr 2000 erfolgte die Abspaltung der BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft der
Mittel- und Großbetriebe) als selbständiger Tarifträgerverband und dort wurde
die OT-Mitgliedschaft zugelassen, also eine Mitgliedschaft im Verband ohne
Tarifbindung. Peek und Cloppenburg war das erste große Handelsunternehmen, das
in die OT-Mitgliedschaft wanderte. Unter Zugzwang gesetzt führte dann auch der
HDE (Hauptverband des deutschen Einzelhandels) die OT Mitgliedschaft ein.
Übrigens: Diese Spaltung war nicht von Dauer: Ende 2009 war die BAG
wirtschaftlich am Ende, denn Karstadt als Hauptfinanzier der BAG konnte diese
nicht mehr finanzieren und der Mitgliederverlust war ein weiterer Sargnagel in
die Existenz dieses Verbandes. Seit dieser Zeit existiert als Tarifträgerverband
im Einzelhandel nur noch ein Arbeitgeberverband – der HDE Handelsverband Deutschland.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Allgemeinverbindlichkeit
im Einzelhandel wurde Anfang des neuen Jahrtausends von den Arbeitgebern
zerstört, denn die OT-Mitgliedschaft stand im Widerspruch zur
Allgemeinverbindlichkeit, denn die betreffenden Unternehmen wollten sich ja
gerade aus der Tarifbindung verabschieden. Außerdem wurde das Erfordernis des
mindestens 50%-Anteils tarifgebundener Unternehmen durch den Austritt von
Unternehmen aus den Verbänden nicht mehr erreicht. Im Jahr 2000 wurde dann
seitens der Arbeitgeber der Konsens aufgekündigt, beantragte
Allgemeinverbindlichkeitserklärungen über die Arbeitgebervertreter im
Tarifausschuss abgelehnt und das bis dato bewährte Ordnungssystem im Einzelhandel
einem sich selbst beschleunigenden Zerstörungsmechanismus ausgeliefert. Dabei
lohnt es sich, noch einmal in die Zeit vor 2000 zurückzublicken, mit welchen
Argumenten man die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge gerechtfertigt
hat – und zwar von beiden Seiten, also Gewerkschaften und Arbeitgeber. Man wird
auf eine überaus moderne, weil heute hoch relevante Begründungslinie stoßen:
Danach ist der Einzelhandel eine Branche mit extrem hoher
Wettbewerbsintensität. Personalkosten spielen eine strategisch wichtige Rolle.
Die Allgemeinverbindlichkeitserklärung dient dazu, dass nicht durch
Nichtbeachtung der Tarifverträge Personalkostenvorteile gegenüber
tarifgebundenen Konkurrenten erzielt werden können. Außerdem wurde gesehen, dass
darüber realisierte Personalkosteneinsparungen in eine Intensivierung des
Verdrängungswettbewerbs fließen würden.
Genau so ist es dann ja auch in den Jahren nach 2000
passiert.
Gabriel Felbermayr und Sybille Lehwald haben kürzlich eine
Studie veröffentlicht, aus der man ganz praktisch die Folgen gerade für die
Arbeitnehmer ablesen kann, die sich aus der abnehmenden Tarifbindung in der
Branche ergeben (Gabriel Felbermayr und Sybille Lehwald: Tarifbindung
im Einzelhandel: Trends und Lohneffekte
, in: ifo Schnelldienst, Heft 11/2015,
S. 33-40):

»Die Bedeutung der Kollektivverträge im Handel hat sich in
jüngster Zeit deutlich gewandelt: Seit 2000 hat sich der Anteil der Beschäftigungsverhältnisse,
die einem Tarifvertrag unterliegen, von knapp drei Viertel auf weniger als die
Hälfte verringert. Nur noch jeder dritte Betrieb verfügt über einen
Kollektivvertrag. Tarifgebundene Betriebe sind größer und älter als ungebundene
… und zahlen durchschnittlich 25 bis 32% höhere Löhne.«

Diese für die gesamte Branche ermittelten Werte decken sich
gut mit konkreten Erfahrungen, die man machen kann bzw. muss hinsichtlich der Verschlechterung
der Arbeitsbedingungen für Beschäftigte gerade im Lebensmitteleinzelhandel,
wenn Filialen, die bislang als Konzernfilialen geführt wurden, „privatisiert“,
also an selbständige Kaufleute abgegeben werden, die dann weiter unter dem
Namensdach des Konzerns segeln. Diese Umwandlung passiert gerade bei Rewe, Vorreiter
der Entwicklung ist aber EDEKA. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der
„Privatisierungsstrategie“ hat die Gewerkschaft ver.di 2012 veröffentlicht:

Ver.di Bundesverwaltung
(Hrsg.): Schöne
neue Handelswelt!? Ein Blick hinter die Kulissen des „privatisierten“ Handels
am Beispiel der Firma EDEKA
, Berlin 2012.

Auch hier wird immer wieder
von Einkommenseinbußen in Höhe von 20 bis 30 Prozent gegenüber vorher
berichtet. Hinzu kommen weitere deutliche Verschlechterungen der
Arbeitsbedingungen. Neben der Gestaltung der Arbeitsverträge gerade
hinsichtlich der Stundenvorgaben beobachtet man in aller Regel ein Verschwinden
der bereits vorher mehr als dünnen betrieblichen Mitbestimmungsstrukturen, denn
in den „privatisierten“ Märkten gibt es in aller Regel keinen einzigen
Betriebsrat.

Interessanterweise spielt
dieser Aspekt sogar eine Rolle in der ablehnenden Stellungnahme der
Monopolkommission hinsichtlich der beantragten Ministererlaubnis für eine
Übernahme der 450 Filialen von Kaiser’s Tengelmann durch EDEKA (vgl. herzu
Monopolkommission: Zusammenschlussvorhaben
der Edeka Zentrale AG & Co. KG mit der Kaiser’s Tengelmann GmbH.
Sondergutachten der Monopolkommission gemäß § 42 Abs. 4 Satz 2 GWB
. Bonn.
August 2015):

»Nach Ansicht der
Monopolkommission sind Vereinbarungen, mit denen ein Unternehmen den Erhalt
sämtlicher Arbeitsplätze verspricht, in tatsächlicher Hinsicht nicht geeignet,
den betriebswirtschaftlichen Zwängen, die gegebenenfalls einen Abbau von
Arbeitsplätzen erfordern, wirksam zu begegnen. Im vorliegenden Fall kommt
hinzu, dass eine Vereinbarung mit der Edeka Zentrale keine rechtliche
Bindungswirkung für die selbstständigen Einzelhändler, an die Filialen
übertragen werden sollen, entfalten würde. Darüber hinaus besteht die Gefahr,
dass das häufige Fehlen von Mitbestimmungsstrukturen in den privatisierten
Filialen zu Einschränkungen des gesetzlichen Arbeitnehmerschutzes in der Praxis
führen wird, wovon auch ältere Beschäftigte und solche mit einem hohen
Qualifikationsniveau betroffen wären.« (S. 49 f.)

Was also tun angesichts
dieser Entwicklungen und vor allem der bekannten Folgen, die sich in den vielen
Einzelfällen besichtigen lassen? Immer wieder einzelne Unternehmen vor das
zumeist kurzlebige Auge einer zu Recht skandalisierenden
Medienberichterstattung zu zerren, reicht offensichtlich nicht aus, denn die
Branche sitzt strukturell auf einer „Rutschbahn nach unten“, deren innere
Rationalität dazu führen muss, dass selbst „gut meinende“ Unternehmen gezwungen
sind, sich an dem Lohnkostensenkungsautomatismus zu beteiligen, wollen sie
nicht über kurz oder lang aus dem Markt gekegelt werden.
Systematisch gesehen ergeben
sich drei grundsätzliche Optionen, um die Tarifbindung der „alten Welt“ wieder
herzustellen bzw. wenigstens einige Aspekte der damit verbundenen Ordnungs- und
Schutzfunktion wieder herzustellen:

1.) Eine Rückkehr zu einer
umfassenden Tarifbindung von Unternehmen und Beschäftigten, wie es sie mal
gegeben hat – allerdings ist diese „beste“ Option unrealistisch, nicht nur
aufgrund der massiven Tarifflucht der Arbeitgeber, sondern auch aufgrund des
niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrades der Beschäftigten in vielen
Dienstleistungsbereichen.

2.) Dann bliebe als „ große
mittlere Variante“ die Allgemeinverbindlichkeitserklärung gesamter
Branchentarifverträge bzw. als „kleine mittlere Variante“ die Allgemeinverbindlichkeit
eines Branchen-Mindestlohns als unterste Haltelinie, wobei die kleinere
Variante der AVE das Grundproblem hat, dass eben nur ein branchenspezifischer
Mindestlohn für alle gilt, nicht aber die gesamte Tarifvertragssystematik.

3.) Auf der untersten Ebene
steht dann das, was wie gerade erlebt haben, der Substitutionsversuch durch die
Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes. Das mag hier und da
ein wichtige und gute Verbesserung sein, birgt aber auch die übrigens derzeit
schon beobachtbare Gefahr, dass die Vergütungen abgesengt werden auf den
Referenzpunkt des Mindestlohns.
Vor diesem Hintergrund
drängt sich der Lösungsvorschlag auf, einen deutlichen Schritt „zurück“ zu
gehen und die Allgemeinverbindlichkeit der tarifvertraglichen Ordnung wieder
herzustellen. Und dafür gibt es durchaus im Grunde einen Ansatzpunkt: die
Allgemeinverbindlichkeitserklärung der Tarifverträge (AVE) auf der Basis des
Tarifvertragsgesetzes.  Aber warum
passiert dann an dieser Stelle nichts? Um das zu verstehen, muss man kurz
eintauchen in die Systematik und die Hürden einer
Allgemeinverbindlichkeitserklärung.
Der grundsätzliche Weg der
AVE läuft über das Tarifvertragsgesetz. Dazu gleich mehr. Daneben gibt es den
Weg über das Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG). Dieses seit 1996 vorhandene
Gesetz hatte das Ziel, dass ausländische Unternehmen an die tariflichen
Mindestarbeitsbedingungen (Entgelt, Urlaub, Urlaubsgeld) hier in Deutschland
gebunden werden sollten. Bis zum Jahr 2007 war lediglich das Bauhauptgewerbe
und das Baunebengewerbe vom Arbeitnehmerentsendegesetz erfasst. Bereits im Jahr
1998 gab es eine Neuregelung dieses Gesetzes, durch die eine bis dahin
bestehende Hürde beseitigt wurde, nämlich die Anforderung, dass die
tarifgebundenen Unternehmen mindestens 50 % der Beschäftigten der Branche
umfassen. Außerdem wurde geregelt, dass das BMAS durch Rechtsverordnung die AVE
eines Tarifvertrags herstellen kann – auch gegen den Willen der
Spitzenorganisationen der Arbeitgeber. Hierbei handelt es sich um einen ganz
entscheidenden Passus der ein Grunddilemma der AVE auflösen könnte.  Könnte deshalb, bei dieser Option bislang
noch nie genutzt wurde. Die AVE im Kontext des Arbeitnehmerentsendegesetzes
wurde in den Jahren nach 2007 vor allem für die Implementierung von
Branchen-Mindestlöhnen benutzt, also für die oben beschriebene „kleine mittlere
Variante“.
Der normale Weg eine
Allgemeinverbindlichkeitserklärung der tarifvertraglichen Strukturen im
Einzelhandel müsste über das Tarifvertragsgesetz laufen. Und an und für sich
könnte man meinen, dass die Voraussetzungen, diesen Weg zu gehen, durch die
große Koalition deutlich verbessert worden sind. Bereits in dem Koalitionsvertrag
vom Dezember 2013
haben sich die Unionsparteien und die SPD auf das
folgende Vorhaben unter der Überschrift „Allgemeinverbindlicherklärungen nach
dem Tarifvertragsgesetz anpassen und erleichtern“ verständigt:

»Das wichtige
Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) nach dem Tarifvertragsgesetz
bedarf einer zeitgemäßen Anpassung an die heutigen Gegebenheiten. In Zukunft
soll es für eine AVE nicht mehr erforderlich sein, dass die tarifgebundenen
Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages
fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Ausreichend ist das Vorliegen eines
besonderen öffentlichen Interesses. Das ist insbesondere dann gegeben, wenn
alternativ:
die
Funktionsfähigkeit von Gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien
(Sozialkassen) gesichert werden soll,
die AVE die
Effektivität der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen
wirtschaftlicher Fehlentwicklungen sichert, oder
die
Tarifvertragsparteien eine Tarifbindung von mindestens 50 Prozent glaubhaft darlegen.
Wir wollen, dass die, den
Antrag auf AVE stellenden Tarifvertragsparteien, an den Beratungen und Entscheidungen
des Tarifausschusses beteiligt werden können und werden prüfen, wie dies
umgesetzt werden kann.« (S. 48)

Und es ist nicht so, dass die
Große Koalition untätig geblieben wäre, denn mit dem
„Tarifautonomiestärkungsgesetz“, mit dem der allgemeine gesetzliche Mindestlohn
eingeführt wurde, hat man auch das 50%-Quorum abgeschafft und damit eine
bisherige Hürde auf dem Weg zur AVE. Allerdings bleibt es wie bei einem
beschwerlichen Hürdenlauf: Auch wenn eine Hürde weniger da ist, die nächste
baut sich unbezwingbar vor einem auf. Dazu genügt ein Blick in das
Tarifvertragsgesetz und hierbei konkret in den § 5 TVG. Dort heißt
es im Absatz 1:

»Das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales kann einen Tarifvertrag im Einvernehmen mit einem aus je
drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer
bestehenden Ausschuss (Tarifausschuss) auf gemeinsamen Antrag der
Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären, wenn die
Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint.«

Entscheidend ist hier die
Formulierung: „im Einvernehmen“ mit dem Tarifausschuss. Daraus resultiert eine
effektive Blockademöglichkeit einer wieder stärkeren Nutzung der AVE seitens
der Arbeitgeber, denn wenn die das im Tarifausschuss verweigern, dann wird
nichts passieren (können). Weil das BMAS hier eben nicht die Option hat, auch
gegen den Widerstand beispielsweise der Arbeitgeber einen Tarifvertrag für
allgemeinverbindlich zu erklären, wenn denn das öffentliche Interesse dafür
spricht – und das öffentliche Interesse wird definiert über zwei Merkmale:
Sicherung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und Wahrung der
Tarifautonomie. Gerade mit dem letzten Punkt könnte man angesichts der
Tarifflucht-Realitäten im Einzelhandel argumentieren.
Ein aktuelles und handfestes
Beispiel zu der Totalblockademöglichkeit seitens der Arbeitgeber kommt aus dem
Saarland (vgl. hierzu bereits meinen Blog-Beitrag
vom 16.07.2015
): Heftiger
Streit um Löhne in der Saar-Gastronomie
, so hat Joachim Wollschläger seinen
Artikel überschrieben.
Die Gewerkschaft Nahrung,
Genuss, Gaststätten (NGG) Saarland wirft der Vereinigung der saarländischen
Unternehmensverbände (VSU) vor, auskömmliche Gehälter zu verhindern. Was ist
passiert? Die NGG im Saarland wirft der VSU vor, sie »habe durch ihr Veto
verhindert, dass die Tarifverträge der unteren drei Entgeltgruppen im Hotel-
und Gastgewerbe nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden seien … Und das
nicht aus sachlichen Gründen, sondern nur aus Prinzip, um nicht im Saarland
Vorreiter zu werden, so der Vorwurf.«

Der Pressemitteilung der NGG
(VSU
betreibt rückwärtsgewandte Blockadepolitik
) kann man entnehmen:

»Die Tarifvertragsparteien
hatten unter anderem das Ziel, mit einem allgemeinverbindlichem
Einstiegsentgelt für Fachkräfte in Höhe von 9,40 €/h, die Attraktivität einer
Ausbildung im Gastgewerbe zu steigern und sicherzustellen, dass Fachkräfte
flächendeckend mehr Entgelt erhalten als den gesetzlichen Mindestlohn in Höhe
von 8,50 €/h. Mit dem ersten Einstieg in die AVE sollte außerdem ein fairer
Wettbewerb gewährleistet werden und dem öffentlichen Interesse nach einem
zukunftsfähigen Gastgewerbe Rechnung getragen werden. Die AVE der unteren 2
Entgeltgruppen sollte zudem eine Mindestentlohnung für Mitarbeiter im
Gastgewerbe ohne Ausbildung oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns
festschreiben.«

Man muss an dieser Stelle
besonders hervorheben: Im Vorfeld des Antrags auf
Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) – wohlgemerkt nicht des gesamten
Tarifvertrags, sondern der drei unteren Entgeltgruppen – hatte die Gewerkschaft
NGG gemeinsam mit dem Hotel- und Gaststättenverband Dehoga Saar einen
Tarifvertrag ausgehandelt und gleichzeitig beschlossen, diesen für die
untersten drei Entgeltgruppen für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Mit
dem Ziel, dass Fachkräfte deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt
werden. Es handelt sich also um eine konzertierte Aktion der beiden
Tarifvertragsparteien, nicht nur der Gewerkschaft.

Aber hier wird ein
systematisches Problem der Allgemeinverbindlichkeitserklärung offensichtlich.
Zwar hat man eine Hemmschwelle beseitigt, aber eben nur eine. Konkret am
Beispiel dessen, was im Saarland abläuft:

»Der Gesetzgeber hat zur
Erleichterung einer AVE zudem mit Wirkung zum 1. Januar 2015 die starre
Quotenregelung, wo nach 50 % der Beschäftigten einer Branche im
antragsstellenden Arbeitgeberverband organisiert sein müssen, zu Gunsten des
öffentlichen Interesses aufgegeben.
Leider wurde branchenfremden
Verbänden weiterhin eine Veto-Möglichkeit im Gesetz eingeräumt, wie sie die
Vereinigung saarländischer Arbeitgeberverbände (VSU) in der Anhörung zur AVE am
9. Juli 2015 im saarl. Wirtschaftsministerium, auch genutzt hat. DEHOGA-
Saarland und NGG haben im Rahmen der Anhörung ausführlich Stellung zum Antrag
bezogen. Beide Tarifvertragsparteien sind allerdings nicht stimmberechtigt, was
aus Sicht der NGG eine Sollbruchstelle im Gesetz darstellt«, so die NGG
Saarland in ihrer Pressemitteilung.

Fazit: Wenn die
Bundesregierung dabei bleibt, nur das 50%-Quorum abzuschaffen, nicht aber die
überaus harte und hohe Hürde des Einvernehmens im Tarifausschuss auch zu
schleifen für die Fälle, in denen aus übergeordneten Erwägungen eine AVE im
gesellschaftspolitischen, volkswirtschaftlichen, letztendlich aber mit Blick
auf die Verwüstungen in der Branche sogar betriebswirtschaftlich sinnvoll ist,
dann wird es weiter keine Bewegung geben (können). Die Politik könnte
entscheiden, wenn sie denn wollte. Um endlich wieder mehr Ordnung auf dem
Arbeitsmarkt zu schaffen. Es steht aber zu befürchten, dass aufgrund der
scheinbar bereits eingesetzten Handlungsstarre vor der nächsten Bundestagswahl
2017 (!) alle Akteure in der Großen Koalition in eine Art Dauerwinterschlaf
verfallen sind und keine erkennbaren Bestrebungen zu beobachten sind, dieses
Problem wenigstens mal anzugehen, geschweige denn zu lösen. Machbar aber wäre
das. Wenn der Wille da wäre.