Bei den einen wird gekürzt, für die anderen ist angeblich nichts da, den Beitragszahlern greift man in die Tasche und noch anderen lässt man eine Menge. Reden wir über Geld

In der gegenwärtigen Medienberichterstattung wird viel darüber geschrieben, geredet und hyperventiliert, dass die Demnächst-Großen-Koalitionäre in ihrer Berliner Findungsphase zahlreiche Geschenke übers Land verteilen wollen, die gewaltige Milliardensummen verschlingen werden. Abgesehen davon, dass das am Ende weitgehend wieder eingefangen werden wird – es bleibt ein fahler Beigeschmack, wenn es um die finanzielle Seite geht. Denn – zumindest in dem hier relevanten sozialpolitischen Bereich, aber auch darüber hinaus beispielsweise bei der „harten“ Infrastruktur wie Straßen, Brücken, öffentliche Gebäude  – kann man an mehreren Stellen mit guten Gründen einen teilweise erheblichen Investitionsbedarf konstatieren, dessen Realisierung Geld kosten würde.

Damit nicht genug – gleichzeitig erleben wir, dass immer wieder im Sozial- und Bildungsbereich von Kürzungen berichtet wird, die man nur noch kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen kann. Über ein aktuelles Fallbeispiel wurde auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ berichtet: Die Mittel für niederschwellige Integrationskurse für Migratinnen sollen um 60% gekürzt werden. Das bedeutet das Aus für viele der bundesweit rund 2.000 Frauenkurse, mit denen etwa 20.000 Migrantinnen erreicht werden. Und richtig perfide ist die Gleichzeitigkeit der Aufforderung an die Träger dieser Kurse, mehr Angebote für Armutsflüchtlinge aus Bulgarien und Rumänien zu machen. Da wird unten gegen ganz unten ausgespielt.

Bei anderen hingegen, für die mehr Gelder aufgewendet werden müsste, sind diese angeblich nicht da. Um nur eines von vielen hier zitierbaren Beispielen anzuführen: Angesichts der Verpflichtung, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen, wird unter dem Oberbegriff „Inklusion“ derzeit vielerorts versucht, behinderte Kinder und Jugendliche in die Regelschulen zu „inkludieren“, wobei die Anführungszeichen darauf hindeuten sollen, dass das nach Vorstellung mancher Bundesländer „aufkommensneutral“ realisiert werden könne. Da muss man wirklich keine Studie machen, um zu erkennen, dass dies nur in einer deutlichen Verschlechterung enden kann.

Und wieder anderen will man, weil es nicht mehr anders geht, irgendwie was zukommen lassen, beispielsweise den Pflegebedürftigen. Dort geht es drunter und drüber – bei den Betroffenen selbst, aber auch bei den Pflegekräften. Und auf eine Beitragserhöhung in der Sozialen Pflegeversicherung konnten sich die Demnächst-Großen-Koalitionäre ganz schnell verständigen, um das zu finanzieren, was jetzt ausgehandelt wird. Aber warum eigentlich „nur“ eine Beitragserhöhung in der Pflegeversicherung? Und damit letztendlich nur für die Arbeitnehmer? Müsste nicht ein gewichtiger Teil der anstehenden Investitionen in die Pflegeinfrastruktur, gerade in die kommunale Altenhilfe, nicht aus Steuermittel finanziert werden, handelt es sich doch ganz offensichtlich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe? Und was ist eigentlich mit denen, die in der privaten Pflegeversicherung sind? Fragen über Fragen – die Antwort hier liegt allerdings nahe: Der Griff in die Beitragskassen ist eben für die Politiker leichter als eine Mittelmobilisierung über Steuergelder, möglicherweise dann auch noch verbunden mit einer – ja, jetzt muss es fallen, das Unwort: über eine Steuererhöhung. Das nun geht gar nicht, denn auf eine solche haben die Sozialdemokraten bereits im vorwegnehmenden Gehorsam gegenüber der Union zügig verzichtet.

Diesen großkoalitionären Konsens wird man schwer durchbrechen können, auch wenn viele, die sich vor der Bundestagswahl für eine andere Steuerpolitik engagiert haben – man denke hier beispielsweise an die Initiative „umFAIRteilen“ – bitter enttäuscht sind von der frühzeitigen Kapitulation der SPD in dieser Frage.

Aber vielleicht ist es gar nicht notwendig, sofort an irgendwelche Steuererhöhungen zu denken. Man könnte ja auch auf den Gedanken kommen, dass schon viel gewonnen wäre, wenn die alle, die müssten, auch ihre Steuern zahlen. Auf die damit verbundenen – theoretischen – Einnahmepotenziale haben Veronica Frenzel und Ulrich Zawatka-Gerlach in einem lesenswerten Beitrag für den Tagesspiegel hingewiesen: „Nicht zum Angeben„, so ist ihr Artikel überschrieben. Daraus nur zwei Zahlen, die für sich sprechen:

»Die Deutsche Steuergewerkschaft schätzt, dass Bund, Ländern und Gemeinden (durch Steuerhinterziehung) bis zu 50 Milliarden Euro jährlich verloren gehen. Internationale Konzerne, die steuerrechtliche Lücken ausnutzen, so dass der Staat, auch das ist nur eine grobe Schätzung, an weitere 160 Milliarden Euro nicht herankommt. Jedes Jahr. Damit verstoßen sie nicht einmal gegen Gesetze.«

Beschränken wir uns mal auf die bis zu 50 Mrd. Euro. Solche Beträge müssen heutzutage ja immer in Relation gesetzt werden. Nur als ein möglicher Vergleich: Für alle Kindertageseinrichtungen und für die Kindertagespflege in Deutschland, die Millionen Kinder tagtäglich betreuen, bilden und erziehen sowie hunderttausende Menschen beschäftigen, werden jährlich gut 17 Mrd. Euro an öffentlichen Mitteln aufgebracht.

In dem Artikel werden allerdings auch die Ursachen angesprochen, dass dem Staat diese Einnahmen durch die Lappen gehen:

»Den Finanzämtern fehlt an allen Ecken Personal. Nimmt man die amtliche Personalbedarfsrechnung ernst, müssten bundesweit 11.000 Stellen, davon 3.000 Betriebsprüfer und 600 Fahnder, neu geschaffen werden. Möglicherweise ist dieser Mangel politisch gewollt. Anders ist es kaum zu erklären, dass die bundeseinheitlichen Stellenvorgaben von fast allen Ländern seit Jahren deutlich unterschritten werden. Allen voran Bayern und Baden-Württemberg …«

„Vor allem in den reichen Ländern ist die restriktive Personalpolitik zulasten der Finanzämter ein Mittel der Wirtschaftsförderung“, so wird ein Steuerbeamter zitiert. „Und die Bayern sagen intern, dass sie als Geberland im Finanzausgleich nicht die Steuern für arme Länder eintreiben wollen.“
Als Beispiel wird Berlin angeführt: Die dortigen 23 Finanzämter sind, gemessen an der Bedarfsrechnung, seit der Ära des Finanzsenators Thilo Sarrazin um zehn Prozent unterbesetzt. Daran hat sich seither nichts geändert. Es fehlen etwa 700 Stellen. » Zum fehlenden Personal kommt ein Krankenstand von zehn Prozent. Außerdem bleiben viele Stellen unbesetzt, im laufenden Jahr 143, so viele Beamte hat das gesamte Finanzamt Wedding.«

Nur zur Ergänzung sei hier – eigentlich dann auch nicht mehr überraschend – angeführt, wie man unser Land auch bezeichnen kann: „Steueroase Deutschland„, so ein Artikel von Claus Hulverscheidt in der Süddeutschen Zeitung: »Das internationale „Netzwerk Steuergerechtigkeit“ hat die wichtigsten Finanzzentren der Schattenwirtschaft untersucht. Dabei steht ein Staat weit oben auf der schwarzen Liste, der sonst gerne den Saubermann gibt: die Bundesrepublik.« Hintergrund des Artikels ist der alle zwei Jahre erscheinende Bericht über die „Schattenfinanzzentren“ der Welt. Auf dieser schwarzen Liste liegt Deutschland auf Rang acht – und damit teils weit vor klassischen Steuerparadiesen wie Jersey, den Marshall-Inseln oder den Bahamas. Hauptübeltäter ist die Schweiz, gefolgt von Luxemburg, Hongkong und den Kaimaninseln, so Hulverscheidt in seinem Artikel. »Nach groben Schätzungen staatlicher wie nichtstaatlicher Organisationen werden allein in der Bundesrepublik Jahr für Jahr zwischen 29 und 57 Milliarden Euro „gewaschen“, die aus kriminellen Geschäften sowie aus Steuerbetrug und -hinterziehung stammen.«

Diese Zusammenhänge sollten und müssen wir berücksichtigen, wenn es immer wieder heißt: Dafür ist aber leider kein Geld da.

Das Kreuz mit den Steuern: Parteipolitische Sirenenklänge und Ausschließeritis versus einer bedarfsorientierten Diskussion. Das Steuerthema vom Kopf auf die Füße stellen

Da waren so einige überrascht, als der amtierende Bundesfinanzminister Schäuble (CDU) kurz nach der Wahl einen wohlpräparierten Pfeil in das noch die eigenen Wahlwunden leckende und desorientierte Lager der Sozialdemokratie abgefeuert hat: Er könne sich Steuererhöhungen vorstellen, wenn sie denn der Preis für eine große Koalition sein sollten, so wurde und wird es in den Medien kolportiert. Flankenschutz bekam er vom Generalsekretär der CDU, Hermann Gröhe, der den kritischen Wirtschaftsflügel seiner Partei einem Bericht zufolge auf einen höheren Spitzensteuersatz eingestellt habe, bis zu 49 Prozent seien denkbar. Auch das Bundesfinanzministerium prüfe die Anhebung des Spitzensteuersatzes – bezeichnenderweise ist der Artikel überschrieben mit „Schäuble will SPD mit höherer Reichensteuer ködern„. Auch wenn es hierbei primär um ein durchschaubares Manöver vor dem Hintergrund der anstehenden Koalitionsverhandlungen geht, so ist doch diese überraschend frühzeitig in Aussicht gestellte Kompromissbereitschaft innerhalb der Union mit großen Risiken behaftet, denn vor der Wahl hatte die Union höhere Steuern ausgeschlossen. Entsprechend sind die aktuellen Reaktionen: Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen lehnt höhere Steuern strikt ab. Und noch weiter positioniert sich der CSU-Chef Seehofer, der sogar sein Wort gibt: Steuererhöhungen werde es nicht geben: Horst Seehofer sagte der „Bild am Sonntag“, Steuererhöhungen kämen für seine Partei „nicht in Frage … Die Bürger haben darauf mein Wort“ (vgl. hierzu das Interview in der Bild am Sonntag: „Hier gibt Seehofer sein Steuer-Ehrenwort„).

Und nicht wirklich überraschend, man könnte auch sagen gut getimt ist die Tatsache, dass der neue SPIEGEL mit dem Steuerthema aufmacht – wobei man die Gestaltung des Titelblatts durchaus als das wahrnehmen kann, was es ist: Propaganda, die an die tiefergelegten emotionalen Schichten vieler Deutschen appelliert, bei denen Worte wie Steuern oder noch schlimmer Finanzamt nicht nur allergische Hautreaktionen auslösen, sondern zu schlimmeren Reaktionen führen. Unter der Überschrift „Die Wahrheit nach der Wahl“ behauptet der SPIEGEL: »Versprochen, gebrochen: Noch vor kurzem hat Kanzlerin Merkel höhere Steuern ausgeschlossen. Nun werden sie geplant, um die SPD in die Koalition zu zwingen. Für höhere Renten und bessere Pflege könnten bald auch die Sozialabgaben steigen.« Womit wir schon mittendrin wären in den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik.

Es muss an dieser Stelle ausschließlich aus Gründen einer quellenkritischen Bewertung dieser Diskussion darauf hingewiesen werden, dass die Aussage, der Bundesfinanzminister Schäuble könne sich Steuererhöhungen vorstellen, eine sehr „flexible“ Interpretation seiner Aussagen aus einem Interview der ZEIT darstellt: Auf die Frage, ob er Steuererhöhungen (in einer neuen Koalition) grundsätzlich ausschließe, sagte Schäuble: „Nochmals: Wir sollten jetzt schauen, wie die Gespräche laufen. Wir werden Koalitionsverhandlungen nicht über die Öffentlichkeit führen. Ich persönlich bin der Meinung, dass der Staat keine zusätzlichen Einnahmequellen benötigt“, so die Darstellung in einem Artikel der FAZ. Insofern ist es dann auch konsequent, dass der Minister sich über das Regierungsorgan „Bild-Zeitung“ an die Öffentlichkeit gewandt hat: ”„Der Staat hat kein Einnahmeproblem. Es gibt keinen Grund, die Steuern zu erhöhen. Darum gilt weiterhin das, was wir vor der Wahl gesagt haben: keine Steuererhöhungen«, so wird er in dem FAZ-Artikel zitiert.

Aber die tagespolitischen Aktivitäten sollen hier nicht weiter verfolgt werden, sondern eine grundsätzliche Frage gehört in den Raum geworfen: Was würde eine systematische Steuerpolitik ausmachen? Neben der Berücksichtigung der komplexen Wirkungen und vor allem der Nebenwirkungen der unterschiedlichen Steuerarten sollte es nach der hier vertretenen Auffassung vor allem um eine Systematik gehen, die von der Instrumentalfunktion der Einnahmenseite ausgeht, was aber bedeuten würde, dass man in einem ersten Schritt die Bedarfe bestimmt und quantifiziert, für deren Deckung dann entsprechende Finanzmittel erforderlich wären, wenn man denn die Bedarfe decken muss bzw. will – oder das eben auch nicht, was dann aber wieder eine politische Frage ist. Das ist gemeint, wenn hier dafür plädiert wird, das Steuerthema vom Kopf auf die Füße zu stellen:

Also 1. die Bedarfe diskutieren und definieren und 2. die dafür notwendigen Mittel quantifizieren und 3. dann über die Art und Weise der konkreten Finanzierung (also direkte oder indirekte Steuern, Sozialversicherungsbeiträge usw.) diskutieren.

Zur Illustration des dringend notwendigen rationalen Diskurses über die Ausgestaltung der Einnahmenseite in ihrer Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Bedarfen soll im Folgenden als aktuelles Beispiel die massive Unterfinanzierung der Verkehrsinfrastruktur dargestellt werden, denn dieses Beispiel steht – nur stellvertretend und leider keineswegs solitär – für eine Tatsache, die sich jetzt und in den vor uns liegenden Jahren bitter rächen wird: Ganz offensichtlich wurde in der deutschen Volkswirtschaft in den vergangenen Jahren in einem erheblichen Umfang eine Verhaltensweise an den Tag gelegt, die man bezeichnen muss als „von der Substanz leben“. Man kann das auch wesentlich nüchterner ausdrücken: Die Tatsache, dass beispielsweise die Bruttoinvestitionen der kommunalen Ebene in den vergangenen Jahren unter den Abschreibungen lag, verdeutlich dem Ökonomen, dass wir tatsächlich von der Substanz gelegt haben, denn offensichtlich ist noch nicht einmal der Werteverzehr kompensiert worden, geschweige denn sind gesamtwirtschaftlich gesehen echte Neuinvestitionen im Sinne zusätzlicher Investitionen vorgenommen worden. Nun muss man sich die vermiedenen Ersatzinvestitionen vorstellen wie ein Haus, in das man aus Geldmangelgründen jahrelang nichts investiert, Reparaturen aufschiebt usw. – irgendwann aber wird eine dicke Rechnung kommen, der man dann nicht mehr wird ausweichen können, es sei denn, man gibt die Funktionsfähigkeit des Hauses insgesamt auf. Und seien wir ehrlich – in vielen Städten, natürlich vor allem in den westdeutschen Kommunen, sind wir mit einem massiven Investititionsstau konfrontiert, bei einer Infrastruktur, die oftmals in den 1960er und vor allem in den 1970er Jahren geschaffen wurde und von der große Teile jetzt das Endstadium ihrer technischen Lebensdauer erreicht haben.

Wer das konkreter haben möchte, der möge ein Blick werfen auf diesen Tatbestand: „Jede zweite Brücke der Kommunen ist marode„, so meldet es Spiegel Online: Viele Verkehrswege in Deutschland sind in die Jahre gekommen, besonders schlecht steht es um die Brücken. Laut einem neuen Gutachten ist jedes zweite von 66.714 Bauwerken marode, für deren Erhalt die Kommunen zuständig sind – und wir reden hier noch gar nicht von den ganzen Autobahnbrücken, bei denen ebenfalls vergleichbare Werte gemessen wurden und die in die Zuständigkeit des Bundes fallen.
Straßen, Brücken, Bahnhöfe, Wasserstraßen, Schienen – zusammengerechnet ist Deutschlands Verkehrsinfrastruktur 778 Milliarden Euro wert. Allerdings beklagen Experten „eine substantielle Vernachlässigung der Investitionen in die Erhaltung und Qualitätssicherung der Verkehrsinfrastruktur“. Dies lässt sich einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) entnehmen: Uwe Kunert und Heike Link: Verkehrsinfrastruktur: Substanzerhaltung erfordert deutlich höhere Investitionen, in: DIW Wochenbericht Nr. 26/2013, S. 36 ff. Die Wissenschaftler liefern deutliche Zahlen: »Die Analyse zeigt, dass in der Vergangenheit jährlich knapp vier Milliarden Euro zu wenig für die Substanzerhaltung der Verkehrsinfrastruktur aufgewendet wurden. Geht man von mindestens dieser Investitionslücke für die Substanzerhaltung der Verkehrsinfrastruktur auch in den kommenden Jahren aus und berücksichtigt man darüber hinaus den aufgrund der jahrelangen Vernachlässigung aufgelaufenen Nachholbedarf, so dürfte der zusätzliche jährliche Investitionsbedarf bei mindestens 6,5 Milliarden Euro liegen.«

Zurück zu den Brücken in kommunaler Zuständigkeit. Mehr als 30.000 sind marode und ein guter Teil nicht mehr reparierbar, so auch die Berichterstattung in der Online-Ausgabe der Welt. Beide Artikel beziehen sich auf eine neue Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik (DIfU). Konkret hatten sich die Forscher die Brücken in kommunaler Hand angesehen. Das sind genau 66.714 Bauwerke. Für eine Stichprobe wurden mehr als 2.000 Brücken in 456 Städten, Gemeinden und Landkreisen ausgewählt. Ein zentrales Ergebnis lautet, »dass bei rund 15 Prozent „Ersatzneubaubedarf“ bestehe: Der Zustand sei so schlecht, dass nur Abriss und Neubau in Frage komme. Betroffen seien häufig kleine Kommunen unter 20.000 Einwohnern, wo aber fast 70 Prozent der Brücken stünden, sowie Städte und Gemeinden im Osten. Dort wurden nach der Wende vor allem große Verkehrswege saniert und neu gebaut, kleinere wurden nicht beachtet.«

Das wird natürlich alles Geld kosten, viel Geld. Konkrete Diskussionen zur Mittelbeschaffung laufen bereits. Zur Sanierung des bundesweiten Verkehrsnetzes wollen die Bundesländer den Weg für einen Milliardenfonds ebnen. Im Gespräch sei ein Volumen von fast 40 Milliarden Euro bis 2028. Pro Jahr sollen – unabhängig von der aktuellen Haushaltslage bei Bund und Ländern – zwischen 2,7 und 3 Milliarden Euro in Projekte fließen. Der Sanierungsbedarf sei immens und Folge einer jahrzehntelange Vernachlässigung von Straßen, Brücken, Schienen und Wasserwegen. Entsprechende Vorschläge wurden von einer Expertenkommission unter Leitung des ehemaligen Verkehrsministers Kurt Bodewig (SPD) für die Verkehrsministerkonferenz erarbeitet. Zur Gegenfinanzierung plädiert die Kommission auch für eine intensive Nutzung der „Instrumente der Nutzerfinanzierung“, die Lkw-Maut ist hier das prominenteste Beispiel.

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass das Beispiel über die marode, unterfinanzierte Verkehrsinfrastruktur nur ein Beispiel aus dem Reigen der Handlungsfelder darstellt, in denen es große Investitionsbedarfe gibt – man denke hier nur an die Finanzierung der Energiewende. Dass es allein schon in diesen „harten“ Infrastrukturbereichen derart enorme Investitionsbedarfe gibt, muss den Sozialpolitiker skeptisch stimmen, denn natürlich gibt es bei der Frage, wo und wofür das immer knappe Geld eingesetzt werden soll, eine Konkurrenz zwischen den einzelnen Handlungsfeldern des Staates und damit seiner Ausgaben. Sollen die Steuermilliarden für neue Verkehrswege oder für eine bessere Vergütung der Pflegekräfte und der Erzieherinnen ausgegeben werden? Genau so wird natürlich diskutiert. Und vor diesem Hintergrund muss man dann eben auch deutlich machen, aber wenigstens zur Kenntnis nehmen, dass es das Problem einer ausgeprägten Unterfinanzierung auch in vielen sozialen Arbeitsfeldern gibt, man denke hier an Pflege oder Bildungseinrichtungen, schon mit Blick auf das Leben von der Substanz – und wir reden dann immer noch nicht von den erheblichen zusätzlichen Ausgaben, die mobilisiert werden müssten, wenn man neue Aufgabenstellungen umsetzen will. Als Stichwort mag hier der Hinweis auf die Umsetzung der Inklusion (nicht nur) im Schulsystem genügen.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband hatte kurz vor der Bundestagswahl mit Blick auf die steuerpolitische Debatte versucht, mit einer medienwirksamen Inszenierung den Investitionsbedarf im Sozialbereich aus Sicht eines Wohlfahrtsverbandes in eine Zahl zu pressen: In der Pressemitteilung „Paritätischer fordert Steuererhöhungen für Bildung und Soziales: Expertise belegt Milliardenbedarf bei sozialen Leistungen“ kommt man zu dem Ergebnis, dass »jährlich mindestens rund 35 Milliarden Euro zusätzliche Investitionen notwendig (seien), um drängende soziale Projekte umzusetzen«. Man hat versucht, mit einer Expertise den »Mindestinvestitionsbedarf für insgesamt acht sozialpolitische Handlungsfelder von der Bildung bis zur Pflege« zu ermitteln. »Die drei größten Ausgabenblöcke stellen die Bereiche Armutsbekämpfung, Pflege und Teilhabe von Menschen mit Behinderung dar. Mit zusammen über 20 Mrd. Euro pro Jahr machen sie allein 58 Prozent der ermittelten Gesamtsumme von 35 Milliarden Euro jährlich aus. Für die gesamte nächste Legislaturperiode ergibt sich ein zusätzlicher Finanzbedarf von insgesamt 142 Mrd. Euro. Wichtige unbestrittene Herausforderungen wie der Ausbau der Kindertagesbetreuung oder die Förderung der Mobilität sind dabei auf Grund der unzureichenden Datenlage noch gar nicht berücksichtigt.« Politik kann sich nicht mehr vor der Verteilungsfrage drücken – so die zentrale Quintessenz des Wohlfahrtsverbandes, der eine stärkere Besteuerung von Einkommen und Vermögen fordert.

Fazit: Mit der Behauptung, der Staat habe kein Einnahmenproblem (sondern ein Ausgabenproblem, obgleich das dann nie an konkreten Beispielen belegt wird, wo man denn überall mehrere Milliarden Euro einsparen könne), aber auch nicht mit einer Forderung nach ordentlich mehr Steuergeld, weil so viel zu tun sei, wird man der Komplexität des Themas gerecht werden können. Und natürlich muss man bei der Frage Steuererhöhung ja oder nein (und dann vor allem auch welche) immer berücksichtigen müssen, dass aufgrund der selbst gesetzten Schuldenbremsen auf Bundes- und Landesebene die Flucht in eine zusätzliche Verschuldung immer schwieriger wenn nicht ganz unmöglich wird. Insofern wäre zu fordern, dass wir systematisch, also ausgehend von einer echten Analyse der Bedarfe, den notwendigen Finanzbedarf abzuschätzen und dann zur Diskussion zu stellen versuchen.

Dass das nicht sofort Steuererhöhungen bedeuten muss, sondern dass man zuweilen auch innerhalb des bestehenden Systems erhebliche Steuereinnahmeverbesserungen erreichen kann, zeigen abschließend diese beiden aktuell diskutierten Beispiele:

Der neue SPIEGEL thematisiert auch die entgangenen Steuereinnahmen in unserem gegebenen System: „Steueroase Deutschland“: »Weil in den Finanzämtern Fahnder und Prüfer fehlen, entgehen dem Staat Milliarden. Viele Länder wollen lieber die Wirtschaft fördern, als ihre Steuerbehörden
in Ordnung zu bringen. Die Steuer-Kleinstaaterei kommt das Land teuer zu stehen.« Es wird darauf hingewiesen, dass im »vergangenen Jahr ist die Zahl der Einsätze deutscher Steuerfahnder drastisch gesunken (ist). 2012 rückten die Fahnder nach Recherchen des SPIEGEL knapp 24.000 Mal aus, um Steuerhinterziehern auf die Schliche zu kommen. Das sind rund 14 Prozent weniger Einsätze als noch im Jahr zuvor … In Baden-Württemberg etwa fielen die Besuche der Fahnder bei Steuersündern um ein Viertel, Hessen verzeichnete gar ein Minus von einem Drittel. In Nordrhein-Westfalen reduzierten die Fahnder ihre Einsätze um rund 17 Prozent.« Kurzum, Deutschland hat Züge einer Steueroase und in diesem Kontext ist das zweite Beispiel dann nur konsequent:

Die Bundesregierung blockiert eine Reform in Europa, die die Geldwäsche mittels Briefkastenfirmen erschweren soll – so die Botschaft in dem Artikel „Schonzeit für das Paradies„. Das Problem ist, dass »bei den derzeit laufenden Verhandlungen über die Neufassung des EU-Geldwäschegesetzes im Brüsseler Ministerrat stellen sich ausgerechnet die Vertreter der Bundesregierung gegen den nach Meinung von Fachleuten wichtigsten Reformvorschlag: Die europaweite Einrichtung von Unternehmensregistern einschließlich der Pflicht, darin die im Finanzjargon so genannten „beneficial owners“, also die „wirtschaftlich Berechtigten“ zu nennen, denen die Gewinne aus den jeweiligen Firmen zufließen.«

Man muss sich klar machen, was das bedeutet. »Weil es diese Verpflichtung bisher nicht gibt, können Steuerhinterzieher und Geldwäscher ungehindert mit Briefkastenfirmen operieren, deren tatsächlicher Eigentümer verborgen bleibt. Das gilt auch in Deutschland. Zur Eintragung eines Unternehmens im hiesigen Handelsregister reichen die Angaben über das Eigentum an den Gesellschaftsanteilen, auch wenn diese bei einer ausländischen Firma liegen, deren Eigentümer nicht genannt sind. Vor allem wegen dieser Lücke nimmt Deutschland einen der vorderen Plätze auf dem „Schattenfinanzindex“ der Organisation Tax Justice Network (TJN) ein …« Mit seinem Verhalten »stellt sich die Bundesregierung pikanterweise auf die Seite der als Steuerfluchtzentren bekannten Länder Luxemburg, Malta und Niederlande, die sich ebenfalls gemeinsam mit fünf weiteren der 28 EU-Staaten gegen die Registerpflicht aussprachen« und durch das Gewicht Deutschlands fehlt den Befürwortern die notwendige qualifizierte Mehrheit. Schade, dass darüber kaum bzw. nur partiell berichtet wird.

Auf alle Fälle sollte deutlich geworden sein – man muss nicht reflexhaft sofort nach Steuererhöhungen rufen, wenn es noch so viel Spielraum im bestehenden System gibt.
Unbestritten aber bleibt die Aufgabe, jetzt endlich eine ordentliche Bilanzierung der Investitionsbedarfe vorzulegen – und zwar der Investitionsbedarfe in Beton wie auch in Menschen. Erst dann ließe sich eine vernünftige steuerpolitische Diskussion führen, die dann auch eine Chance hätte, die Akzeptanz höherer Belastungen in der breiten Bevölkerung herzustellen. Denn wenn die bislang unterfinanzierten Bedarfe in vielen sozialpolitischen Handlungsfeldern so sind, wie von vielen Seiten immer wieder behauptet wird, dann werden die dafür notwendigen Mittel nicht nur durch eine Besteuerung von einigen wenigen Millionären aufzubringen sein. Denn für deren Belastung bekommt man schnell 80 bis 90 Prozent Zustimmung. Es wird dann die Brieftasche der bereiten Masse treffen und da ist die Zustimmung dann besonders herstellungsbedürftig.

Hört sich gut an, fühlt sich gut an – ist es aber nicht, wie so oft in der Steuerpolitik: Das „Familiensplitting“-Modell der Union

Wenn wir über Steuern reden, dann sprechen wir von staatspolitisch und emotional fundamentalen Fragen – im wahrsten Sinne des Wortes handelt es sich um ein Minenfeld, auf dem nicht nur rational-materielle Interessen wirken, sondern hier werden Verteilungskämpfe ausgefochten und im übrigen kann man es in aller Regel keinem Recht machen. Die einen meinen, sie zahlen zu viel, die anderen meinen wiederum, die anderen, also nicht sie, zahlen zu wenig und sollten doch mehr zahlen.
Ein besonderer Zankapfel in Deutschland ist das Splitting in der Einkommenssteuer und hierbei das an die Institution Ehe gebundene Ehegattensplitting. Bei gemeinsamer Veranlagung wird das gesamte zu versteuernde Einkommen der beiden Ehepartner halbiert, die darauf entfallende Einkommensteuer berechnet und die Steuerschuld anschließend verdoppelt. Es wird also immer so getan, als ob beide Partner genau die Hälfte des gemeinsamen Einkommens verdienen würden. Dadurch ist die Steuerschuld des Ehepaares von der tatsächlichen Verteilung der Einkommen auf beide Partner unabhängig. Die ursprüngliche Begründung für dieses Vorgehen war die Annahme, dass Ehe = Kinder und einer in der Ehe, also die Frau, kümmert sich um die Kinder und geht keiner Erwerbsarbeit nach, so dass man über das Ehegattensplitting die Familien entlastet, denn sie zahlen ja weniger Steuern.

Nun wird seit langem am Institut des Ehegattensplitting herumgemäkelt, denn aufgrund der Bindung nur an den Tatbestand der Ehe kommt es natürlich auch zur Anwendung, wenn keine Kinder da sind. Illustriert wird das dann immer wieder gerne am Beispiel des sehr gut verdienenden Mannes und der nicht erwerbstätigen Ehefrau, die vom vollen Splittingvorteil profitieren können, obgleich keine Kinder vorhanden sind – während beispielsweise zwei nicht miteinander verheiratete Menschen, auch wenn dort drei oder mehr gemeinsame Kinder sind, überhaupt nicht vom Ehegattensplitting berührt werden, sie sind ja auch nicht miteinander verheiratet. Durch die Einführung der „Reichensteuer“ im Jahr 2007 ist der maximale Splittingvorteil für Ehepaare mit einem zu versteuernden Einkommen von über 250.000 Euro weiter gestiegen und erreicht für Einkommen von über 500.000 Euro jetzt ein Maximum von etwa 15.000 Euro pro Jahr.

Vor diesem Hintergrund gibt es zwei grundsätzliche Kritiklinien gegen das Ehegattensplitting, die immer wieder vorgetragen werden:

  1. Das Ehegattensplitting sei antiquiert, weil es (nur) auf das (formale) Institut der Ehe abstellt und hinsichtlich seiner spezifischen Anreizarchitektur – der Splittingvorteil nimmt rasch ab, wenn der andere Ehepartner zunehmend zum Haushaltseinkommen beiträgt, und er verschwindet, wenn beide Ehepartner das gleiche Einkommen erzielen – die Nicht- oder Niedrigst-Erwerbstätigkeit eines der beiden Partner, im Regelfall die Frau, massiv fördert.
  2. Die zweite Kritiklinie bezieht sich auf den (immer wieder behaupteten) „eigentlichen“ Zweck des Ehegattensplittings, darüber Familien mit Kindern, die durch die Nicht-Erwerbstätigkeit eines der Ehepartner, der sich um die Kinder kümmert, Einkommensausfälle haben, wenigstens partiell  über die niedrigere Besteuerung des Paares zu entlasten. Innerhalb dieses Begründungszusammenhangs gibt es dann noch die Kritik, dass das Ehegattensplitting ungerecht sei, wenn Paare nicht in den Genuss der Entlastung kommen , obwohl sie Kinder haben, nur weil sie nicht miteinander verheiratet sind.
  3. Es gibt noch eine dritte Kritiklinie, die hier aber nicht geteilt wird, die aber in der aktuellen Debatte eine Rolle spielt: Die Entlastung sei um so größer, je höher die Einkommen sind. Das nun ist richtig, entspringt aber der inneren Logik einer Steuerentlastung, denn die hohen Einkommen zahlen ja auch höhere Steuern. Und das die unteren Einkommensgruppen, die oftmals gar keine oder nur sehr niedrige Steuern zahlen, dann gar nicht oder nur marginal von einer Steuerentlastung profitieren können, ist nun keine böse Absicht, sondern leitet sich aus der Besteuerungslogik an sich ab.

So weit die Vorrede, denn das Thema Splitting im Steuerrecht hat insofern den Wahlkampf erreicht, da die Unionsparteien – aber auch die FDP – mit der Forderung nach einem „Familiensplitting“ auftreten – einer Forderung, die für viele Beobachter des Geschehens zunächst durchaus nachvollziehbar daherkommt. Konkret: CDU/CSU schlagen vor, den Kinderfreibetrag auf die Höhe des Grundfreibetrags für Erwachsene anzuheben, was natürlich, weil an die Kinder gebunden, eine zusätzliche Entlastung der (verheirateten) Familien mit einem oder gar mehreren Kindern bedeuten würde, denn der derzeitige Kinderfreibetrag (7.008 Euro im Jahr) liegt unter dem für die Erwachsenen (demnächst 8.354 Euro). Natürlich weiß die Union um die Problematik, dass viele Familien im unteren Einkommensbereich gar keine oder nur sehr wenig Steuern zahlen, so dass bei ihnen keine Entlastung ankommen kann. Auch für diese Gruppe haben CDU/CSU (nicht aber die FDP) was im Gepäck, denn das Kindergeld soll um 35 Euro pro Monat erhöht werden – und das Kindergeld bekommen ja auch die Familien, die gar keine Steuern zahlen müssen, weil sie so wenig verdienen, also fast alle Familien, außer den „Hartz IV“-Familien, denn bei denen wird nach der bestehenden Rechtslage das gesamte Kindergeld auf den Grundsicherungsanspruch angerechnet, sie gehen also bei einer Erhöhung des Kindergeldes leer aus. Und schon sind wir mittendrin in einer Auseinandersetzung über das Familiensplitting.

Die Süddeutsche Zeitung berichtet unter der Überschrift „Schlechte Noten fürs Familiensplitting“ über eine massive Kritik des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin an den Plänen der Union, auch andere Medien sind auf den Zug aufgesprungen, beispielsweise Spiegel Online mit dem Artikel „Familiensplitting der Union kostet Steuerzahler Milliarden„. Claus Hulverscheidt fasst die zentralen Kritikpunkte der Ökonomen an dem Familiensplitting-Modell so zusammen: »Das Konzept der Union koste Milliarden, bevorzuge Gut- und Spitzenverdiener und halte Frauen davon ab, nach der Geburt eines Kindes in den Job zurückzukehren«.

Wer die Ausführungen des DIW im Original lesen möchte, der kann den Beitrag im neuen DIW Wochenbericht hier als PDF-Datei abrufen:

Richard Ochmann und Katharina Wrohlich: Familiensplitting der CDU/CSU: Hohe Kosten bei geringer Entlastung für einkommensschwache Familien. In: DIW Wochenbericht, Nr. 36/2013, S. 3-11

Das DIW hat das Familiensplitting-Modell der Union  in ihrem Wahlprogramm mit den beiden bereits skizzierten Komponenten Erhöhung des Kindergeldes und Anhebung der Kinderfreibeträge auf das Niveau der Erwachsenen untersucht und kommt zu folgendem Ergebnis: Dieses Familiensplitting-Modell

»würde nach Berechnung des DIW Berlin Familien mit Kindern durchschnittlich um rund 700 Euro pro Jahr entlasten. Die Entlastung steigt mit dem Einkommen. Im untersten Zehntel (Dezil) der Einkommensverteilung beträgt die durchschnittliche Entlastung der Familien knapp 300 Euro pro Jahr, während sie im obersten Zehntel rund 840 Euro ausmacht. Familien mit geringen Einkommen werden also unterdurchschnittlich entlastet. Insgesamt kostet die Reform mehr als sieben Milliarden Euro pro Jahr.«

Damit man die vom DIW errechneten Kosten von zusätzlich 7 Mrd. Euro (Kinderfreibetrag und Kindergeld kosten die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden derzeit etwa 40 Milliarden Euro im Jahr) einordnen kann: »Das wäre fast die Hälfte dessen, was der Staat heute für die Subventionierung von Kindertagesstätten ausgibt«, so Hulverscheidt in seinem Artikel. Und zwar für alle Kindertageseinrichtungen (sowie der öffentlichen Förderung der Kindertagespflege) in Deutschland.

Die Idee für ein Familiensplitting stammt übrigens aus Frankreich, wo die Finanzämter das Familieneinkommen rein rechnerisch nicht nur auf die Ehepartner, sondern auch auf die Kinder verteilen. Dadurch sinkt für die Familie insgesamt die Steuerlast. Immer wieder wird man in der familienpolitischen Diskussion konfrontiert mit der Aussage, in Frankreich sei das besser geregelt für die Familien, denn die werden dort über die kindbezogene Entlastung besser gestellt als bei uns in Deutschland. Aber auch hier lohnt es sich wie so oft, genauer hinzuschauen:
Das DIW hat sich vor diesem Hintergrund erneut mit dem französischen Modell auseinandergesetzt und dieses sowohl mit dem bestehenden deutschen System wie auch mit den Vorschlägen der Union hinsichtlich einer Weiterentwicklung des Ehegatten- zu einem Familiensplitting beschäftigt. Die Ergebnisse sind ernüchternd. So schreiben die Forscher in ihrer Zusammenfassung:

»Es zeigt sich, dass schon das bestehende deutsche Modell in weiten Teilen großzügiger ist als das französische. Die finanziellen Vorteile für deutsche Familien würden sich bei Umsetzung der Unionspläne vergrößern.«

Das sind nun alles keine neuen Befunde, denn das DIW hat schon in der Vergangenheit sowohl die Forderung nach einem Familiensplitting wie auch die Behauptung, die Franzosen stehen besser da, kritisch unter die Lupe genommen – verwiesen sei an dieser Stelle nur auf die Pressemitteilung des DIW vom 06.03.2013: „Französisches Familiensplitting taugt nur bedingt als Vorbild„. Bereits damals wurde herausgearbeitet, dass die Einführung des französischen Modells in Deutschland nur geringe Veränderungen zur Folge hätte: »Nur Familien mit drei oder mehr Kindern würden stärker entlastet, da in Frankreich die steuerliche Förderung des dritten Kindes doppelt so hoch ausfällt wie die für das zweite Kind. Die gleichen Wirkungen könnten in Deutschland jedoch mit einer Verdoppelung des Kinderfreibetrages für das dritte Kind erreicht werden.«
Und auch schon damals wurde auf einen allerdings wichtigen Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland hingewiesen:

»Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem deutschen und dem französischen System betrifft den Familienstand: Französische Paare mit oder ohne Kinder müssen im Unterschied zu deutschen Paaren nicht verheiratet sein, um vom Familiensplitting zu profitieren – es reicht, wenn sie den PACS (pacte civil de solidarité) eingegangen sind. Dies ist in Frankreich auch für gleichgeschlechtliche Paare möglich.«

Während mittlerweile – vor allem durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – die Benachteiligung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften abgebaut worden ist, bestehen aus der Perspektive einer primär am Tatbestand der angestrebten Entlastung von Familien mit Kindern zwei zentrale Verwerfungen, die im Unionskonzept perpetuiert werden:

  1. Die steuerliche Entlastung ist weiterhin – weil in der Systematik des Ehegattensplitting bleibend – geknüpft an den Tatbestand, dass hier verheiratete Paare entlastet werden (und mittlerweile auch gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften) – aber eben nicht unverheiratete Paare mit Kindern.
  2. Nicht nur sozialpolitisch fragwürdig ist die Exklusion der vielen Familien im „Hartz IV“-Bezug, denn die können natürlich nicht von der steuerlichen Entlastung profitieren, kommen aber auch noch nicht einmal in den Genuss des erhöhten Kindergeldes, denn das wird vollständig angerechnet auf ihren Grundsicherungsanspruch. Hier wird also der beklagenswerte Tatbestand einer Zwei-Klassen-Gesellschaft an Familien fortgeschrieben und verfestigt.

Fazit: Vor dem Hintergrund des enormen finanziellen Aufwandes in Höhe von geschätzt 7 Mrd. Euro für die Umsetzung des Familiensplitting-Modells (man sollte eigentlich korrekter von einem „Verheirateten-Familiensplitting-Modell sprechen) kann man die Schlussfolgerung der DIW-Ökonomen durchaus nachvollziehen: »Angesichts der hohen fiskalischen Kosten des Unionsvorschlags sollte deswegen in Erwägung gezogen werden, die Mittel eher in Maßnahmen zu investieren, die einen solchen Zielkonflikt nicht aufweisen, wie zum Beispiel den Ausbau qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung«, schreiben Ochmann und Wrohlich in ihrer Zusammenfassung.

Man muss sich nur mal vorstellen, welche erheblichen Verbesserungen wir in der so wichtigen Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur für Kinder erreichen könnten, wenn wir sieben Milliarden Euro zusätzlich investieren könnten. Aber auch wenn wir im Themenfeld Entlastung der Familien mit Kindern (und hier völlig unabhängig von der Frage, ob verheiratet oder nicht) bleiben und nach Alternativen suchen, dann lohnt ein Blick auf das Konzept einer „Kindergrundsicherung“, das von einem breiten Bündnis vertreten wird. Weiterführende Informationen zu diesem Ansatz gibt es auf der Website www.kinderarmut-hat-folgen.de.