Das Trittbrettfahrerproblem ist ein Dauerbrenner in der Diskussion über Tarifverträge und deren Nutzen. Die Ökonomen diskutieren die mit diesem Begriff angesprochene Problematik im Kontext echter öffentlicher Güter (bei denen nicht alle Nutzer dieser Güter bereit sind, für deren Entstehungs- und Unterhaltskosten aufzukommen) und auch bei den Allmendegütern, wo es zu einer Übernutzung kommen kann. Das alles, weil man Nutznießer werden kann, ohne eine Gegenleistung erbringen zu müssen, da man vom Konsum bzw. der Inanspruchnahme nicht ausgeschlossen werden kann.
Mit einer vergleichbaren Problematik sind die Gewerkschaften, die mit den Arbeitgebern Tarifverhandlungen führen und einen Tarifvertrag abschließen, gegenüber den Arbeitnehmern konfrontiert, die zwar die vereinbarten Entgelte und deren Erhöhung gerne „mitnehmen“, aber auf eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft und damit auf die Zahlung eines Mitgliedsbeitrags verzichten. Und der Homo oeconomicus unter den Beschäftigten würde an dieser Stelle – rational durchaus begründet – die Frage aufwerfen: Warum soll ich zahlen und mich vielleicht sogar noch zusätzlich in der Gewerkschaft engagieren, wenn ich die Vorteile auch so mitnehmen kann? Denn der Tarifabschluss gilt ja für alle Beschäftigten des tarifgebundenen Unternehmens, ohne Differenzierung nach Gewerkschaftszugehörigkeit.
Um dieses Dilemma herum hat sich schon vor langem eine Diskussion entwickelt, in der es um die bewusste Privilegierung von gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten in dem Sinne geht, dass nur sie bestimmte Leistungen bekommen, die von den Tarifparteien vereinbart worden sind, während die Nicht-Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft eine exkludierende Wirkung zur Folge hat.
Man kann sich vorstellen, dass dieser Ansatz von unterschiedlicher Seite zu Kritik und Ablehnung geführt hat. Dass dabei der Hinweis auf eine Diskriminierung eine wichtige Rolle spielt, erschließt sich sofort.
Nun musste sich das Bundesverfassungsgericht mit einem solchen Fall befassen – und hat eine wichtige Entscheidung gefällt: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen tarifvertragliche Differenzierungsklausel, so ist die Mitteilung des Gerichts zu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 14. November 2018 – 1 BvR 1278/16 überschrieben. Der entscheidende Passus lautet:
»Eine unterschiedliche Behandlung gewerkschaftlich organisierter und nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einem Tarifvertrag verletzt nicht die negative Koalitionsfreiheit, solange sich daraus nur ein faktischer Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt ergibt, aber weder Zwang noch Druck entsteht. Mit dieser Begründung hat die 2. Kammer des Ersten Senates mit heute veröffentlichtem Beschluss die Verfassungsbeschwerde eines gewerkschaftlich nicht organisierten Beschäftigten nicht zur Entscheidung angenommen, der sich durch eine sogenannte „Differenzierungsklausel“ in einem Tarifvertrag benachteiligt sah.«
Zum Sachverhalt kann man dem Beschluss des BVerfG entnehmen: »Die Verfassungsbeschwerde betrifft differenzierende Bestimmungen in einem Sozialtarifvertrag hier wegen Überbrückungs- und Abfindungsleistungen. Der Beschwerdeführer ist, da er keiner Gewerkschaft angehörte, allein arbeitsvertraglich und durch einen Sozialplan begünstigt worden. Er hat damit nicht erhalten, was tarifvertragsgemäß nur Beschäftigten zukam, die an einem ebenfalls tarifvertraglich vereinbarten Stichtag tatsächlich gewerkschaftlich organisiert waren. Der Beschwerdeführer klagte auf die Leistungen, die nach dem Tarifvertrag nur am Stichtag organisierte Mitglieder der Gewerkschaft erhielten. Das Arbeitsgericht gab dieser Klage statt; das Landesarbeitsgericht und das Bundesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen.«
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen und damit die abweisenden Entscheidungen sowohl des Landesarbeitsgerichts München vom 27. März 2014 – 3 Sa 127/13 sowie des Bundesarbeitsgerichts vom 27. Januar 2016 – 4 AZR 441/14 bestätigt. Die Verfassungsrichter begründen ihre Zurückweisung der Beschwerde so:
➔ Die negative Koalitionsfreiheit ist erst dann verletzt, wenn durch die Differenzierungsklauseln ein Zwang oder Druck erzeugt wird, der Gewerkschaft beizutreten. Gegen einen bloßen Beitrittsanreiz, der dadurch gegeben werden soll, dass bestimmte Leistungen nur Gewerkschaftsangehörigen vorbehalten sind, gäbe es keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
»Art. 9 Abs. 3 GG schützt auch die Freiheit, Vereinigungen zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen fernzubleiben. Daher darf kein Zwang oder Druck in Richtung auf eine Mitgliedschaft ausgeübt werden. Die Tatsache, dass organisierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anders behandelt werden als nicht organisierte Beschäftigte, bedeutet insofern jedoch noch keine Grundrechtsverletzung, solange sich daraus nur ein eventueller faktischer Anreiz zum Beitritt ergibt, aber weder Zwang noch Druck entsteht … Das Bundesarbeitsgericht geht jedenfalls nachvollziehbar davon aus, dass kein höherer Druck erzeugt wird als derjenige, der sich stets ergibt, wenn individualvertragliche Vereinbarungen hinter den Abreden zurückbleiben, die eine Gewerkschaft im Wege eines Tarifvertrages nur für ihre Mitglieder treffen kann.«
➔ »Es ist nicht erkennbar, dass das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 GG, einen Arbeitsvertrag frei zu schließen und daher auch aushandeln zu können, verletzt wäre.«
Abhängig Beschäftigte befinden sich beim Abschluss von Arbeitsverträgen typischerweise in einer Situation struktureller Unterlegenheit. Die betrieblichen und tarifvertraglichen Regelungen richten sich gerade auf einen Ausgleich der strukturellen Unterlegenheit bei einem freien Abschluss des Arbeitsvertrages und sind eine Verbesserung für die Arbeitnehmer – außerdem »ist die Gewerkschaft ohnehin nur befugt, Abreden für ihre Mitglieder zu treffen, und kann schon aufgrund der Tarifautonomie nicht als verpflichtet angesehen werden, dabei alle Beschäftigten gleichermaßen zu berücksichtigen.«
Und außerdem, darauf wird in dem Artikel Gewerkschaftsmitglieder dürfen privilegiert werden hingewiesen, sollte berücksichtigt werden: »Gewerkschaften bemühen sich schon seit Jahrzehnten Arbeitnehmern Anreize zu bieten, einer Gewerkschaft beizutreten. Auf der anderen Seite steht in der Regel der Arbeitgeber, der ein Interesse daran hat, dass die Gewerkschaften, mit denen er verhandelt, nicht allzu groß werden. Zu diesem Zweck kann er durch sogenannte Bezugnahmeklauseln auch nicht organisierte Arbeitnehmer an den tarifvertraglich vereinbarten Leistungen teilhaben lassen und so den gewerkschaftlichen Beitrittsanreiz abfedern.«
Es ist verständlich, dass Gewerkschaften ein Interesse daran haben, ihren Mitgliedern Vorteile verschaffen zu können, mit denen sie sich gegenüber den Nicht-Mitgliedern positiv differenzieren. Und man kann sich vorstellen, dass das umstritten ist, nicht nur auf Seiten der Arbeitgeber, auch in der Rechtsprechung, auch wenn die Nicht-Annahme der Verfassungsbeschwerde durch das BVerfG ein Punktsieg für die Gewerkschaftsseite darstellt. Aber auch die andere Seite wird zuweilen mit entsprechenden Entscheidungen bedacht, so hinsichtlich der bereits angesprochenen Möglichkeit für die Arbeitgeber, auch nicht organisierte Arbeitnehmer an den tarifvertraglich vereinbarten Leistungen teilhaben zu lassen, wenn sie das denn wollen – man kann sich vorstellen, dass die Gewerkschaften das am liebsten unterbinden würden. Dazu aber bereits aus dem Jahr 2011 der Beitrag Qualifizierte tarifliche Differenzierungsklauseln sind unwirksam: Das Bundesarbeitsgericht hatte »entschieden, dass ein Tarifvertrag dem Arbeitgeber nicht die vertragliche Gestaltungsmöglichkeit nehmen darf, die nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer mit den Gewerkschaftsmitgliedern gleichzustellen.«
Und die Diskussion über Anreize, den Organisationsgrad in den Gewerkschaften zu erhöhen (und der offensichtliche Bedarf ist vielfach beschrieben worden, so beispielsweise in diesem Beitrag vom 24. Mai 2018: Die Tarifbindung nimmt (weiter) ab und die betriebliche Mitbestimmung verliert (weiter) an Boden), wird nicht nur geführt mit Blick auf Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen. Als ein Beispiel sei hier auf dieses Gutachten verwiesen:
➔ Martin Franzen (2018): Stärkung der Tarifautonomie durch Anreize zum Verbandsbeitritt. HSI-Schriftenreihe Band 27, Frankfurt 2018
Der Ansatz des Verfassers: In der Vergangenheit wurde die Stärkung der Tarifbindung fast ausschließlich aus arbeitsrechtlicher Perspektive und unter Berücksichtigung arbeitsrechtlicher Instrumente diskutiert. In dem Gutachten wird der Blick auf das Steuerrecht ausgedehnt – es wird geprüft, »inwieweit es Bedingungen setzen kann, unter denen der Beitritt zu einer Gewerkschaft attraktiver und damit letztlich die Tarifautonomie gestärkt wird.«
Franzen argumentiert mit Blick auf die bisherigen Bestrebungen so (S.77): »Die Tarifbindung der Arbeitsverhältnisse und der gewerkschaftliche Organisationsgrad sind in den letzten Jahren in nicht unerheblichem Umfang zurückgegangen … Die Politik reagiert darauf mit einer Stärkung des Tarifvertrags, insbesondere durch Erleichterung der Geltungserstreckung von Tarifverträgen auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer, indem die materiell- rechtlichen Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen abgesenkt und die Instrumentarien des AEntG erweitert werden, sowie durch Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns. Die Politik nennt das „Stärkung der Tarifautonomie“; tatsächlich wird hierdurch nur das Produkt der Tarifautonomie, der Tarifvertrag, in seiner Geltung und Wirkungsintensität gestärkt, im Fall des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns nicht einmal dies.« Das ist problematisch, denn: »Dieser Ansatz der Politik ignoriert eine wesentliche Funktionsbedingung der Tarifautonomie, die Stärkung der Mitgliederbasis der Tarifvertragsparteien auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite.«
Und hinsichtlich der (Nicht-)Anreize zum Verbandseintritt diagnostiziert Franzen eine strukturelle Unwucht im Sinne einer ausgeprägten Trittbrettfahrer-Problematik auf der Arbeitnehmerseite und damit zuungunsten der Gewerkschaften, denn: »Für Arbeitgeber mag der Anreiz eines Tarifvertrags und damit der Eintritt in den zuständigen Arbeitgeberverband in der Standardisierung der Arbeitsbedingungen, der Ersparnis von Transaktionskosten und Vermeidung innerbetrieblicher Verteilungskonflikte liegen … Als Anreizinstrument für den Beitritt von Arbeitnehmern in eine Gewerkschaft fällt der Tarifvertrag aber vollständig aus, weil die bei einem tarifgebundenen Arbeitgeber beschäftigten Arbeitnehmer die tariflichen Errungenschaften gratis über die durchweg angewandten Bezugnahmeklauseln erhalten. Die bei einem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber beschäftigten Arbeitnehmer sind für die Anwendung des einschlägigen Tarifvertrags auf ihre Arbeitsverhältnisse ohnehin auf die entsprechende Entscheidung des Arbeitgebers angewiesen; ihr Beitritt in eine Gewerkschaft ändert insoweit überhaupt nichts.«
Die auch in der aktuellen Entscheidung des BVerfG relevanten Differenzierungsversuche in den Tarifverträgen werden skeptisch beurteilt: »Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen können diesem Defizit nur eingeschränkt abhelfen… Sie setzen zwar pekuniäre Anreize zum Beitritt in eine Gewerkschaft, weil hierdurch bestimmte Leistungen des Arbeitgebers nur tarifgebundene Arbeitnehmer beanspruchen können. Differenzierungsklauseln sind aber rechtliche und faktische Grenzen gesetzt.«
Der Ansatz von Franzen zielt darauf ab, »das Steuerrecht fruchtbar zu machen, um entsprechende pekuniäre Anreize für den Beitritt in eine Gewerkschaft bzw. einen Arbeitgeberverband zu setzen. Im Zentrum steht der Vorschlag, einen Teil des tarifgebundenen Arbeitsentgelts steuerfrei zu stellen und hierfür in § 3 EStG einen weiteren Steuerfreiheitstatbestand zu schaffen« (S. 78). Er kalkuliert dafür einen Betrag von 1.300 bis 1.700 Euro pro Jahr. »Damit können Gewerkschaftsmitglieder, die bei einem tarifgebundenen Arbeitgeber beschäftigt sind, je nach individuellem Steuersatz von nicht unerheblichen Steuervorteilen profitieren. Von dieser Regelung würden ebenso Anreize zugunsten einer Tarifbindung der Arbeitgeberseite ausgehen: Vor dem Hintergrund des sich verstärkenden Fachkräftemangels könnten tarifgebundene Arbeitgeber damit werben, dass die bei ihnen beschäftigten Arbeitnehmer als Gewerkschaftsmitglied über ein höheres Nettoeinkommen verfügen als Arbeitnehmer bei anderen Arbeitgebern.«
Man sollte sich solcher Vorschläge erinnern, wenn man andere Vorstöße zur „Stärkung“ der Tarifautonomie, vor allem aus dem Arbeitgeberlager, analysiert. Dazu der Beitrag Mehr Tarifbindung in Zeiten abnehmender Tarifbindung? Gewerkschaftliche Fragezeichen und eine „Wünsch-dir-was-Welt“ der Arbeitgeberfunktionäre vom 21. Oktober 2018.