Zunehmende Ungleichheit in Deutschland gibt es nicht? Oben hui, unten pfui, meint hingegen der DGB-Verteilungsbericht

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat einen Verteilungsbericht mit umfangreichen Daten zur Einkommensentwicklung der privaten Haushalte, der Verteilung des Vermögens und zu Veränderungen am Arbeitsmarkt in den vergangenen zwei Jahrzehnten zusammengestellt. Darüber berichtet Stefan Sauer in seinem Artikel DGB-Verteilungsbericht: Wachsende Kluft zwischen hohen und geringen Einkommen. Mit aufschlussreichen Daten, beispielsweise zur Entwicklung der Einkommen aus unselbstständiger Arbeit: »Zwischen 2000 und 2016 stiegen die inflationsbereinigten Nettolöhne im Mittel um jährlich 0,3 Prozent. Umgerechnet in Euro und Cent erzielte das mittlere Nettoarbeitseinkommen ein preisbereinigtes Plus von 1398 auf 1468 Euro. 70 Euro mehr Kaufkraft innerhalb von 16 Jahren?« Das kommt bescheiden daher. In Norwegen waren es 2,2 Prozent jährlich. »Auch Deutschland ähnlichere Länder wie Frankreich (0,7 Prozent pro Jahr) und Großbritannien (0,5 Prozent) verzeichneten höhere Reallohnzuwächse.« Das Wachstum der Reallöhne an sich ist das eine, besonders problematisch aber erscheint die Verteilung des Anstiegs, von Stefan Sauer so auf den Punkt gebracht: »Oben hui, unten pfui.«

Wieder einmal werden wir mit der Tatsache konfrontiert, dass (fast) alles im Leben ungleich verteilt ist, schaut man sich die differenzierten Daten an:

»Das Fünftel der Beschäftigten mit den geringsten Stundenlöhnen musste zwischen 1995 und 2015 einen Reallohnverlust von sieben Prozent hinnehmen, auch das darüber liegende Fünftel kam preisbereinigt noch auf ein Minus von fünf Prozent. Erst das mittlere Fünftel weist ein Plus von 2,5 Prozent auf, während die oberen beiden Fünftel einen Reallohnanstieg von neun Prozent erzielten.«

Der DGB benennt als Ursache für dieses Auseinanderlaufen vor allem den gewachsenen Niedriglohnsektor. „Die ungleiche Verteilung führt zu geringerer Kaufkraft von Millionen Menschen mit niedrigem Einkommen und in der Summe zu weniger Nachfrage, die wiederum Investitionen der Unternehmen beeinträchtigt“, wird Stefan Körzell vom DGB-Bundesvorstand zitiert. Selbst OECD und IWF befürworteten mittlerweile Maßnahmen gegen die wachsende Ungleichheit (vgl. dazu ausführlicher Stefan Sell: Vom Streit über »echte« oder »vermeintliche« Armut zur Ungleichheit als sozial­ politisches und ökonomisches Problem, in: ifo Schnelldienst, Heft 10/2017, S. 9-12).

Und auch die „soziale Mobilität“ wird thematisiert: Den »amtlichen Daten zufolge gelingt es Armen und Geringverdienern … immer seltener, ihre Einkommenssituation nachhaltig zu verbessern. 1995 befanden sich 42,5 Prozent der armutsgefährdeten Personen in der gleichen Notlage wie fünf Jahre zuvor. 2013 war diese „Verharrungsquote“ am unteren Rand auf 50 Prozent gestiegen. Umgekehrt gelang Topverdienern, die mindestens das Dreifache des mittleren Monatsnettoeinkommens erhalten, häufig ein weiterer Karriereschritt: Ihre „Aufstiegsquote“ in die nächst höhere Einkommensklasse stieg von 10,2 Prozent 1995 auf 13,2 Prozent 2013.«

Und auch die Zahlen zur Verteilung der Vermögen sind ernüchternd: »Während die betuchtesten zehn Prozent der Bevölkerung 60 Prozent des gesamten Nettovermögens (Eigentum minus Schulden) besitzen, verfügt die finanzschwächere Hälfte nur über 2,5 Prozent.  Oder anders: Das vermögendste Prozent hält ebenso viel Nettovermögen wie 87 Prozent der Bevölkerung.«

Das sind nur einige Aspekte aus dem neuen Bericht, den man sich hier im Original anschauen kann:

DGB Bundesvorstand (Hrsg.) (2017): Jetzt handeln – Ungleichheit bekämpfen. DGB Verteilungsbericht 2017, Berlin, Juni 2017

Kinder der Krise. Millennials sind rund 40 Prozent ärmer als ihre Eltern. „Nur“ in den USA?

Wir gehören alle zu einer bestimmten Generation. Auch wenn die Abgrenzung ein naturgemäß schwieriges Unterfangen ist, so ist man doch immer wieder konfrontiert worden mit den „Baby Boomern“ (geboren zwischen 1946 and 1964, also in den USA, in Deutschland verschiebt sich das dann schon ein wenig) oder die „Generation X“ (geboren zwischen 1965 and 1980). Und die nach 1980 Geborenen werden als „Millennials“ bezeichnet – zuweilen und gerade bei uns auch als „Generation Y“ bekannt. Mit dieser Typologie arbeiten beispielsweise Lisa Dettling and Joanne W. Hsu in ihrem Artikel Playing Catch-up, der in der Zeitschrift „Finance & Development“, die vom Internationalen Währungsfonds herausgegeben wird. Dettling und Hsu beschäftigen sich mit diesem Thema: »Millennials began to enter the workforce during the most severe global economic crisis since the Great Depression, and their present and future economic decisions will be shaped by the historic upheaval in housing, financial, and labor markets they faced at the onset of adulthood. Millennials must also contend with other emerging issues critical to their prospects of building wealth, such as the rapidly escalating cost of higher education and uncertain retirement income.« Und sie kommen zu interessanten Ergebnissen.

Sie untersuchen die Auswirkungen unterschiedlicher Muster der makroökonomischen Bedingungen, die beim Einstieg in das Erwerbsleben gegeben waren, auf die finanzielle Situation typischer Haushalte in den verschiedenen Generationen. Datentechnisch beziehen sie sich auf den Survey of Consumer Finances, einer repräsentativen Untersuchung des amerikanischen Notenbank Fed. Die Daten beziehen sich also auf US-amerikanische Haushalte.

Einer der wichtigsten Befunde der Studie von Dettling und Hsu, der auch in der Abbildung am Anfang dieses Beitrags erkennbar wird: » Between ages 25 and 34, the typical millennial’s net worth was about 60 percent that of the typical baby boomer at the same age. And although baby boomers and Gen Xers looked similar in young adulthood, Gen Xers are currently faring worse than their baby boomer counterparts at the same age, due in part to the Great Recession.«

Die Studie wurde auch in diesem Artikel aufgegriffen: Kinder der Krise: Millennials sind rund 40 Prozent ärmer als ihre Eltern. »Laut IWF-Berechnungen profitierten frühere Generationen in den Industrieländern von einem wesentlich besseren gesamtwirtschaftlichen Umfeld. Auch wenn die Wirtschaftskrise überstanden scheint, bleibt das Wachstum doch weit hinter den Raten vergangener Jahrzehnte zurück … Zwar sinkt die Arbeitslosigkeit. Doch die Lohnentwicklung bleibt überraschend schwach.«

»Im Durchschnitt hat die Generation Y in den entwickelten Ökonomien ein 40 Prozent geringeres Vermögen als die Baby Boomer oder die Generation X zu ihrer Zeit, errechnet der IWF. Ein Grund dafür sei, dass die jungen Menschen heute seltener Immobilien erwerben können als früher.

Gleichzeitig kommen auf sie höhere Kosten für Bildung zu, insbesondere in Ländern wie den Vereinigten Staaten. Als Folge „starten Millennials ihr Berufsleben mit wesentlich höheren Schulden als junge Erwachsene früherer Generationen“, stellt der IWF fest. Das verschärft ein weiteres Problem der Jungen: die Sicherung des Alters. „Die Renten-Landschaft hat sich dramatisch geändert, seit die in den Sechzigern Geborenen ihr Berufsleben begannen“, so der Fonds. Die meisten Staaten hätten die Rentenleistungen gekürzt. Folge: drohende Altersarmut.«

Man muss an dieser Stelle allerdings anmerken, dass genau genommen die Werte, die da zitiert werden mit Bezug auf die Studie von Dettling/Hsu, erst einmal „nur“ für die USA gelten und deshalb nicht eins zu eins übertragen werden können beispielsweise auf Deutschland – das kann man nachvollziehen, wenn man die Bedeutung steigender Ausbildungskosten für die jüngere Generation betrachtet, die in den USA den rapide gestiegenen Studiengebühren geschuldet sind, die es so in dieser Form nicht gibt. Andere Aspekte sind aber sicher gut übertragbar, so beispielsweise die Tatsache, dass es für die jüngere Generation heute wesentlich schwerer ist als für die Vorgänger, Wohneigentum zu erwerben.

Wie immer hängt eine Menge an der Arbeitsmarktentwicklung. Und mit Blick auf den Arbeitsmarkt der vor uns liegenden Jahre heben auch die IWF-Autoren die Dramatik hervor. Dazu beispielsweise der Beitrag von Arun Sundararajan: The Future of Work: »The digital economy will sharply erode the traditional employer-employee relationship.« Um Arbeitsplätze zu verbilligen und zu automatisieren, zerlegen die Unternehmen Vollzeitjobs in einzelne Aufgaben und Projekte. Das Arbeitsleben wird zersplittert. Vorbei die Zeiten, in denen man jahrelang zu festen Zeiten für das gleiche Unternehmen arbeitete. „Die Macht der Gewerkschaften wird schwinden“, prophezeit Sudararajan. Das Problem dabei sei, dass das System der sozialen Sicherung meist noch auf Vollzeitjobs basiere: Mindestlöhne, bezahlter Urlaub, Rente, Krankenversicherung. Dieses System gerät aus den Fugen. „Die Herausforderungen für die Millennial-Arbeitnehmer sind recht beängstigend“, so Sudararajan.

Das hat auch Auswirkungen in Deutschland, wo die Wirtschaft deutlich besser läuft als in vielen anderen Ländern und die Arbeitsmarktlage deutlich entspannter geworden ist aufgrund der demografischen Entwicklung. Dennoch: Nur einer von drei Millennials blickt zuversichtlich in die Zukunft, meint eine Umfrage der Unternehmensberatung Deloitte gefunden zu haben. Nur jeder achte glaube, ihm werde es finanziell besser gehen als den Eltern. Vgl. dazu Deloitte Millennial Survey 2017.

Abzüglich des zu berücksichtigenden „typisch deutschen“ Grundpessimismus wird es nicht verkehrt sein, anzunehmen, dass die Entwicklung so weitergeht.

Das hat auch Folgen für die politische Haltung eines Teils der jungen Generation, folgt man diesen Ausführungen: »Laut Deloitte wünscht sich immerhin ein Drittel der deutsche Millennials einen radikalen Wandel der Gesellschaft. In Großbritannien, den USA und Frankreich wenden sich die jungen Menschen den „alten Sozialisten“ zu. „Das Manifest der britischen Labour-Partei wurde von der Presse als ‚Rückschritt in die 70er Jahre’ bezeichnet“, schreibt die 29jährige Sarah L. June in der New York Times. „Für einige mag das wie eine Bedrohung geklungen haben, aber für viele junge Menschen ist es ein Versprechen.“

Abb.: IMF (2017), Amassing wealth

Soziale Ungleichheit bei der Wahlbeteiligung – und durch die Wahlen? Eine sozialpolitische Herausforderung

Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen liegt hinter uns und hat ein Erdbeben in der Politik ausgelöst. Die Sozialdemokratie habe ihre „Herzkammer“ verloren, wenn man der blumigen Terminologie folgen will. Und die dritte Wahlniederlage der SPD in Folge seit der Inthronisation des Kanzlerkandidaten Martin Schulz hat den offensichtlich mehr als lädiert. Die Umfragewerte für die SPD gehen nach unten und die für die Union nach oben. In einem Abwasch wird dann auch gleich behauptet, auf das Thema soziale Gerechtigkeit zu setzen, zahle sich nicht aus, das könne man ja jetzt sehen, weil es die Leute gar nicht interessiert, denn es gehe ihnen gut. Interessanterweise zeigt allerdings eine Analyse der Themen, die für die Wähler wahlentscheidend waren, dass in NRW mit 46 Prozent auf Platz 1 die „Soziale Gerechtigkeit“ stand, so infratest dimap, wie Philipp Seibt in seinem Artikel Drei Lehren für das große Finale berichtet. Was daraus dann hinsichtlich der konkreten Wahlentscheidung folgt und wie das mit den anderen Themen gewichtet wird, darüber kann man sicher lange streiten.

Aber nicht bestreiten lässt sich diese Diagnose: »Die wachsende Kluft zwischen armen und reichen Stadtvierteln zeigt sich immer deutlicher auch in der Wahlbeteiligung. Während in den sozialen Brennpunkten der Städte in Nordrhein-Westfalen Wahlmüdigkeit und Demokratieverdrossenheit wachsen, kommt es in den besseren Vierteln zu „einer Art bürgerlicher Gegenmobilisierung“, ergab eine Studie der Bertelsmann Stiftung. Damit verschärft sich ein besorgniserregender Trend der vergangenen Jahre. 

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EU-Kommission blickt kritisch auf die Armuts- und Ungleichheitsentwicklung in Deutschland

Die Europäische Kommission hält der Bundesregierung schwere Versäumnisse bei der Bekämpfung der sozialen Not in Deutschland vor. So Markus Sievers in seinem Artikel EU prangert Armut in Deutschland an. Er bezieht sich dabei auf einen in der hiesigen Debatte nur wenig rezipierten Bericht der EU-Kommission:

Europäische Kommission (2017): Länderbericht Deutschland 2017 mit eingehender Überprüfung der Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte, Brüssel, 22.02.2017

Wörtlich schreibt die Brüsseler Behörde in ihrem aktuellen Länderbericht: „Im Zeitraum 2008 bis 2014 hat die deutsche Politik im hohem Maße zur Vergrößerung der Armut beigetragen.“ Wie kann das sein? Markus Sievers fasst die Argumentation der Kommission dahingehend zusammen, »dass bedarfsabhängige Leistungen „real und im Verhältnis zur Einkommensentwicklung gesunken sind“. Damit sind zwei Fehlleistungen angesprochen, die sich die Bundesregierung nach dem Befund der Kommission vorwerfen lassen muss. Erstens erhöhte sie die Unterstützung etwa für Hartz IV-Bezieher, Wohngeld-Empfänger oder BaföG-Berechtigte nicht einmal in dem Maß, um für die Betroffenen die Kaufkraftverluste durch die Preissteigerung auszugleichen. Zweitens ignorierte sie den  Wohlstandsanstieg in weiten Teilen der Bevölkerung, von dem die Menschen am unteren Ende der Einkommensskala abgekoppelt wurden.«

Im Länderbericht Deutschland 2017 der Kommission findet man diese Ausführungen:

»Trotz der insgesamt positiven Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklungen der vergangenen Jahre haben die Einkommensunterschiede zugenommen und schwächen sich erst seit Kurzem wieder ab, während die Vermögensungleichverteilung nach wie vor eine der größten im Euroraum ist.« (S. 7)

Woran macht die Kommission das fest?

»Bedingt durch ungünstige Entwicklungen am Arbeitsmarkt und das zunehmende Gewicht von Kapitaleinkünften im Vergleich zu Arbeitseinkommen wuchs die anhand des S80 /S20-Indikators* bestimmte Einkommensungleichverteilung bis 2007 auf 4,8 an. 2012 ging sie auf 4,3 zurück und stieg 2014 erneut auf 5,1. Wenngleich sie nach wie vor knapp unter dem EU-Durchschnitt liegt, war dies doch der höchste jemals erfasste Wert. Das gleiche Muster gilt auch für den GINI-Index.« (S. 7)
* Der S80/S20-Indikator – oder Einkommensquintilverhältnis – misst das verfügbare Äquivalenzeinkommen der reichsten 20 % der Haushalte im Verhältnis zu den ärmsten 20 %. 2015 lag der EU- Durchschnitt bei 5,2, d. h. das Einkommen des reichsten Fünftels der Haushalte lag 5,2-fach über dem Einkommen des ärmsten Fünftels.

Aber der Arbeitsmarkt brummt doch, die Beschäftigung erreicht immer neue Höchststände? Immer wieder hören und lesen wir vom „Jobwunder“ in Deutschland. Ja, aber … Mit dem „der“ Arbeitsmarkt ist das so eine Sache:

»Im relativ großen Niedriglohnsektor wurden neue Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen, was die Einkommensungleichverteilung und die Armut trotz Erwerbstätigkeit aber eher verschärft. Auch die durch die relativ starke Korrelation zwischen sozioökonomischem Hintergrund und Bildungsabschluss bedingten geringen Aufstiegschancen tragen weiter zu dieser Ungleichverteilung bei.«

Und die (mögliche) Umverteilungspolitik in Deutschland bekommt keine guten Noten:

»Auch haben die Umverteilungsmaßnahmen, die Ungleichverteilung und Armut entgegenwirken sollen, an Wirksamkeit eingebüßt. Im Zeitraum 2008-2014 hat die deutsche Politik in hohem Maße zur Vergrößerung der Armut beigetragen, was auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass die bedarfsabhängigen Leistungen real und im Verhältnis zur Einkommensentwicklung gesunken sind … Eine Reihe früherer Änderungen bei Steuern und Sozialabgaben könnten ebenfalls zu einem Teil für die nachlassende Wirksamkeit der Umverteilungsmaßnahmen verantwortlich sein. Die Abschaffung der Vermögenssteuer im Jahr 1997, die Absenkung des Einkommensteuerspitzensatzes von 53 % im Jahr 2000 auf 42% im Jahr 2004, die pauschale Besteuerung von Kapitalerträgen seit 2009 und die Anhebungen der Sozialversicherungsbeiträge seit Anfang der 1990er Jahre haben dazu beigetragen, den progressiven Charakter des Steuersystems zu verringern, und die Einkommensunterschiede möglicherweise zu erhöhen.« (S. 7)

Die Ausführungen der EU-Kommission in ihrem Länderbericht Deutschland 2017 sind eine wichtige Ergänzung zu dem, was uns in den kommenden Woche (wieder) droht, wenn die Bundesregierung ihren neuen, den „5. Armut- und Reichtumsbericht“ veröffentlichen wird, der sich derzeit in der finalen Ressortabstimmung befindet – vgl. den Entwurf des 5. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung (Stand: 13.12.2016). Die Debatte ist schon in vollem Gange, vgl. beispielsweise die Positionierung des DGB: Armut stagniert auf hohem Niveau. Armutsbericht der Regierung belegt dringenden Handlungsbedarf. Nun handelt es sich um einen Bericht der Bundesregierung und deshalb auch die Abstimmung unter den Ministerien, was da in der finalen Fassung drin stehen darf und soll. Auch das wird immer wieder kritisiert – eine Alternative dazu wäre die Umsetzung dieses Vorschlags: Armuts- und Reichtumsbericht: Paritätischer Wohlfahrtsverband fordert unabhängige Sachverständigenkommission:

»Bereits seit Oktober vergangenen Jahres ziehe sich das „Feilschen um wohlfeile Passagen“ innerhalb der Koalition und das „Spiel mit den Medien“ hin, kritisiert der Verband. „Es wird Zeit, dass der offizielle Armutsbericht endlich von einer unabhängigen Sachverständigenkommission verfasst wird und nicht mehr von einer eigeninteressierten Bundesregierung … Der Verband schlägt vor, den Armuts- und Reichtumsbericht künftig von einer unabhängigen Sachverständigenkommission erstellen zu lassen. Zu dem Bericht sei dann die Bundesregierung aufgefordert, Stellung zu nehmen. Bericht und Stellungnahme können sodann im Bundestag debattiert werden. Die Berufung der Sachverständigen soll durch den Bundespräsidenten erfolgen.«

Die amerikanische weiße Arbeiterklasse kollabiert in einem „Meer der Verzweiflung“. Semantische Zuspitzung und empirisch fundierte Sozialkritik

Viele werden sich erinnern – nach dem beeindruckenden Durchmarsch durch die Vorwahlen und dem dann folgenden und für viele überraschenden Wahlsieg von Donald Trump im vergangenen Jahr wurde immer wieder über die Lage der abgehängten weißen Arbeiter in den USA berichtet und diskutiert, die sich mit der Wahl von Trump ein Ventil verschafft hätten. Unabhängig davon, dass auch noch eine Menge anderer Leute für ihn gestimmt haben müssen, um Trump dahin zu spülen, wo er jetzt ist – ohne Zweifel ist das alles auch eine Folge der verheerenden ökonomischen Entwicklung im mittleren Westen der USA und inmitten der weißen Arbeitnehmerschaft des Landes. Nicht, dass darüber erst seit Trump berichtet wird, vgl. aus der Vielzahl des Materials beispielsweise Die ungleichen Staaten von Amerika von Anfang 2016. Und wenn gerade in diesen Tagen eine angebliche „Vollbeschäftigung“ in den USA suggeriert wird in den Medien, sollte man nicht vergessen, wie viele arbeitslose Menschen gar nicht (mehr) erfasst werden. Vgl. dazu beispielsweise den Artikel Wo Amerika seine Arbeitslosen versteckt von Heike Buchter: »Die Invalidenrente ist einer der letzten Teile des sozialen Netzes in den USA. Vor allem gering qualifizierte Arbeitslose beantragen sie – und Ärzte haben Verständnis.« Und wie desaströs für viele Menschen aus der ehemaligen Mitte des Landes ist, konnte man auch solchen Berichten entnehmen: Nichts mehr zu verlieren: »Nirgendwo sind die Menschen in Ohio so arm wie im Athens County.

Lebensmittelausgaben versuchen, die Menschen zu versorgen. Doch beim Essen fangen die Probleme erst an.« Ohio – eine Gegend, die abgehängt worden ist und in der vor allem viele Weiße auf der Strecke geblieben sind. Von denen einige als Protestwähler für einen kurzen Moment in das Licht der öffentlichen Wahrnehmung gekommen sind. Der amerikanische Fotograf Matt Eich zeigt in seiner Reportage auf verstörende aber auch wundervolle Weise die verlorenen Menschen aus dem amerikanischen Bundesstaat Ohio. Wo einst der industrielle Motor Amerikas lief, herrschen heute Heroin, Gewalt und Zukunftslosigkeit: Last Exit to Ohio, so hat er seine Reportage überschrieben.

Es geht hier um die fatalen Folgen einer immer größer werdenden Ungleichheit und da sind uns die USA in Teilen und für viele Menschen beispielsweise in Deutschland unvorstellbar weit voraus – man denke nur an die „Selbstverständlichkeit“ einer Krankenversicherung für die allermeisten Menschen in unserem Land, auch wenn man wenig oder gar kein eigenes Einkommen hat. Die Härte des (Über-)Lebens in den USA für die Menschen mit mittleren und unteren Einkommen hat (noch) keine Entsprechung in den westeuropäischen Staaten.

Und dazu sollte es auch niemals kommen – wenn man sich allein vor Augen führt, was für einen Preis die Menschen für die Ungleichheit zu zahlen haben. Sie zahlen im wahrsten Sinne des Wortes mit ihrem Leben.

Joel Achenbach und Dan Keating berichten in der Washington Post unter der nur auf den ersten Blick reißerischen Überschrift New research identifies a ‘sea of despair’ among white, working-class Americans. Sie beziehen sich auf eine neue Arbeit von Anne Case und Angus Deaton von der Princeton University: Mortality and morbidity in the 21st century, so ist die neue Veröffentlichung überschrieben.

Case und Deaton setzen damit eine Arbeit fort, die Ende 2015 mit dieser bahnbrechenden Studie begonnen hat: Rising morbidity and mortality in midlife among white non-Hispanic Americans in the 21st century: »This paper documents a marked increase in the all-cause mortality of middle-aged white non-Hispanic men and women in the United States between 1999 and 2013. This change reversed decades of progress in mortality and was unique to the United States; no other rich country saw a similar turnaround. The midlife mortality reversal was confined to white non-Hispanics; black non-Hispanics and Hispanics at midlife, and those aged 65 and above in every racial and ethnic group, continued to see mortality rates fall. This increase for whites was largely accounted for by increasing death rates from drug and alcohol poisonings, suicide, and chronic liver diseases and cirrhosis. Although all education groups saw increases in mortality from suicide and poisonings, and an overall increase in external cause mortality, those with less education saw the most marked increases. Rising midlife mortality rates of white non-Hispanics were paralleled by increases in midlife morbidity. Self-reported declines in health, mental health, and ability to conduct activities of daily living, and increases in chronic pain and inability to work, as well as clinically measured deteriorations in liver function, all point to growing distress in this population.«

Wienand von Petersdorff hat die Berichterstattung und die neue Studie von Case und Deaton in der FAZ aufgegriffen: Brisante Studie: Amerikas Arbeiterklasse kollabiert. Die Lebenserwartung der Weißen in den Vereinigten Staaten, die höchstens einen Schulabschluss haben, ist dramatisch gesunken. Das Phänomen hat einen Namen: „Tod aus Hoffnungslosigkeit.“

»Die Weißen sterben demzufolge überproportional häufig an Ursachen, die Experten unter der Rubrik „Tod aus Hoffnungslosigkeit“ zusammenfassen. Zu dieser Kategorie gehören Selbstmord, Drogentod nach Überdosis oder an Krankheiten, die Alkoholmissbrauch folgen. Case und Deaton zufolge sinkt die Lebenserwartung der Gruppe seit dem Jahr 1999. Das ist eine dramatische Entwicklung angesichts der Tatsache, dass in nahezu allen Industrieländern über fast alle Bevölkerungsgruppen hinweg die Lebenserwartung stetig steigt … Für die Altersgruppe zwischen 50 und 55 Jahren haben sich die Selbstmordraten seit dem Jahr 2000 verdoppelt.«

Case und Deaton kommen zu der Schlussfolgerung, dass vor allem die mangelnde Perspektive auf ein stetiges Einkommen Menschen resignieren lasse, die höchstens einen Schulabschluss vorweisen können. »Die Wissenschaftler sehen die geringen Arbeitsmarktchancen für diese Gruppe als Ausgangspunkt für ein Bündel an Problemen, die schließlich die Menschen in die Verzweiflung stürzen.«

Und wieder werden wir Zeuge einer „Medikalisierung“ sozialer Probleme:

»In ihren Untersuchungen haben Deaton und Case auch herausgefunden, dass seit Mitte der neunziger Jahre immer mehr Leute über Schmerzen im Rücken, im Halsbereich oder in der Hüfte klagen.
Parallel dazu stieg der Absatz an Schmerzmitteln stark. Eines davon heißt Oxycontin, das den Ruf hatte, wenige Nebenwirkungen zu haben. Offenkundig aber sind sehr viele Amerikaner süchtig geworden. Deaton sagt, Oxycontin sei praktisch Heroin in Pillenform mit einem Siegel der Gesundheitsbehörde.«

Der Blick auf die nackten Daten lässt eine Menge gewichtige Fragen offen. Warum beispielsweise beschränkt sich die dramatisch negative Entwicklung auf die weißen Amerikaner – während die Afroamerikaner und der Lateinamerikaner davon nicht betroffen sind? Und die Entwicklung seit der Jahrtausendwende ist wirklich dramatisch:

»Konkret war im Jahr 1999 die Sterberate der Weißen zwischen 50 und 54 Jahren um 30 Prozent niedriger als die der Schwarzen. Im Jahr 2015 haben sich die Verhältnisse umgekehrt.«

Hinzu kommt: »Das Phänomen einer schrumpfenden Lebenserwartung beschränkt sich nach Angaben der Forscher nicht mehr auf den ländlichen Raum und Bundesstaaten, die von Deindustrialisierung besonders betroffen sind. Auch Großstädte erreicht die Entwicklung.«

Und zum Abschluss sei hier allen Kritikern am europäischen Sozialstaatsmodell das folgende Zitat ins Stammbuch geschrieben:
»Deaton weist darauf hin, dass Europa mit seinen Sozialstaaten von der Entwicklung nicht nur verschont sei: Dort wachse die Lebenserwartung der Leute ohne Hochschulabschluss sogar schneller als die der Akademiker.«