„Sozialwidriges Verhalten“ von Hartz IV-Empfängern – von der unscharfen Theorie in die vielgestaltige Praxis der sozialgerichtlichen Auslegung

Im Januar 2019 hat sich der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts einen Tag Zeit genommen, um unterschiedliche Stimmen zum Thema Sanktionen lim Hartz IV-System anzuhören. Denn das hohe Gericht hat über eine Richtervorlage des Sozialgerichts Gotha zu entscheiden, mit der die dortigen Sozialrichter prüfen lassen möchten, ob die Sanktionen überhaupt verfassungsgemäß sind oder nicht. Nun warten alle gespannt auf eine Entscheidung aus Karlsruhe. In der Zwischenzeit aber gehen die Sanktionen täglich weiter und darunter sind auch ganz besonders „harte Nüsse“, denn bei ihnen geht es um „sozialwidriges Verhalten“ und der Möglichkeit, auf der Basis der Feststellung eines solchen Verhaltens Leistungen bis zu drei Jahre lang rückwirkend einzufordern, also nicht „nur“ die Leistung für eine gewisse Zeit zu kürzen. Man kann sich vorstellen, dass so eine Konsequenz zur Folge hat, dass die Betroffenen versuchen werden, sich vor den Sozialgerichten zu wehren. Aber zuerst einmal zum Hintergrund dieser ganz besonderen Regelung:

»Die Bundesagentur für Arbeit (BA) will … schärfer gegen Hartz-IV-Empfänger vorgehen, die ihre Bedürftigkeit selbst verursacht oder verschlimmert haben. Demnach sollen Betroffene, die ihre Hilfebedürftigkeit selbst herbeiführen, sie verschärfen oder nicht verringern, künftig sämtliche erhaltenen Leistungen für bis zu drei Jahre zurückzahlen müssen. Strenger ahnden sollen die Ämter demnach auch „sozialwidriges Verhalten“ von Hartz-Empfängern.« Das konnte man im September 2016 diesem Artikel entnehmen: Jobcenter sollen „sozialwidriges Verhalten“ sanktionieren. Hintergrund war das damals gerade verabschiedete  9. SGB II-Änderungsgesetz, in dem es einige Verschärfungen gegeben hat, obgleich die damalige Änderung des Hartz IV-Gesetzes eigentlich als „Rechtsvereinfachung“ und „Bürokratieabbau“ in den Ring geworfen wurde. 

»Strenger ahnden sollen die Ämter demnach auch „sozialwidriges Verhalten“ von Hartz-Empfängern … Ab sofort solle die Rückerstattung … auch für jene Fälle gelten, in denen die Betroffenen während des Hartz-IV-Bezugs nichts tun, um aus ihrer Notlage herauszukommen oder diese verschärfen.« Mit welchen Folgen? »Demnach sollen Betroffene, die ihre Hilfebedürftigkeit selbst herbeiführen, sie verschärfen oder nicht verringern, künftig sämtliche erhaltenen Leistungen für bis zu drei Jahre zurückzahlen müssen … Selbst der Wert von Essensgutscheinen müsste dann erstattet werden … die Jobcenter … (können) künftig sämtliche Leistungen zurückverlangen. Das gelte auch für die gezahlten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge.«

Gesetzliche Grundlage ist der § 34 SGB II. Aber was genau muss man sich denn nun unter einem „sozialwidrigen Verhalten“ vorstellen? Also wann ist ein Verhalten (noch nicht) sozialwidrig? Dazu gab es bereits in dem Beitrag Wo soll das enden? Übergewichtige und Ganzkörpertätowierte könnte man doch auch … Ein Kommentar zum „sozialwidrigen Verhalten“, das die Jobcenter sanktionieren sollen vom 2. September 2016 einige Hinweise:

Beginnen wir mit der „mildesten“ Variante, weil sie immer wieder gerne angeführt wird und sich vielen Beobachtern auch als ein bewusstes Fehlverhalten darstellt, das man ahnden kann/soll: »Hartz-IV-Empfänger, die bezahlte Jobs grundlos ablehnen und deshalb weiter von Hartz IV abhängig bleiben«, die fallen unter diese Kategorie, wobei hier gar nicht thematisiert werden soll, dass es in praxi gar nicht so einfach ist, diesen Tatbestand eindeutig festzustellen.

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat nach den damaligen Gesetzesänderungen ihre Fachlichen Weisungen zu § 34 SGB II an die Jobcenter-Mitarbeiter angepasst. Und dort findet man ebenfalls Beispiele für (angeblich) „sozialwidriges Verhalten“. Um nur zwei daraus zu nennen:

»Einem Berufskraftfahrer wird in Folge einer besonders schweren Verletzung der Sorgfaltspflicht im Straßenverkehr (z. B. Trunkenheit am Steuer) die Fahrerlaubnis entzogen. Er verliert aus diesem Grunde seinen Arbeitsplatz, so dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes erbracht werden müssen. Sozialwidrigkeit ist gegeben. Denn ein Berufskraftfahrer muss damit rechnen, infolge einer Trunkenheitsfahrt seinen Arbeitsplatz zu verlieren und – sofern keine anderweitigen ausreichenden Erwerbsmöglichkeiten bestehen – bedürftig zu werden.« Und: »Eine Antragstellerin hat ihr Vermögen verschenkt oder vergeudet. Die Leistungen sind im Regelfall für denjenigen Zeitraum zu erstatten, für den wegen des Vermögens keine Leistungen zugestanden hätten.«

Dazu habe ich 2016 angemerkt, dass einige der von der BA genannten Beispiele in der Lebenswirklichkeit alles andere als eindeutige Fallkonstellationen sind, an die man derart schwerwiegende Rechtsfolgen binden kann (auch wenn man diese nicht grundsätzlich ablehnen, sondern für legitim halten würde). Nehmen wir das Beispiel Berufskraftfahrer: Dahinter steht die Vorstellung, dass der verantwortungsvoll handelt, wenn es um seinen Führerschein geht – und sollte er wegen Trunkenheit seinen Lappen verlieren, dann hat der die andere Seite, die ihm dann Unterstützung gewähren muss, bewusst geschädigt. So die Vorstellung – aber wie ist es, wenn wir es mit einem Menschen zu tun haben, der aus welchen Gründen auch immer eine Suchtkrankheit ausgebildet hat und deswegen seinen Führerschein verloren hat. Bestrafen wir dann die Folgen einer Krankheit?

Ein weiteres Beispiel aus den Fachlichen Weisungen der BA: »Die Weigerung einer Mutter eines nichtehelichen Kindes, den Vater zu benennen, kann im Einzelfall sozialwidrig sein. Hierbei ist eine Abwägung der Interessen der Mutter und des Kindes einerseits und der der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler andererseits vorzunehmen, wobei entsprechende Gesichtspunkte von der Mutter vorgetragen werden müssen.« Das hört sich für viele sicher nachvollziehbar an, denn das Jobcenter braucht den Namen des Vaters, um zu versuchen, sich da Geld für den Kindesunterhalt zu besorgen und damit den Steuerzahler nicht als Ausfallbürge bluten zu lassen.

Hört sich einfach an, ist es aber in vielen Fallkonstellationen nicht – vor allem nicht hinsichtlich der sowieso in der politischen Praxis viel zu selten bis gar nicht bedachten Konsequenzen: Was tun, wenn es mehrere potenzielle Väter gibt – müssen die alle angegeben werden und müssen sich die dann einem Vaterschaftstest unterziehen? Und wenn die Betroffene gar nicht angeben kann, welche potenziellen Kandidaten es gegen hat, dann kann das zum einen tatsächlich der Versuch sein, sich den Vorgaben des Gesetzgebers zu entziehen, so dass die Hilfebedürftigkeit selbst verursacht, aufrechterhalten oder erhöht wird. Es kann aber schlichtweg auch so sein, dass die Betroffene es nicht weiß, also nicht angeben kann. Und nun? Daumen hoch oder runter?

Da sollte man also unsicher werden – trotz aller scheinbaren Eindeutigkeit, mit der seitens der BA „sozialwidriges Verhalten“ definiert wird: »Ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Ersatzanspruchs ist ein objektiv sozialwidriges Verhalten. Dieses liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vor, wenn ein Tun oder Unterlassen, das zwar nicht „rechtswidrig“ im Sinne der unerlaubten Handlung (§ 823 BGB) oder des Strafrechts zu sein braucht, aus der Sicht der Solidargemeinschaft – hier: der Solidargemeinschaft der Steuerzahler*innen – aber zu missbilligen ist und den Lebenssachverhalt so verändert, dass eine Leistungspflicht nach dem SGB II eintritt.«

Aber offensichtlich hat die BA dann mit Blick auf die Frage, wie man denn bitte schön das operationalisiert, selbst einige grundsätzliche Zweifel bzw. Unsicherheiten: »Nicht jedes vorwerfbare Verhalten ist als sozialwidrig im Sinne des § 34 einzustufen. Ein Ersatzanspruch besteht nur dann, wenn das Verhalten in seiner Handlungstendenz auf die Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit bzw. den Wegfall der Erwerbsfähigkeit oder -möglichkeit gerichtet ist. Zwischen dem Verhalten und der Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II muss eine spezifische Beziehung oder ein innerer Zusammenhang bestehen.« Alles klar?

Vor diesem Hintergrund können die kritischen Hinweise, die während des Gesetzgebungsverfahrens beispielsweise bei einer Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages, die am 30. Mai 2016 stattgefunden hat, nicht überraschen (vgl. dazu die schriftlichen Stellungnahmen, die in der Ausschussdrucksache 18(11)649 vom 27. Mai 2016 dokumentiert sind). Dort findet sich diese Prognose: Die Entgrenzung der „Ersatzansprüche“ bei „sozialwidrigem Verhalten“ wird zu mehr Widersprüchen und sozialgerichtlichen Verfahren, mithin also zu zusätzlichem Aufwand führen.

Nun können wir aus der neueren sozialgerichtlichen Praxis zu diesem Themenfeld berichten.

➞  Nur als Anmerkung: Auch vor den 2016 vorgenommenen Änderungen, die Verschärfungen mit sich gebracht haben, gab es den Paragrafen und auch sozialgerichtliche Auseinandersetzungen dazu. Vgl. nur als Beispiele diese Entscheidung aus dem Jahr 2014: Jobcenter muss trotz Bordellbesuchen zahlen. Dort wird von einem Urteil des SG Heilbronn berichtet: »Er hatte Teile seiner Erbschaft in Nachtclubs verprasst und war auch dadurch schnell wieder auf Hartz-IV angewiesen. Was das Jobcenter für grob fahrlässig hielt, findet das SG ok. Der Mann muss kein Geld zurückzahlen. Nicht zuletzt weil der Bescheid des Jobcenters viel zu verwirrend sei.« Oder mit einem weniger erfreuliche Ausgang für den Betroffenen zum einen das LSG Niedersachsen-Bremen aus dem Jahr 2015: 5.800 Euro für Filmsammlung wohl sozialwidrig: »Wer vorsätzlich oder grob fahrlässig dafür sorgt, dass er Hartz-IV beziehen kann, macht sich schadensersatzpflichtig. So etwa, wenn beträchtliche Teile des Erbes genutzt werden, um die eigene Filmsammlung aufzustocken. Hierauf hat das LSG in einem aktuellen Fall hingewiesen und die Prüfung einer Schadensersatzpflicht angeregt«, sowie eindeutig eine Entscheidung des LSG Rheinland-Pfalz aus dem Jahr 2011: Kein Darlehen für Stromschulden bei sozialwidrigem Verhalten: »Das LSG Rheinland-Pfalz hat die Verpflichtung zur Gewährung eines Darlehens nach dem SGB II aufgehoben, mit dem Stromschulden beglichen werden sollten. Von einer daraus folgenden Stromsperre sind auch minderjährige Kinder betroffen.«

Die neueren Entscheidungen stammen alle vom Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen.

So aus dem Jahr 2018: Trun­ken­heits­fahrt ist kein sozial­wid­riges Ver­halten: »Dass eine Trunkenheitsfahrt mehr als nur den Entzug des Führerscheins bedeuten kann, musste nun ein Mann am eigenen Leib erfahren. Denn nach der Polizeikontrolle, bei der die Beamten eine Blutalkoholkonzentration von 2,3 Promille feststellten, war nicht nur der Führerschein weg, sondern auch der Job. Der Arbeitgeber kündigte dem angestellten Kraftfahrer. Es folgte eine Sperrzeit für den Bezug von Arbeitslosengeld I, sodass der Mann zur Deckung seines Lebensunterhaltes Hartz IV beantragte. Die knapp fünf Monate gewährten Leistungen in Höhe von 2.599 Euro forderte das Jobcenter jedoch zurück. Ihr Argument: Der Mann habe die Hilfsbedürftigkeit selbst herbeigeführt, indem er betrunken Auto gefahren sei.« Da haben wir also ganz praktisch einen Fall mit einem Berufskraftfahrer. Auf den ersten Blick scheint eine private Trunkenheitsfahrt mit 2,3 Promille ohne Weiteres sozialwidrig und grob fahrlässig. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat sich dem aber nicht angeschlossen ( Urt. v. 05.07.2018, Az. L 6 AS 80/17). Das Gericht bezweifelt in diesem Fall die grobe Fahrlässigkeit: »Denn dazu hätte der Mann, so das LSG, die Fahrt mit dem Ziel antreten müssen, seine Existenzgrundlage zu vernichten und damit zu Lasten öffentlicher Kassen hilfebedürftig zu werden.« Das hat das Gericht nicht erkennen wollen, denn »er habe ungewohnt viel Alkohol zu sich genommen und sich wegen der Geburt seines Enkelkindes in einer besonderen emotionalen Situation befunden. Die sich daran anschließende Alkoholfahrt sei zwar zu verurteilen. Dem Mann könne aber nicht angelastet werden, er hätte die drohenden Konsequenzen mit dem Verlust des Arbeitsplatzes und der Hilfebedürftigkeit erkennen müssen.« Außerdem wurde in Rechnung gestellt, dass »er seit 2012 als Kraftfahrer beim selben Arbeitgeber beschäftigt (war) und … dort zu Beginn des Jahres 2014 eine Festanstellung sowie eine Gehaltserhöhung (erhielt), weil der Arbeitgeber mit seinen Leistungen zufrieden war.«

Und im Januar 2019 wurde eine ganze Serie an Entscheidungen zu dem Thema „sozialwidriges Verhalten“ bekannt gegeben – konkret: drei Entscheidungen. Zwei zu eins für die Jobcenter, so könnte man den Ausgang zusammenfassen:

➔ Das erste Verfahren ist so überschrieben: Sozialwidriges Verhalten – Wer das Erbe nicht ehrt. Hier erfahren wir zum Sachverhalt, dass »ein 51-jähriger Hartz-IV-Empfänger aus Emden geklagt (hatte), der nach dem Tod seines Onkels im Jahre 2011 zunächst von dessen Erbe lebte. Als der Mann ab 2013 erneut Grundsicherungsleistungen bezog, nahm das Jobcenter eine Rückforderung vor. Er habe das geerbte Vermögen in kurzer Zeit verschwendet und hierdurch seine Hilfebedürftigkeit herbeigeführt. Demgegenüber rechtfertigte sich der Mann mit einer vermeintlichen Alkoholerkrankung. Er habe den überwiegenden Teil des Tages in Gaststätten verbracht.« Das Jobcenter bestand in diesem Fall auf die Rückforderung und hat nun vom LSG Unterstützung erfahren. Mit dieser Begründung:
»Das LSG hat die Rechtsauffassung des Jobcenters bestätigt. Der Kläger habe geerbtes Immobilienvermögen von 120.000 € sowie Geld- und Wertpapiervermögen von 80.000 € innerhalb von zwei Jahren verschwendet und sei nun völlig mittellos. Seine Bank habe das überzogene Girokonto gekündigt, ihm drohe eine Stromsperre und er sei auf Lebensmittelgutscheine angewiesen. Freimütig habe er eingeräumt, das Erbe „ausgegeben und vertrunken“ zu haben. Allein 60.000 € habe er verschenkt um zu gefallen. Ein solches Ausgabeverhalten sei nach Überzeugung des Gerichts grob fahrlässig und in hohem Maße zu missbilligen. Es laufe dem Grundsatz der Eigenverantwortung zuwider. Da der Kläger eine Erwerbstätigkeit nicht beabsichtigte, hätte ihm klar sein müssen, dass er mit seinem sozialwidrigen Verhalten in kurzer Zeit wieder auf staatliche Leistungen angewiesen sein würde. Ein statistisch durchschnittlicher, nichterwerbstätiger Mann hätte bei ganz normalen Ausgaben sieben Jahre und sieben Monate von dem Vermögen leben können. Die behauptete Alkoholerkrankung habe nach Überzeugung des Gerichts und der beteiligten Ärzte keineswegs zum Kontrollverlust geführt, da der Kläger auch sehr vernünftige Entscheidungen getroffen habe wie Schuldentilgung und den Kauf einer Eigentumswohnung.«

➔ Und es geht weiter mit einer Entscheidung ebenfalls zu Ungunsten des Klägers: Sozialwidriges Verhalten – Wer die Bierbänke klaut, so ist die entsprechende Mitteilung des Gerichts überschrieben. In diesem Fall ging es um einen 49-jährigen Taxifahrer aus Ostfriesland. Zum Sachverhalt erfahren wir: »Der Mann war während der Arbeitszeit mit seinem Taxi zu einem Biergarten gefahren und hatte dort mithilfe des Autos Mobiliar entwendet. Sein Arbeitgeber sprach daraufhin die fristlose Kündigung aus. Für ca. ein Jahr lebte der Mann erneut von Hartz-IV. Das Jobcenter nahm eine Rückforderung von rd. 7.800 € wegen sozialwidrigen Verhaltens vor. Der Mann habe seine berufliche Existenzgrundlage durch sein Verhalten unmittelbar gefährdet und habe seine Hilfebedürftigkeit grob fahrlässig herbeigeführt. Demgegenüber meinte der Mann, dass er keinen Anlass für die Kündigung gegeben habe. Eine Abmahnung hätte bei dieser Sachlage ausgereicht. Allerdings habe er damals versäumt, eine Kündigungsschutzklage zu erheben.«
Die Klage des Mannes ist vom LSG Niedersachsen-Bremen zurückgewiesen worden: »Das LSG hat die Rückforderung des Jobcenters für rechtmäßig erachtet. Das Gericht hat dabei betont, dass nicht jede Straftrat, die zum Jobverlust führt, automatisch sozialwidrig ist. Sie muss vielmehr zugleich den Wertungen des SGB II zuwiderlaufen, die ähnlich wie die Sperrzeitregelungen bei Arbeitsaufgabe ausgestaltet sind.« Und wie wird die vom Gericht hergestellt? »Das Verhalten des Klägers bewertete das Gericht als schwere arbeitsvertragliche Pflichtverletzung, da er das Taxi nicht nur für eine unerlaubte Privatfahrt, sondern auch für die Begehung einer Straftat genutzt habe. Dem Arbeitgeber sei eine weitere Beschäftigung nicht zuzumuten gewesen ohne eine erhebliche Rufschädigung des Unternehmens hinzunehmen. Würde der Fahrer weiterhin Gäste vom Biergarten abholen, könnte der Eindruck einer Duldung oder gar einer Verbindung des Arbeitgebers mit der Straftat entstehen. Bei einem derart schweren Pflichtenverstoß habe der Mann mit einer fristlosen Kündigung rechnen müssen.«

➔ Aber es kann auch andere Konstellationen und andere Entscheidungen, diesmal gegen das Jobcenter, geben. Dazu berichtet das LSG unter der Überschrift Sozialwidriges Verhalten? – Wer den Job kündigt und dem aufmerksame Leser wird bereits im Titel das Fragezeichen auffallen, das es bei den beiden anderen Fällen nicht gegeben hat. Hier werden wir mit einem interessanten Fall konfrontiert, bei dem es auch um die häusliche Pflege geht.

Zum Sachverhalt erfahren wir, dass es hier um eine 38-jähige Frau ging, »die gemeinsam mit ihrer schwerbehinderten und pflegebedürftigen Mutter in einem gemeinsamen Haushalt im Landkreis Osterholz lebt. Sie hatte eine Vollzeitstelle als Hallenaufsicht am Bremer Flughafen angenommen und wollte Stewardess werden. Zugleich kümmerte sie sich um die Pflege ihrer Mutter. Nachdem sich deren Gesundheitszustand durch einen Rippenbruch verschlechtert hatte, konnte sie Arbeit und Pflege nicht mehr vereinbaren und schloss sie mit ihrem Arbeitgeber einen Aufhebungsvertrag. Vom Jobcenter bezog sie Grundsicherungsleistungen (Hartz-IV). Die Auflösung des Arbeitsverhältnisses bewertete das Jobcenter als sozialwidriges Verhalten und nahm eine Rückforderung von zuletzt rd. 7.100 € vor. Die Frau habe schon bei Abschluss des Arbeitsvertrags gewusst, dass sie im Schichtdienst arbeiten würde und dass ein Umzug nicht möglich sei. Die Mutter habe die Pflegestufe II und die Tochter müsse nicht selbst die Pflege übernehmen. Dies könne auch durch einen Pflegedienst geschehen. Die Auflösung des Arbeitsverhältnisses sei dafür nicht notwendig. Dieses Verhalten sei zumindest grob fahrlässig.«

Der eine oder andere könnte bei diesem Fall kopfschüttelnd anmerken, wie das Jobcenter hier überhaupt nur auf die Idee kommen kann, ein „sozialwidriges Verhalten“ zu unterstellen, geht es doch gerade nicht darum, dass sich jemand beispielsweise einer Arbeit entziehen will, sondern die Frau ist im Konflikt zwischen eine Erwerbsarbeit und einer nicht nur individuell, sondern gesellschaftlich hoch relevanten Arbeit, der häuslichen Pflege, ohne die das professionelle, wiederum auf Erwerbsarbeit basierende Pflegesystem in unserem Land innerhalb von Minuten zusammenbrechen würde.

Wie dem auch sei: Das LSG hat sich der Rechtsauffassung des Jobcenters nicht angeschlossen und ein sozialwidriges Verhalten verneint. Mit welcher Begründung?

»Entscheidend seien die Umstände des Einzelfalls. Grundsätzlich sei zwar jede Arbeit zumutbar, wenn die Pflege von Angehörigen anderweitig sichergestellt werden könne. Selbst bei Pflegestufe II seien Arbeitszeiten von bis zu 6 Std./Tag zumutbar. Dies sei im Falle der Klägerin jedoch nicht möglich. Sie habe im Schichtsystem auf Abruf mit variablen Zeiten gearbeitet. Die Einsatzzeiten seien erst vier Tage vor dem Einsatz mitgeteilt worden. Die dreimal täglich anfallende Pflege sei damit nicht zu vereinbaren. Das Gericht hat auch das Selbstbestimmungsrecht der Mutter berücksichtigt, die einen Pflegedienst ablehnte und nur ihre Tochter akzeptierte. Dass die Klägerin dies alles vorher gewusst habe, ließ das Gericht nicht durchgehen. Es gelte ein objektiver Maßstab. Angesichts der Erwerbsobliegenheit dürfe ein Leistungsempfänger die Vereinbarkeit von Arbeit und Pflege austesten, ohne sich im Falle des Scheiterns einem Ersatzanspruch auszusetzen.«

Die Umstände des Einzelfalls. Darum ging und geht es bei solchen Verfahren. Und die Entscheidungen zeigen, dass es eben einfacher ist, in einem Gesetz von „sozialwidrigen Verhalten“ zu sprechen und daran ganz erhebliche Rechtsfolgen zu binden, als das dann in der Realität der Institutionen, die Entscheidungen einer Behörde rechtsstaatlich zu prüfen haben, abbilden zu können. Und bei den Sozialgerichten neigt sich Justitia mal in die eine und mal in die andere Richtung. Und die beispielhaften Fälle verdeutlichen auch, dass es eben nicht so einfach und eindeutig ist mit dem „schlechten“ Verhalten der Menschen, das es zu sanktionieren gilt. Und schlussendlich zur Erinnerung: Wir reden hier über eine Maßnahme (also die bis zu dreijährige Rückforderung von Leistungen), die nicht nur als gravierend zu bezeichnen ist, sondern die eine Eingriffsintensität hat, mit der in anderen Fällen nicht einmal Schwerkriminelle belangt werden (können).