„Wir sind heute bei der Arbeitszeit so flexibel, dass jede Behauptung, die Tarifverträge behinderten passgenaue betriebliche Lösungen, entweder bösartig ist oder in Unkenntnis der Tarifverträge erfolgt“.
(Dieter Hundt, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Handelsblatt, 20. April 2000)
Diese wegweisende Aussage des damaligen Chefs der BDA wurde vor 18 Jahren gemacht – aber auch heute noch wird im öffentlichen Diskurs von interessierter Seite immer wieder das Narrativ in die Öffentlichkeit geworfen, dass die Tarifverträge die Flexibilität reduzieren würden, einen Hemmschuh darstellen. Man kann sich sogleich vorstellen, was dann an Änderungsvorschlägen vorgetragen wird. Aber bevor wir einen genaueren Blick auf die tarifpolitischen Aussagen der Arbeitgeber werfen, muss man zur Kenntnis nehmen, dass der seit Mitte der 1990er Jahre zu beobachtende Sinkflug der Tarifbindung weiter anhält, wenn man sich die neuesten Daten anschaut:
Und es ist ja nicht nur die abnehmende Tarifbindung. Auch die zweite große Säule im System der Arbeitsbeziehungen, die betriebliche Mitbestimmung, verliert weiter an Boden. Hier geht es um die wichtige Ebene der betrieblichen Interessenvertretung der Arbeitnehmerseite über Betriebsräte (und Personalräte im öffentlichen Dienst). Auch hier: Die betriebliche Mitbestimmung verliert an Boden, so Peter Ellguth vom IAB. In seinem Beitrag findet sich diese zentrale und überaus bedenkliche Diagnose:
»Nur eine Minderheit der in der Privatwirtschaft (ab fünf Beschäftigte) tätigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeitet in Betrieben, die zur Kernzone des dualen Systems der Interessenvertretung gehören – in Betrieben also, die sowohl einen Betriebsrat haben als auch einem Branchentarifvertrag angehören. Diese Zone umfasst nur knapp ein Viertel (24 %) der Beschäftigten in Westdeutschland und gerade noch ein Siebtel (14 %) in Ostdeutschland.«
Solche ernüchternden Zahlen (vgl. dazu auch den Beitrag Die Tarifbindung nimmt (weiter) ab und die betriebliche Mitbestimmung verliert (weiter) an Boden vom 24. Mai 2018) müssen auch vor dem Hintergrund einer gleichsam offiziellen Semantik gelesen werden, die man in diesen Tagen wieder zur Kenntnis nehmen darf und die um den Begriff der „Sozialpartnerschaft“ kreisen. Denn Gewerkschaften und Arbeitgeber feiern 100 Jahre Sozialpartnerschaft, die mit dem Stinnes-Legien-Abkommen ihren Anfang nahm. Der Name geht auf die federführenden Unterzeichner, den Ruhrpott-Industriellen Hugo Stinnes und den Vorsitzenden der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Carl Legien, zurück, die das Abkommen am 15. November 1918 besiegelten.
➔ »Die Novemberrevolution veranlasste führende deutsche Unternehmer, den Gewerkschaften zur Abwehr von Sozialisierungsmaßnahmen weitreichende Zugeständnisse zu machen. Mit dem am 15. November 1918 unterzeichneten Stinnes-Legien-Abkommen, benannt nach den beiden Verhandlungsführern Hugo Stinnes und Carl Legien, wurden alte gewerkschaftliche Forderungen verwirklicht. Die Unternehmer erkannten die Gewerkschaften als berufene Vertretung der Arbeiterschaft und als gleichberechtigte Tarifpartner an. Der Bildung von Arbeiterausschüssen in Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten wurde ebenso zugestimmt wie der Einführung des Achtstundentages bei vollem Lohnausgleich. Sämtliche aus dem Heeresdienst zurückkehrende Arbeitnehmer hatten Anspruch auf ihren früheren Arbeitsplatz. Zudem verpflichteten sich die Arbeitgeber, die von ihnen als Konkurrenz zu den Gewerkschaften geförderten unternehmerfreundlichen „Werkvereine“ nicht länger zu unterstützen. Als Gegenleistung erkannten die Gewerkschaften, die während des Ersten Weltkriegs zur größten Massenorganisation in Deutschland herangewachsen waren, die freie Unternehmerwirtschaft an. Der von der politischen Linken wie dem Spartakusbund geforderten Vergesellschaftung der Produktionsmittel nach sowjetischem Vorbild wurde damit eine Absage erteilt. Den organisatorischen Rahmen zukünftiger Kooperation sollte die aus Unternehmern und Gewerkschaftsvertretern paritätisch besetzte Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) bilden. Diese stellte für die Unternehmerverbände jedoch von Anfang an weniger eine Allianz als ein Zweckbündnis dar. Nach Auseinandersetzungen um die Höhe der Arbeitszeit brach die ZAG 1924 auseinander.« (Quelle: Das Stinnes-Legien-Abkommen).
100 Jahre Sinnes-Legien-Abkommen? Da muss es einen Festakt in Berlin geben. Über den berichtet Jörg Meyer in seinem Artikel Der Widerspenstigen Zähmung: Lob und warme Worte. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nennt die Sozialpartnerschaft in dieser Woche einen Stabilitätsanker, mit dem Deutschland gut durch die Wirtschaftskrise gekommen sei. DGB-Chef Reiner Hoffmann mahnt: »Unternehmerischer Erfolg ist undenkbar ohne Beschäftigte, die sich täglich für dieses Ziel einsetzen. Dafür verdienen sie fairen Lohn, gute Arbeitsbedingungen und Respekt.« Diese »sozialpolitische Erfolgsgeschichte« müsse fortgeschrieben und die Tarifbindung deutlich erhöht werden. Und Ingo Kramer, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) postuliert: »Die Unabhängigkeit von staatlichem Einfluss und das verantwortungsvolle Zusammenwirken müssen ein starkes Fundament für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands bleiben.« Und es gibt natürlich auch eine gemeinsame Erklärung von DGB und BDA: 100 Jahre Sozialpartnerschaft – erfolgreich in die Zukunft, so ist die überschrieben. Das hört sich nach einer echten Erfolgsgeschichte an, die aber bereits von den am Anfang dieses Beitrags präsentierten Zahlen gestört wurde.
Auch Meyer hat so seine Zweifel an der Erfolgsgeschichte, die auf dem Festakt zelebriert wurde: »… die Tarifbindung sinkt seit Jahren; Unternehmen wie Ryanair, Amazon oder Zalando wehren sich mit Händen und Füßen gegen den Tarifvertrag. Das sieht in vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht besser aus. Und die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten meldete jüngst, dass die öffentliche Hand im vergangenen Jahr Niedriglöhne mit 4,2 Milliarden Euro aufstocken musste – letztlich eine staatliche Lohnsubventionierung.«
Und er berichtet auch davon, dass einer der anwesenden Gewerkschaftsführer die Gunst der Stunde nutzen wollte: »Es ist eine auf den ersten Blick innovative Forderung, die ver.di-Chef Frank Bsirske aufstellt. Er spricht sich für einen neuen Steuerfreibetrag für Gewerkschaftsmitglieder in tarifgebundenen Unternehmen aus. Konkret würde das einem Betrag von 1.300 bis 1.700 Euro im Jahr entsprechen. Die Forderung ist Konsens im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB).« Die Insider erkennen hier natürlich sofort die seit Jahrzehnten diskutierten Probleme wie das der Trittbrettfahrerei von Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern bei Flächentarifverträgen und den Überlegungen, wie man die Gewerkschaftsmitgliedschaft attraktiver machen kann. Aber die Antwort vom gewerkschaftlichen Gegenüber, also den Arbeitgebern, war zu erwarten: »Subventionen für Sozialpartnerschaft lehnen wir ab, die Sozialpartner müssen sich aus sich selbst heraus fort- und weiterentwickeln. Das ständige Rufen nach Staatshilfe wirkt weder selbstbewusst, noch ist es ein Beitrag, irgendeine Herausforderung zu bewältigen«, so der BDA auf Nachfrage.
Nun leiden nicht nur die Gewerkschaften seit längerem unter Mitgliederschwund, auch die Arbeitgeberverbände verlieren ihrerseits Mitglieder. Dieser Schwund war bei vielen so bedeutsam, dass zahlreiche Arbeitgeberverbände den flüchtenden Unternehmen sogar eine „OT-Mitgliedschaft“ ermöglichen, also das Halten im Verband, ohne die Verpflichtungen aus der Tarifbindung erfüllen zu müssen.
Für die Gewerkschaften ist die Entwicklung einer abnehmenden Tarifbindung ein echtes Problem, vor allem unter Berücksichtigung, dass die bislang auch hier präsentierten Zahlen Durchschnittswerte über alle Branchen sind, es darunter aber Bereiche gibt, in denen man teilweise nur noch von tariffreien Zonen sprechen muss und auch Betriebsräte eher als Unikate vorzufinden sind. Nun sprechen wir hier gerade über Branchen aus dem Dienstleistungsbereich, in dem in den vergangenen Jahren die Beschäftigung am stärksten gewachsen ist, während sie in den tariflich abgesicherten Kernbereichen ehr stagniert oder gar rückläufig ist. Vor allem die Großgewerkschaft ver.di hat mit zahlreichen Branchen zu tun, in denen nicht nur die Tarifbindung eher in Spurenelemente vorhanden ist, sondern in denen alle Bemühungen, diese Situation zu verändern, auch oftmals daran scheitern muss, dass die Organisationsgrad der dort beschäftigten Arbeitnehmer hundsmiserabel schlecht ist, was die Arbeitgeber natürlich wissen und was sie ruhig schlafen lässt.
Gewissermaßen ein Reflex auf diese Umständen sind dann auch die Forderungen aus den Reihen der Gewerkschaften, wie man wieder eine stärkere Tarifbindung bekommen kann. Dazu wurden bereits im vergangenen Jahre Forderungen des DGB veröffentlicht:
➔ Deutscher Gewerkschaftsbund (2017): Positionen zur Stärkung der Tarifbindung, Berlin, 14.02.2018
»Der DGB meint: Der Gesetzgeber muss Rahmenbedingungen schaffen, die die Tarifbindung wieder stärken«, so die Zusammenfassung unter dieser Überschrift: 14 Punkte für mehr Tarifbindung. Also vor allem der Staat soll es richten. Dazu gehört etwa, dass so genannte OT-Mitgliedschaften bei den Arbeitgeberverbänden eingeschränkt werden sollen. Ein weiterer Vorschlag des DGB: Gewerkschaften sollten ein Verbandsklagerecht bekommen, wenn sich ein Unternehmen nicht an den Tarifvertrag hält und Tarifbruch begeht. So müsste nicht jede/r einzelne Beschäftigte selbst gegen die Verstöße des Arbeitgebers klagen. Und auch bei weiteren Forderungen aus dem Katalog ist der Gesetzgeber der Adressat: Im Falle einer Aufspaltung, Abspaltung oder sonstigen Änderung im Rahmen des Umwandlungsrechtes oder eines Betriebsüberganges im Sinne des § 613a BGB müssen Tarifverträge fortgelten. Ketten-Betriebsübergänge können zur Aushebelung und Umgehung der Tarifgeltung führen, deshalb soll das unterbunden werden.
Oder die wichtige Forderung nach einer Stärkung des Instruments der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen – viele werden dabei an den aktuellen und zugleich grundsätzlich lehrbuchhaften Hintergrund einer angestrebten flächendeckenden Tarifbindung in einer wachsenden Branche denken, in der es eine völlig zersplitterte Landschaft an tarifvertraglichen Regelungen (bis hin zu den Arbeitsvertragsrichtlinien der hier besonders bedeutsamen konfessionell gebundenen Arbeitgeber, die dem kirchlichen Sonderarbeitsrecht folgen), gibt und sehr viele Arbeitgebern sind hier überhaupt nicht tarifgebunden: die Altenpflege. Dort sucht die Politik derzeit mehr oder weniger verzweifelt nach einer rechtlich irgendwie zulässigen Möglichkeit, eine Tarifbindung auch per staatlichen Zwang herstellen zu können (vgl. hierzu beispielsweise den Beitrag Löhne wie im öffentlichen Dienst für alle Pflegekräfte von Tina Groll: »Ver.di hat eine Tarifkommission gegründet, um die Voraussetzungen für einen allgemein verbindlichen Tarifvertrag zu schaffen. Doch die privaten Arbeitgeber wehren sich.« Ausführlicher zu den besonderen Problemen in diesem Bereich mein Beitrag vom 1. Juli 2018: Die einen wollen Tariflöhne in der Altenpflege, die anderen die Arbeitgeber genau davor bewahren. Der Weg wird kein einfacher sein).
In dem erwähnten 14-Punkte-Papier des DGB findet man unter der Überschrift „Die Reform der Allgemeinverbindlicherklärung zu Ende führen“ diese Hinweise: »Die jüngste Reform der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen brachte einige Verbesserungen, wie insbesondere die Abschaffung des 50 %-Quorums und die Erleichterungen für gemeinsame Einrichtungen der Tarifvertragsparteien. Nicht berücksichtigt wurde die Forderung der Verhinderung der Veto-Möglichkeit der Arbeitgeber im Tarifausschuss, die damit eine Allgemeinverbindicherklärung verhindern können. Der Abstimmungsmodus muss deshalb so verändert werden, dass im Tarifausschuss ein Antrag, der gemeinsam von den zuständigen Tarifvertragsparteien aus der betroffenen Branche eingebracht wird, dort nur mit Mehrheit abgelehnt werden kann.«
Auf dieses Problem der inneren System-Blockade durch die Option des Arbeitgeber-Vetos gegen jede Allgemeinverbindlicherklärung wird seit langem hingewiesen – beispielsweise in diesem Beitrag vom 9. Mai 2017: Tarifbindung mit Schwindsucht und die Allgemeinverbindlichkeit als möglicher Rettungsanker, der aber in der Luft hängt. Und dass das die Realität ist, kann man diesem aktuellen Beispielfall entnehmen – der wie andere auch zugleich illustriert, dass selbst dann, wenn die konkret betroffenen Arbeitgeber für eine Allgemeinverbindlichkeit sind, die darüber sitzenden Arbeitgeberfunktionäre aus ideologischen Gründen das gemeinsam von den „Sozialpartnern“ vorgetragene Anliegen auflaufen lassen:
➔ Am 11. Oktober 2018 berichtet der Landesinnungsverband des bayerischen Friseurhandwerks unter der Überschrift Vereinigung der bayerischen Wirtschaft verhindert verbindliche Ausbildungsvergütungen für Friseure: »Mit völligem Unverständnis reagieren die bayerischen Friseure auf eine Entscheidung im Tarifausschuss des bayerischen Arbeits- und Sozialministeriums, bei der die branchenfremden Arbeitgebervertreter eine verbindliche Regelung der Ausbildungsvergütung für die knapp 4.000 Friseurazubis in Bayern abgelehnt haben. Der Landesinnungsverband des bayerischen Friseurhandwerks und die Gewerkschaft ver.di haben im Frühjahr einen Tarifvertrag über die Ausbildungsvergütungen abgeschlossen. Dieser Tarifvertrag sollte jetzt durch den Tarifausschuss für allgemeinverbindlich erklärt werden und damit für alle Friseurauszubildenden in Bayern gelten. Das ist im Moment vom Tisch. Damit verhindert die Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (vbw) flächendeckend bessere Ausbildungsvergütungen im Friseurhandwerk … „Es ist ein Skandal und menschenverachtend, dass die Vertreter der Wirtschaft Dumping und Verschlechterung der Ausbildung unterstützen und rechtlich legitimieren“, so Kai Winkler, Vertreter der Gewerkschaft ver.di.«
So einer der vielen Berichte aus der wirklichen Wirklichkeit. Vor diesem Hintergrund ist es zum einen durchaus verständlich, wenn die Gewerkschaften hier eine entsprechende gesetzgeberische Klarstellung einfordern – zum anderen muss man aber daran erinnern dürfen, dass es durchaus Fallkonstellationen gibt, bei denen man auf das Instrumentarium der Allgemeinverbindlicherklärung zurückgreifen muss, um (wieder) Ordnung auf dem jeweiligen Teilarbeitsmarkt zu schaffen (vgl. dazu die zahlreichen Berichte in diesem Blog über die Situation im Einzelhandel, wo es seit der Aufhebung der mal vorhandenen Allgemeinverbindlichkeit im Jahr 2000 einen krassen Rutschbahneffekt der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen gegeben hat), zum anderen muss man aber eben auch darauf hinweisen, dass es sich immer nur um das letzte Mittel handeln sollte, denn dadurch erfolgt eine massive Intervention des Staates in die Tarifautonomie, die mehr als begründungsbedürftig ist und die deshalb keineswegs inflationär genutzt werden darf. Letztendlich, da beißt die Maus keinen Faden ab, sollten die Gewerkschaften neben allen Hoffnungen in die Schützenhilfe vom Staat auf die originäre Organisation der betroffenen Arbeitnehmer in den Branchen setzen, auch wenn das immer schwieriger zu werden scheint und zuweilen auch faktisch eine Handlungsunfähigkeit der Gewerkschaften bedeutet. Aber es gibt nicht nur eine Bringschuld der Gewerkschaften, sondern bei den Arbeitnehmern muss auch ein Mindestmaß an Bereitschaft vorhanden sein, für die kollektiven Interessen einzustehen.
Und die Arbeitgeber? Was sagen die zu der Frage, wie man in Zeiten abnehmender Tarifbindung wieder mehr Tarifbindung herstellen kann? Zum einen gibt es aus dem von den Arbeitgebern finanzierten Institut der deutschen Wirtschaft dazu einige Überlegungen, die man in dieser Veröffentlichung nachlesen kann:
➔ Hagen Lesch / Sandra Vogel / Hannah Busshoff / Adam Giza (2017): Stärkung der Tarifbindung. Ordnungspolitische Überlegungen, empirische Erkenntnisse und offene Fragen. IW-Analysen Nr. 120, Köln: Institut der deutschen Wirtschaft, 2017
Aber in diesem Text findet man überwiegend Beschreibungen und Fragen, kaum Antworten auf die Frage nach mehr Tarifbindung. Dazu gibt es aber nun eine neue Veröffentlichung von Ingo Kramer, dem Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der in der FAZ unter der Überschrift Mehr Tarifbindung nur mit neuer Tarifpolitik! veröffentlicht wurde. Kramer hebt drei Handlungsfelder hervor, auf denen etwas passieren müsse. Wenn man sich diese drei Bereiche anschaut, dann kann man mit Vincent Körner – Mehr Tarifbindung durch weniger Tarifsubstanz? – von einem Dreisatz der weiteren Deregulierung des bestehenden Tarifsystems sprechen – oder aber auch von einer „Wünsch-dir-was-Welt“ der Arbeitgeber:
1.) Mehr Öffnungsklauseln, die Unternehmen Abweichung von kollektiv vereinbarten Verträgen erlauben.
2.) Modulare Tarifverträge, bei denen sich Unternehmen die Bedingungen „auswählen“ können, die ihnen passen.
3.) Möglichkeit, dass auch Betriebsräte diese Modularisierung auf Betriebsebene selbst mit den Unternehmen verabschieden könnten, wodurch dann mit einer Teilgültigkeit von Tarifverträgen bereits eine Tarifbindung erreicht würde.
Eine Umsetzung solcher Baukasten-Forderungen würde zu einer Entkernung der Substanz von Tarifverträgen führen und letztendlich in einer Welt der betrieblichen Bestimmung und Fixierung wesentlichen Teile der Arbeitsbedingungen. Und damit in einem Kontext, der für die Arbeitnehmerseite mehr als ungleichgewichtig ist.
Nun ist das hier behandelte Thema bzw. Problem der Zukunft der „Sozialpartnerschaft“ und der tarifvertraglichen Regelung der Arbeitsbeziehungen keineswegs eines, das nur auf Deutschland beschränkt diskutiert wird (vgl. dazu den Artikel Wie Arbeitgeber und Gewerkschaften die Tarifbindung stärken wollen von Frank Specht). Auch in Österreich läuft eine solche Debatte – und in der Schweiz.
Zur Schweiz vgl. beispielsweise diesen Artikel von Hansueli Schöchli: Härtetest für die Schweizer Sozialpartnerschaft. Auch dort wird man mit wohlfeilen Sonntagsreden konfrontiert: »Die Sozialpartnerschaft hat in der Schweiz einen ähnlichen Status wie die direkte Demokratie und der Föderalismus: Es klingt urhelvetisch, und quer durch das politische Spektrum gehören Glaubensbezeugungen fast zum Pflichtstoff. Auf Betreiben des Wirtschaftsdepartements haben die Spitzenverbände der Sozialpartner mit Bundesrat Johann Schneider-Ammann am Donnerstag in Bern eine «Erklärung zur Zukunft der Arbeit und der Sozialpartnerschaft in der Schweiz im Zeitalter der Digitalisierung» unterzeichnet. Die Erklärung hat Sonntagsschulcharakter – mit wohlklingenden Formeln, die allgemein genug gehalten sind, so dass kaum jemand dagegen sein kann.« Der Verfasser des Artikels ist skeptisch: »Entscheidend ist das Tagesgeschäft, und dort ist zuweilen von „aktiv gelebter Sozialpartnerschaft“ nicht viel zu sehen« und versucht das anhand einiger aktueller Streitpunkte in der Schweiz zu belegen.
Aber man sollte sich immer auch bewusst sein, um was es hier letztendlich geht. Dazu aus dem Artikel von Schöchli: »Sozialpartnerschaft ist eine gute Sache. Das sagen nicht nur die Sozialpartner selbst, sondern auch Studienverfasser wie der globale Länderverein OECD. Auch Gesamtarbeitsverträge können demnach eine gute Sache sein, obwohl sie Kartellabsprachen darstellen. Auf Produktmärkten tönt «Kartellabsprache» fürchterlich, doch auf dem Arbeitsmarkt können Kollektivverträge Vorteile haben. Sie schaffen einen Ausgleich zur potenziell schwachen Verhandlungsposition des einzelnen Arbeitnehmers, verhindern Konflikte, lösen Koordinationsprobleme und nehmen Rücksicht auf die wirtschaftliche Entwicklung .«
Letztendlich geht es nicht nur um die Frage, wie viel Prozent der Beschäftigten von einem Tarifvertrag profitieren können oder nicht. Es geht auch um Fragen, die man diesem Schaubild entnehmen kann, das am Beispiel der USA zu illustrieren versucht, welche Folgen ein abnehmender Organisationsgrad und damit verbundener Einfluss der Gewerkschaften auch haben kann bzw. hat: