Mehr als nur ein Blick in die Glaskugel: IAB-Prognose zur Arbeitsmarktentwicklung 2013/14 – und einige Schlussfolgerungen für die Arbeitsmarktpolitik

Regelmäßig veröffentlicht das zur Bundesagentur für Arbeit gehörende Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) eine Prognose der Arbeitsmarktentwicklung. Einen detaillierten Blick auf die – wahrscheinliche – Arbeitsmarktentwicklung im laufenden und im kommenden Jahr liefert der neue IAB-Kurzbericht 18/2013 mit dem Titel „Arbeitslosigkeit sinkt trotz Beschäftigungsrekord nur wenig“ von Johann Fuchs, Markus Hummel, Christian Hutter, Sabine Klinger, Susanne Wanger, Enzo Weber, Roland Weigand und Gerd Zika. Die Vorhersage der Arbeitsmarktentwicklung ist natürlich eine höchst komplexe Angelegenheit, die von vielen schwer bestimmbaren Faktoren beeinflusst wird. Die wichtigsten Annahmen und Befunde in aller Kürze:
Für 2013 und 2014 geht das IAB davon aus, dass die BIP-Wachstumsraten bei 0,6 Prozent und 1,8 Prozent liegen werden.
Zur Arbeitslosigkeit schreiben die Autoren: Nach einem geringen Anstieg in diesem Jahr wird die Arbeitslosigkeit 2014 wieder sinken, wenn auch nur leicht um 40.000 auf 2,9 Mio. Personen – wobei man hier wieder anmerken muss, dass damit die registrierte Arbeitslosigkeit gemeint ist, die man als Untergrenze der tatsächlichen Betroffenheit von Arbeitslosigkeit verstehen sollte.
Mit Blick auf die Erwerbstätigkeit überbringen die Wissenschaftler erfreulich daherkommende Nachrichten aus dem deutschen „Jobwunderland“: »In diesem und im nächsten Jahr erwarten wir Zuwächse von je 240.000 Personen. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung entwickelt sich noch stärker und erreicht ein neues Allzeithoch.«
Das Arbeitsangebot – gemessen am Erwerbspersonenpotenzial – wird sich weiter vergrößern, denn aufgrund der starken Zuwanderung und einer leicht steigenden Erwerbsbeteiligung geht das IAB von einem Wachstum um 220.000 Personen im Jahr 2013 und um fast 120.000 im Jahr 2014 aus.

Und dann kommt in der Zusammenfassung des IAB zu den eigenen Prognosen eine interessante und hier besonders hervorzuhebende Aussage:

»Mit einem starken Rückgang der Arbeitslosigkeit ist vorerst nicht mehr zu rechnen, strukturelle Probleme werden deutlicher. Um die Beschäftigungschancen wieder zu erhöhen, sollte die Arbeitsmarktpolitik auf eine wirksame Qualifizierungsstrategie fokussiert werden und der steigenden Bedeutung des harten Kerns der Arbeitslosigkeit Rechnung tragen.«

Immer wieder – auch in den Beiträgen hier im Blog „Aktuelle Sozialpolitik“ – wird darauf hingewiesen, dass wir in den vergangenen Jahren, die ja gekennzeichnet waren durch eine insgesamt sehr positive Arbeitsmarktentwicklung und mithin also eigentlich optimale Rahmenbedingungen, gleichzeitig eine Verhärtung der Langzeitarbeitslosigkeit im Grundsicherungssystem (SGB II) beobachten mussten.

Nehmen wir zur Illustration die kritische Berichterstattung von „O-Ton Arbeitsmarkt„. Unter der Überschrift „Langzeitarbeitslose: Verlierer des deutschen Arbeitsmarktes“ wird beispielsweise berichtet: »Während die Zahl der Arbeitslosen in der Arbeitslosenversicherung (SGB III) in den letzten Jahren stark gesunken ist, hat sich bei den Langzeitarbeitslosen (SGB II) daher auch deutlich weniger getan. Ihre Zahl hat sich seit 2009 von etwa 2,2 auf rund zwei Millionen Menschen verringert, ein Minus von 10 Prozent. Die Zahl der Kurzzeitarbeitslosen im SGB III hingegen reduzierte sich zeitgleich von rund 1,2 Millionen auf etwa 900.000 Personen um ganze 24 Prozent … Wenn die Arbeitssuche bei den „Hartz IV“-Arbeitslosen dennoch glückt, ist das Arbeitsverhältnis häufig nicht von Dauer …« Zugleich wird darauf hingewiesen, dass die Zahl der registrierten Arbeitslosen nur eine Teilgruppe darstellt unter den erwerbsfähigen Hartz IV-Empfängern. Und schaut man sich die genauer an, die ergeben sich erschreckende Befunde, die konturieren können, was mit „Verhärtung“ der Langzeitarbeitslosigkeit gemeint ist. Zu den erwerbsfähigen Leistungsempfängern erfahren wir: »Ende des Jahres 2012 waren es rund 4,4 Millionen Menschen. Gegenüber 2009 (4.909 Millionen im Jahresdurchschnitt) hat sich ihre Zahl um lediglich 13 Prozent verringert. Ganze 2,1 Millionen dieser erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, insgesamt 49 Prozent, waren im Dezember 2012 bereits seit mehr als vier Jahren abhängig von „Hartz IV“-Leistungen.«
Die angesprochene Diskrepanz zwischen den an sich guten (ökonomischen) Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt und der Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit wird auch in der IAB-Studie thematisiert: »Die … beschriebene Diskrepanz zwischen den Entwicklungen von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit offenbart, dass die Konjunktur zuletzt nicht kräftig genug war, um strukturelle Schwierigkeiten beim weiteren Abbau von Arbeitslosigkeit zu kom­pensieren« (Fuchs et al. 2013: 5). Die gespaltene Entwicklung wird von den IAB-Wissenschaftlern so formuliert: »Die Beschäftigung hat bis zuletzt ihren Aufwärts­trend fortgesetzt … Einen wesentlichen Beitrag hat das noch immer steigende Erwerbsper­sonenpotenzial geleistet, vor allem die hohe Zuwan­derung. Demgegenüber stagniert die Arbeitslosigkeit seit Längerem mit leicht ungünstiger Tendenz, weil die Chancen zur Beendigung von Arbeitslosigkeit gesunken sind« (Fuchs et al. 2013: 9).

Die IAB-Forscher gehen davon aus, dass es strukturelle Ursachen sind, die einen weiteren Abbau der Arbeitslosigkeit erschweren. Problematisch bleibt nach Auffassung des IAB die Mismatch-Arbeitslosigkeit, die dadurch entsteht, dass für arbeitslose Personen z. B. in einem bestimmten Beruf, einer Branche oder einer Region keine Vakanz vorhanden ist, und umgekehrt.

Was tun? Es werden folgende Handlungsfelder für die zukünftige Arbeitsmarktpolitik skizziert (S. 12):

»Arbeitslose: In der Arbeitsmarktpolitik sollte der Trend stärker in Richtung nachhaltiger und individueller Maßnahmen sowie intensiver Betreuung gehen.«

Wohl wahr, genau das fordern die Kritiker der Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre schon seit langem. Gut, dass es jetzt auch so vom IAB formuliert wird. Was das praktisch bedeutet? Beispielsweise endlich wieder in stärkerem Maße die – eben auch erst einmal in the short run – teureren Umschulungsmaßnahmen zu fördern, die einen Berufsabschluss ermöglichen, der eine wichtige Eintrittskarte auf dem deutschen Arbeitsmarkt darstellt.

Aber das IAB greift auch einen Kritikpunkt aus dem Umfeld der Debatte über das deutsche „Jobwunder“ auf, der sich auf die Qualität der neuen Jobs bezieht:

»Beschäftigte: Dieser Aspekt erhält besondere Re­levanz, da es im letzten Jahrzehnt bei deutlichem Abbau der Arbeitslosigkeit auch zu einem deutlichen Aufbau von Beschäftigung niedrigerer Qualität kam. Will man strukturelle Probleme gerade im unteren Segment des Arbeitsmarktes angehen, so ist nicht nur der Einstieg, sondern auch der Aufstieg im Arbeits­markt essenziell … Weiterbildung, aber auch Betreuung sowie Verstetigung von Beschäfti­gung gehören zu einer Strategie, die von staatlicher Seite unterstützt und wesentlich unter Mitwirkung der Arbeitgeber vorangebracht werden sollte.«

Und auch die jungen Menschen fehlen nicht in dem Aufriss der Aufgaben an die Arbeitsmarktpolitik der vor uns liegenden Monate:

»Junge Generation: Strukturproblemen begegnet man am besten, bevor sie entstehen … Großes Potenzial liegt … noch in der Verbesserung der Chancen bildungsferner Gruppen. Die Ungleichheit verfestigt sich hier von Beginn an bis zum Abschluss des Bildungsweges. Der stärkste Hebel liegt in der frühzeitigen Förderung gerade von Kindern aus sozial benachteiligten Schichten. Die Arbeitsmarktpolitik kann einen Beitrag leisten, indem sie – in Zusam­menarbeit mit den Unternehmen – die Bemühungen für abschlussorientierte Maßnahmen im Hinblick auf eine zweite Chance für junge Erwachsene ohne Berufsabschluss noch weiter verstärkt.«

Alles natürlich in einem Fazit noch sehr allgemein gehalten, aber es ist wichtig, dass diese Punkte in dieser Veröffentlichung des IAB platziert worden sind. Bleibt zu hoffen, dass das Eingang findet in die nun anstehenden Koalitionsverhandlungen.

Das Kreuz mit den Zahlen, aber nicht nur Zahlenspielerei – auch Österreich streitet über „offene“ und „versteckte“ Arbeitslose

In diesen wechselhaften Zeiten ist es schon fast ein Wert an sich, wenn man sich auf ein ewig wiederkehrendes Ritual verlassen kann – gemeint ist an dieser Stelle die allmonatliche Berichterstattung über die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland. Aber mit dem Begriff „die Arbeitslosen“ fängt das Problem schon an.

So verkündete beispielsweise die Bundesagentur für Arbeit für den August 2013 die folgende Botschaft: „Im August ist die Zahl der Arbeitslosen erneut leicht auf 2,94 Millionen gestiegen“. Und genau diese Zahl flimmert dann bereits am Abend über die Bildschirme der Fernseher in den deutschen Wohnstuben und wird am Folgetag auf den ersten Seiten vieler Tageszeitungen zu lesen sein. Aus Sicht der politischen Psychologie besonders wichtig sind natürlich die ,94 hinter der zwei, denn damit liegt die Zahl der Arbeitslosen unter der Grenze von 3 Millionen. Aber wie so oft im Leben gibt es auch in diesem Fall Kritikaster, die sich mit der offiziellen Mitteilung nicht zufrieden geben wollen. Und die gar behaupten, dass die echte Zahl der Arbeitslosen deutlich über den hier ausgewiesenen 2,94 Millionen liegen würde. So beispielsweise – mittlerweile ebenfalls jeden Monat – die Webseite „O-Ton-Arbeitsmarkt„, wo man zu den aktuellen Arbeitsmarktzahlen diesen Hinweis finden kann: „Offizielle Statistik verschweigt über 816.000 Menschen ohne Arbeit„. Wobei man fair sein sollte, den die Statistik der Bundesagentur für Arbeit liefert sehr wohl diese deutlich höheren Zahlen, allerdings wird genau diese Zahl nicht genannt in den Pressekonferenzen des Vorstands der BA, sondern die niedrigere Zahl der „registrierten“ Arbeitslosen, also eben jene 2,94 Mio. Menschen, wird auf den Pressekonferenzen an der vor allem für die Medien relevanten ersten Stelle genannt. Man kann sich dann die Zahl der fehlenden Arbeitslosen aus dem Statistik-Tabellen der Bundesagentur für Arbeit heraus suchen, was aber die wenigsten Journalisten tun.

Und dann ergibt sich eben mit der Befund, auf denen O-Ton-Arbeitsmarkt abstellt: »Denn Monat für Monat filtert die Bundesagentur für Arbeit tatsächlich Arbeitslose aus der offiziellen Arbeitslosenzahl in die Sonderkategorie Unterbeschäftigung. Im Juli über 816.000 Menschen nur deshalb, weil sie etwa an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnahmen, zum Zeitpunkt der Erfassung krankgeschrieben waren oder als über 58-Jährige innerhalb eines Jahres kein Jobangebot erhielten.«

Allerdings muss der Vollständigkeit halber angemerkt werden, dass auch diese um 816.000 Menschen erhöhte Zahl an Arbeitslosen nicht in der Lage ist, die wirkliche Problematik auf dem Arbeitsmarkt in toto abzubilden. Denn das landläufige Gegenteil von Arbeitslosigkeit ist bekanntlich eine Beschäftigung – und viele Menschen assoziieren – oftmals unbewusst – Beschäftigung mit einer normalen Vollzeitbeschäftigung mit einem halbwegs normalen Verdienst. Aber beschäftigt im Sinne der Statistik ist eben auch jemand, der beispielsweise nur einen 450-Euro-Job ausübt oder der nur 20 Stunden in der Woche arbeitet, auch wenn beide eigentlich gerne länger arbeiten würden, wenn es der berühmte Arbeitsmarkt nur hergeben würde. Und natürlich sagt die eine Zahl der Beschäftigten auch nichts darüber aus, zu welchen Bedingungen die „Normalarbeitnehmer“ oder die Minijobber oder die Selbständigen in der Praxis wirklich tätig sind. Aber auch wenn wir uns im Rahmen der konventionellen Arbeitsmarktstatistik bewegen, sind die von den Kritikern ausgewiesenen 816.000 Menschen, die tatsächlich arbeitslos sind und den 2,94 Millionen registrierten Arbeitslosen hinzuzurechnen wären, noch zu niedrig angesetzt. So können wir der IAB-Prognose 2013 „Der Arbeitsmarkt bekommt konjunkturellen Rückenwind“ entnehmen: »Zur Stillen Reserve im engeren Sinn zählen entmu- tigte Personen, die sich trotz Erwerbslosigkeit nicht bei den Arbeitsagenturen melden.« Und diese Gruppe, die zu denen, die sich Maßnahmen oder vorruhestandsähnlichen Maßnahmen befinden, noch hinzuzuzählen wären, hat nach IAB-Angaben ein Volumen von weiteren 720.000 Menschen. Wir werden auf diese hier für Deutschland ausgewiesen Gruppe noch zurückkommen.

Und so richtig schwierig wird es für die allermeisten, wenn man darauf hinweist, dass es nicht nur die 2,94 Millionen Menschen gibt, die offiziell arbeitslos registriert sind, sondern das sich allein im Grundsicherungssystem („Harz-IV“) mehr als 5,2 Millionen erwerbsfähige Leistungsempfänger befinden, von denen ganz offensichtlich viele gar nicht als registrierte Arbeitslose gezählt werden, obgleich sie erwerbsfähig und zugleich hilfebedürftig sind (vgl. hierzu den Blog-Beitrag „Mit den Millionen kann man schon mal durcheinander kommen: Von Leistungsberechtigten, An-sich-Leistungsberechtigten und der Restgruppe der Arbeitslosen. Und was das alles mit dem Regelsatz für Hartz IV-Empfänger zu tun hat“ auf dieser Website).

Aber alle diese Punkte sollen hier nicht weiter diskutiert, sondern der Blick soll über die Landesgrenzen nach Österreich gerichtet werden, wo es jetzt ebenfalls eine interessante Debatte darüber gibt, wer eigentlich – wirklich – arbeitslos ist und wer davon (nicht) gezählt wird. Österreich ist auch deshalb interessant, weil es nicht nur wie Deutschland im europäischen Vergleich über eine niedrige Arbeitslosenquote verfügt, sondern ganz konkret im EU-Vergleich der offiziellen Arbeitslosenzahlen auf dem ersten Platz mit einer entsprechend niedrigen Arbeitslosenquote rangieren kann. Also eine echte Erfolgsstory, die sich natürlich generell, vor allem aber in Zeiten des Wahlkampfs, gut verkaufen lässt. So wie derzeit gerade. Da mag man es aus der Perspektive der herrschenden Kräfte gar nicht, wenn jemand kommt und behauptet, die Arbeitslosenzahlen wären viel zu niedrig ausgewiesen. Und mit dem Platz 1 im EU-Vergleich ist es auch vorbei. Aber der Reihe nach.

Offiziell gibt es in Österreich 220.000 Arbeitslose. Das ist eine erfreulich niedrige Zahl. Laut der Statistikbehörde Eurostat gibt es seit 2010 keinen anderen EU-Staat, in dem die Arbeitslosenquote derart niedrig gewesen wäre. Aber die Zahl der offiziell ausgewiesenen Arbeitslosen wird nun durch eine neue Studie angegriffen, wie der „Standard“ in seiner Online-Ausgabe berichtet („250.000 Arbeitslose jenseits der Statistik„):

»… Ökonomen der Denkfabrik Agenda Austria haben nachgerechnet und kommen zu teils erstaunlichen Ergebnissen über die wahre Zahl der Arbeitslosen in Österreich. Demnach gibt es in Österreich 250.000 versteckte Arbeitslose, die meisten von ihnen sind zwischen 55 und 64 Jahre alt. Rechnet man sie in die Statistik mit ein, wäre Österreichs Arbeitslosenquote im ersten Quartal 2013 nicht bei 5,1, sondern bei 10,3 Prozent gelegen. Im Europavergleich stünde die Republik zwar immer noch gut da, den Spitzenplatz in der EU wäre man aber los.«

Die Agenda Austria ist eine von Industriellen und vermögenden Privatleuten finanzierte Forschungseinrichtung unter Leitung des illustren Dr. Franz Schellhorn, ehemals Journalist bei der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“. Auch die Tageszeitung „Kurier“ berichtet in ihrer Online-Ausgabe von den neuen Ergebnissen: „Auf den Spuren der versteckten Arbeitslosig­keit. Studie: Heimische Arbeitslosen-Quote in Wirklichkeit doppelt so hoch wie angegeben„. So etwas kommt in der Endphase des Wahlkampfs in Österreich bei vielen sicher nicht gut an, aber wir schauen trotzdem oder gerade deswegen mal genauer hin:

Grundlage ist die Studie „Österreich, das Land der versteckten Arbeitslosigkeit“ der „Denkfabrik“ Agenda Austria. Darin kommen die beiden Autoren zu dem Ergebnis, dass man »vor allem bei den AMS-Schulungsteilnehmern, Frühpensionisten und der sogenannten „stillen Reserve“ fündig« geworden sei. Diese Gruppe erklären die Differenz zwischen den offen ausgewiesenen und den nun genannten „tatsächlichen“ Arbeitslosen. Wobei man an dieser Stelle darauf hinweisen sollte, dass der AMS – also das österreichische Pendant zur Bundesagentur für Arbeit – bei den allmonatlichen Präsentationen immer sehr deutlich auf die Zahl der Schulungsteilnehmer hinweist, offensiver als die BA. »„Österreich versteckt vor allem bei den 55- bis 64-Jährigen jede Menge Arbeitslose, dafür sind wir bei den Jüngeren wider Erwarten gut“, meint Agenda-Austria-Chef Franz Schellhorn und verweist auf die im EU-Vergleich nach wie vor niedrige Erwerbsquote bei den Älteren. Der Spitzenplatz bei der EU-Arbeitslosenquote sei aber mit teuren Frühpensionierungen erkauft worden«, schreibt der Kurier. Die Studie spricht an dieser Stelle von rund 81.000 versteckt Arbeitslose in dieser Altersgruppe und damit weit mehr als die 60.000 Menschen in Schulungsmaßnahmen des AMS, die auch nicht auftauchen in der offiziellen Zahl. Der Rest der Differenz speist sich aus der hier schon für Deutschland angesprochenen „stillen Reserve“, die auf 190.000 taxiert wird.

Aber auch Eurostat weist die „stille Reserve“ für Österreich auf der Basis der monatlich 1.500 Haushaltsbefragungen aus, nur tauchen die eben nicht in der offiziellen Arbeitslosenzahl auf, denn sie sind ja auch nicht offiziell arbeitslos. Eurostat kommt derzeit auf 126.000 Menschen in dieser Gruppe.

„Diese Zahl gibt es, die Medien interessieren sich nicht für sie“ , wird Melitta Fasching von der Statistik Austria zutreffend in dem Kurier-Artikel zitiert. Und auf die Frage, warum diese Menschen nicht auch offiziell ausgewiesen werden, sagt sie: „Die stille Reserve ist keine homogene Gruppe – zu ihr zählen Pensionisten ebenso wie Studenten und Eltern, die ihre Kinder betreuen“ , sagt Fasching, „es mache wenig Sinn, sie mit klassischen Arbeitssuchenden in einen Topf zu werfen“.
Das AMS kann mit der Studie wenig anfangen: „Die Zahlen sind überhaupt nicht nachvollziehbar“, so Sprecherin Beate Sprenger. Den betroffenen Frühpensionisten werde automatisch ein Arbeitswunsch unterstellt, was man bei den Frühpensionisten durchaus diskutieren kann und muss. Und IHS-Arbeitsmarktexperte Helmut Hofer hält es für unseriös, ein mögliches, aber theoretisches Beschäftigungspotenzial pauschal als Arbeitslose zu bezeichnen.

Da ist er schon, der Mindestlohn. Bevor sich die Parteien nach der Bundestagswahl überhaupt sortiert haben, wird schon wieder mit Studien hantiert

Diese Schlagzeile ist natürlich kein Zufall, sondern bewusst platziert: „Forscher halten Mindestlohn von 8,50 Euro für zu hoch„. Denn während die Parteien am Tag 2 nach der Bundestagswahl entweder noch staunend die knapp verpasste absolute Mehrheit betasten oder sich als Oppositionsparteien SPD und Grüne vor dem Anruf der Bundeskanzlerin fürchten, weil sie ahnen, was ihnen in einer Koalition drohen könnte/wird, versuchen alle möglichen Akteure ihre Anliegen und Inhalte in und über die Medien in das politische Grundrauschen einzuspeisen, damit sie bei den irgendwann dann doch anstehenden Koalitionsverhandlungen Berücksichtigung finden können. Und das angesichts der Bedeutung, die das Thema bei den Noch-Oppositionsparteien hat, in diesen Verhandlungen der Mindestlohn eine wichtige, symbolhafte Bedeutung bekommen wird, erscheint nun wirklich sehr plausibel.

Die Ausgangslage ist relativ einfach: Es geht um zwei Grundsatzfragen, die entschieden werden müssen:

  1. Soll es einen einheitlichen, gesetzlichen Mindestlohn geben, der quer über alle Branchen und Regionen Gültigkeit hätte oder doch eher ein System von zahlreichen nach Branchen und Regionen ausdifferenzierten Lohnuntergrenzen, die von den Tarifparteien zu vereinbaren wären, aber nur da, wo derzeit keine wie auch immer gearteten tariflichen Regelungen existieren?
  2. Und wenn es einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn geben würde, welche Höhe soll denn dieser allgemeine Mindestlohn haben? 8,50 Euro, 10 Euro gar – oder doch lieber erst mal deutlich unter diesen in der öffentlichen Debatte bereits gesetzten Werte bleiben?

Immer mehr in den Hintergrund rückt die bislang dominierende Grundlinie des Streits über den Mindestlohn an sich: Auf der einen Seite die Apologeten einer „Mindestlohn-löst-ganz-viele-Probleme“-Erwartungshaltung, auf der anderen Seite die Funktionäre der Wirtschaft wie auch großer Teile des deutschen Establishments der Wirtschaftswissenschaft, die mit der Einführung eines Mindestlohns den Teufel höchstselbst vor unserer Haustür klingeln sehen und teilweise – wie der Herr Sinn vom ifo-Institut – millionenfache Jobverluste im Kaffeesatz gefunden haben. Angesichts der neuen Machtverhältnisse seit der Bundestagswahl und der aus ihr entspringenden Zwangsläufigkeit einer wie auch immer gefärbten Koalition von Frau Merkel mit den Roten oder Grünen wird auch den Teufelsaustreibern klar sein, dass der Mindestlohn kommen wird. Also macht es Sinn, die Argumentationskraft zu fokussieren auf die letztendliche Höhe dieser Regulierung des Preises für den Faktor Arbeit.

So muss man dann wohl auch die neue Studie des DIW verstehen und einordnen, über die heute schon auf Spiegel Online berichtet wird, obgleich sie erst morgen der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll. Die Hauptbotschaft wird folgendermaßen zusammen gefasst: »Die möglichen Koalitionspartner der Union wollen einen Mindestlohn von 8,50 Euro. Doch der könnte laut einer DIW-Studie kleine Betriebe in Schwierigkeiten bringen und die Zahl der Minijobs steigen lassen. Die Forscher empfehlen, niedriger einzusteigen.« Das DIW konstatiert auf der einen Seite, dass die Einführung einer Untergrenze von 8,50 Euro demnach wie gewünscht die Ausbreitung von Niedriglöhnen in bestimmten Branchen bremsen könnte, ohne international tätige Unternehmen in ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden. Auf der anderen Seite wird hervorgehoben, dass insbesondere Kleinste- und Kleinbetriebe von einem Mindestlohn in dieser Höhe getroffen werden und versuchen müssen, die damit verbundenen höheren Kosten an die Verbraucher in Form höherer Preise weiterzureichen.

Zwar würden nach den DIW-Berechnungen immerhin 17% der Arbeitnehmer unmittelbar in Form höherer Stundenentgelte profitieren, aber zugleich wird darauf hingewiesen, dass – angeblich – nur etwa ein Viertel der zusätzlichen Lohnsumme in der Haushaltskasse ankommen wird. Das DIW betont außerdem, dass auch das Aufstocker-Phänomen größtenteils nicht wirklich gelöst wird, denn die Mehrheit der Aufstocker im Grundsicherungssystem gehen einer geringfügigen Beschäftigung nach – allerdings, das taucht in dem Beitrag nicht auf, würde der systematischen Subventionierung von Niedrigstlöhnen über Steuermittel ein gewisser Riegel vorgeschoben werden können.
Die DIW-Forscher befürchten deshalb, dass Arbeitgeber noch häufiger Minijobs anbieten würden. „Die Abkehr von Normalarbeitsverhältnissen zulasten der Sozialversicherungen könnte einen neuen Schub erhalten“, so ein Zitat aus der noch nicht veröffentlichten Studie – was allerdings auch so gelesen werden kann, dass man sich ja mal Gedanken machen könnte über die (Un-)Sinnhaftigkeit der Minijobs in der heutigen Form an sich.

Immerhin: „Es gibt keine eindeutigen Belege dafür, dass ein Mindestlohn zu Arbeitsplatzverlusten führt“, so die DIW-Studie.

Aber das DIW gibt sich pragmatisch: Die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns sei ein „Feldexperiment“, das vorsichtig begonnen werden sollte. Es wird dafür plädiert, etwas tiefer als bei 8,50 Euro einzusteigen, eventuell bei sieben Euro. „Dann sollte man die Dosis langsam erhöhen – wenn es funktioniert.“

Während das DIW das große Menetekel Arbeitsplatzabbau für weitgehend gegenstandslos erklärt (wenn man es denn nicht übertreibt mit der Höhe), wirft Johannes Pennekamp in der FAZ genau diese Frage bereits in seiner Artikelüberschrift erneut auf den Markt: „Vernichten Mindestlöhne Arbeitsplätze?“ Und auch er bezieht sich bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, auf Studien, denn »die wissenschaftlichen Arbeiten, die die tatsächliche Wirkung strikter Lohnuntergrenzen untersucht haben, ergeben ein sehr viel differenzierteres Bild. In mehreren empirische Studien aus dem Ausland konnten keine negativen Beschäftigungseffekte festgestellt werden.«
Er verweist am Anfang seines Beitrags auf ein derzeit von den Mindestlohn-Gegnern gerne zitiertes Negativbeispiel:

»Als Musterbeispiel dafür, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten oder den Einstieg in den Arbeitsmarkt von vornherein verhindern, gilt Frankreich. Der Mindestlohn betrug dort zuletzt 9,43 Euro, die Arbeitslosigkeit der 15 bis 24 Jahre alten Franzosen betrug im vergangenen Jahr nach OECD-Angaben beinahe 24 Prozent. Eine Reihe wissenschaftlicher Studien sieht einen direkten Zusammenhang … Und die französischen Ökonomen Peirre Cahuc und Stéphane Carcillo kamen im vergangenen Jahr zu dem Schluss, dass ein einprozentiger Anstieg der Arbeitskosten die Beschäftigung unter den Geringqualifizierten um ein Prozent reduziere.«

Aber wo das Schlechte verweilt, da ist das Gute nicht weit. Es gibt eben auch Positivbeispiele:

»Für Schlagzeilen sorgte vor zwei Jahren eine Studie aus den Vereinigten Staaten, in der Arbeitsmarktforscher der Eliteuniversität Berkeley zu dem Schluss kommen, das Mindestlohnerhöhungen „starke Verdiensteffekte und keine Beschäftigungseffekte“ nach sich ziehen. Aus der Masse empirischer Mindestlohnstudien ragte die Arbeit heraus, da die Forscher nicht nur isoliert zwei Regionen  – eine mit und eine ohne Mindestlohn – über einen kurzen Zeitraum miteinander verglichen. Sie betrachteten stattdessen Regionen im ganzen Land und griffen auf Daten aus einzelnen Counties (Landkreise) zurück. Da der Untersuchungszeitraum auf 16 Jahre ausgedehnt wurde, konnten auch Langzeitfolgen eingeführter oder erhöhter Mindestlöhne betrachtet werden. Am positiven Fazit der Forscher änderte das nichts.«

Auch  aus Großbritannien, einem Land, in dem seit vielen Jahren ein flächendeckender Mindestlohn existiert, werden positive Studienergebnisse berichtet. Und die haben mit der „Low Pay Commission“ auch ein durchaus interessantes und vor allem schlankes Verfahren der Festlegung der Mindestlohnhöhe gefunden, bei dem gerade die tatsächlichen Arbeitsmarkteffekte umfassende Berücksichtigung finden.

Wir dürfen gespannt sein, wie die Mindestlohndiskussion in die Koalitionsverhandlungen rein geht und wie sie wieder raus kommen wird.