Auch in der Schweiz wird am Arbeitszeitgesetz gerüttelt

In Deutschland wird seit längerem an der Infragestellung der bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes gearbeitet – dazu der Beitrag „Flexibilisierung“ des Arbeitszeitgesetzes: Angriff auf ein Museumsstück? Der Acht-Stunden-Tag und die wirklichen Absichten der Deregulierer vom 17. November 2017. Fragen der Arbeitszeit berühren neben den unmittelbaren Interessen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer immer auch ein Stück weit elementare Aspekte des Arbeitsverständnisses einer Gesellschaft. Man kann das an Extrembeispielen zeigen, wie die immer wieder aus Japan zu uns durchdringenden Berichte über die extremen Arbeitszeiten, was sich dann in solchen Meldungen niederschlagen kann: Japanische Reporterin starb nach 159 Überstunden im Monat. »Tod durch Überarbeitung ist in Japan so verbreitet, dass dafür eigens das Wort „karoshi“ geprägt wurde. In einer Regierungsstudie aus dem Jahr 2016 gaben 23 Prozent der befragten Firmen an, dass manche ihrer Mitarbeiter auf mehr als 80 Überstunden pro Monat kommen. Ein Jahr zuvor wurden 93 Fälle von Selbstmord oder versuchtem Suizid infolge von Überarbeitung offiziell anerkannt.« Zum „karoshi“-Pänomen vgl. auch diesen Artikel: Japan arbeitet sich zu Tode. Der wurde in einer Schweizer Tageszeitung veröffentlicht und auch in der Schweiz berühren Arbeitszeitfragen zum einen ganz handfeste Interessen, zum anderen aber auch das Selbstverständnis hinsichtlich der Arbeit schlechthin.

David Hesse versucht das in seinem lesenswerten Artikel Befreit euch! Arbeitet länger! so zu beschrieben:

»Zum Schweizer Selbstverständnis gehören Pünktlichkeit, Diskretion, Sauberkeit – und Fleiss. Ein Schweizer, sagen wir uns selber, lässt die Arbeit ungern liegen, bleibt lieber etwas länger im Büro. Dass ein Schalter wirklich wie angeschrieben Punkt 11.15 Uhr schliesst und den letzten Wartenden dumm stehen lässt – es geschieht, aber seltener als anderswo. «Dann kommen sie halt noch schnell.» Arbeit wird erledigt, wenn sie anfällt.«

Hesse spricht von einem (tief sitzenden) „Erledigungsstolz“ – und auf denen können aktuelle Vorstöße der Arbeitgeberseite setzen:

»Bei Bedarf sollen Schweizer Arbeitnehmer mehr arbeiten dürfen, als das Gesetz bis jetzt erlaubt – beim Geschenkeeinpacken im Warenhaus, im Service während der Weihnachtsessen, am Skilift bei Neuschnee. Klingt pragmatisch. Schweizerisch.«

Praktisch mündet das dann in solche Meldungen: Gewerbeverband will 50-Stunden-Woche: »Dem Schweizerischen Gewerbeverband (SGV) ist das heutige Arbeitsrecht teilweise zu starr. Er will die Arbeits- und Ruhezeiten lockern und die Höchstarbeitszeit auf 50 Stunden pro Woche erhöhen.« Die Argumentation der Schweizer Arbeitgeber kommt einem in Deutschland sehr bekannt vor: »Das heutige Arbeitsgesetz sei nicht mehr zeitgemäss, sondern es atme noch den Geist der Industrialisierung aus dem letzten Jahrtausend, sagte SGV-Direktor und FDP-Nationalrat Hans-Ulrich Bigler … Die zu starren Arbeitszeiten würden sich an einem überholten Fabrikbild orientieren.«
Die Position des SGV kann man hier nachlesen: Unnötige Regulierungen abbauen – flexiblen Arbeitsmarkt stärken. Wer an einer ausführlichen Darstellung interessiert ist, kann sich in einer eine Pressemappe den Beitrag Senkung der Regulierungskosten im Arbeitsrecht – konkrete Forderungen anschauen.

Und auch die Reaktionen seitens der Gewerkschaften erinnern an das, was wir in Deutschland erleben:

»Die Gewerkschaften kritisierten die SGV-Vorschläge umgehend. Die geltenden Regulierungen seien nicht veraltet, sondern übten eine Schutzfunktion aus, schrieb etwa die Unia. Unter dem Deckmantel der «Modernisierung» greife der Gewerbeverband grundlegende gesetzliche Schutzmassnahmen an.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) und Travailsuisse sehen in den Forderungen einen einseitigen «Angriff auf den Arbeitnehmerschutz». Die Schweiz habe schon heute die längsten Arbeitszeiten in ganz Europa, erklären sie. Viele Arbeitnehmende seien einer hohen Arbeitsbelastung ausgesetzt, Stress und Burn-outs hätten in den letzten Jahren stark zugenommen.«

Aber wieder zurück zu dem Artikel Befreit euch! Arbeitet länger! von David Hesse. Seine Einordnung des Vorstoßes der Arbeitgeber: »Das Arbeitsgesetz stammt tatsächlich aus einer anderen Zeit – einige Vorschriften sind überholt. Doch der Gewerbeverband will keine Feinjustierung, sondern eine Komplettlockerung.«

Und er ordnet das in den Gesamtkontext ein, den man im Falle der Schweiz mitberücksichtigen sollte:

»Für Unternehmen ist die Schweiz im europäischen Vergleich weiterhin das Land der Freiheit. Wo sonst kann man Arbeitnehmer ohne Begründung entlassen mit einer Kündigungsfrist von wenigen Monaten? Wo sonst sind Betriebsräte und Gewerkschaften in so vielen Branchen irrelevant? Gemäss einer OECD-Liste bieten in Europa nur Grossbritannien, Irland und das kleine Estland noch weniger Arbeitnehmerschutz als die Schweiz.«

Die Wirtschaft in der Schweiz sei „hochflexibel“, so auch das World Economic Forum (WEF) in Davos. Und Hesse berichtet weiter relativierend: »Die Überregulierung der Schweiz ist eine fixe bürgerliche Idee. Doch sie ist ein Mythos. Als die FDP 2015 breit dazu aufrief, der Partei unsinnige Vorschriften zu melden, war der Rücklauf sehr bescheiden. «Es hat noch viel Platz im Briefkasten für Bürokratiebeschwerden», kommentierte die im Grunde klar regulierungsempfindliche NZZ.«

Die Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers wird in Zeiten der Uberisierung eher zunehmen. Und David Hesse warnt auch vor einem zu naiven Glauben daran, dass die Arbeitgeber mit neuen Arbeitgeberkompetenzen maßvoll umgehen werden.

»Wenn der Chef die Mannschaft per Gesetz 50 Stunden arbeiten lassen darf, so wird er das immer wieder tun – auch dann, wenn das Personal einmal nicht mehr mag oder Kinder und Angehörige zu betreuen hätte. Die Schweizer, wirklich, sie arbeiten gern. Entrechten muss man sie deswegen nicht.«

Wo soll das enden? Sterbehilfe als Wachstumsbranche und eine fortschreitende Verschiebung der Grenzen

In diesem Blog wurde das Thema Sterbehilfe bereits in mehreren Beiträgen aufgerufen, so am 24. Oktober 2014: Vielleicht kein „Dammbruch“, aber eine „Sickerblutung“ in das gesellschaftliche Gewebe hinein. Es geht um das Sterben, um die Sterbehilfe. Und da braucht es Skepsis, Fragen und eine Warnung.

Am 13. Juni 2015 ging es dann um Die Schweiz als letztes Asyl für Sterbehelfer auf der Flucht vor Verfolgung in Deutschland? Oder geht es um todbringende Geschäftemacher, die ihr Business retten wollen?

Und am 8. November 2015 wurden die gesetzgeberischen Aktivitäten in Deutschland untersucht: Auf ganz dünnem Eis: Sterben und Tod als Gegenstand gesetzgeberischen Handelns. Zuerst das Hospiz- und Palliativgesetz, direkt danach der Regelungsversuch der Sterbehilfe.

Der vorerst letzte Eintrag datiert auf den 13. Oktober 2016: Sterbehilfe weiter auf der Rutschbahn nach unten? Bereits die Überschriften der Blog-Beiträge verdeutlichen die grundlegende Skepsis, mit der hier an das Thema Sterbehilfe herangegangen wird – ausdrücklich nicht hinsichtlich der Unhintergehbarkeit einer individuellen Entscheidung. Wir sind konfrontiert mit einem letztlich unauflösbaren Spannungsfeld zwischen der individuellen Dimension und den (möglichen) gesellschaftlichen Konsequenzen von (aktiver) Sterbehilfe. 

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Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Saisonniers in der Schweiz sowie die Knechte und Mägde des 21. Jahrhunderts in Österreich

Bekanntlich hat sich die Schweiz hinsichtlich der Zuwanderung in eine Situation manövriert, die man als eine mehrfache Bredouille beschreiben muss. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) hatte im Juli 2011 im Vorfeld der damaligen Schweizer Parlamentswahlen die eidgenössische Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“ lanciert und ihren Wahlkampf unter das Thema „Masseneinwanderung stoppen!“ gestellt. Am 9. Februar 2014 haben Volk und Stände die Initiative angenommen. Und seitdem haben die Regierungsverantwortlichen in den Schweizer Bergen eine Menge Stress, denn: Die Initiative beauftragt den Gesetzgeber, die Zuwanderung von Ausländern in die Schweiz durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente, die sich nach den gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz richten, zu begrenzen. Sie verlangt auch die Änderung dem widersprechender Staatsverträge, also namentlich der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU, welche die Personenfreizügigkeit vorsehen. Nur gibt es seitens der EU, was die vereinbarte Personenfreizügigkeit angeht, derzeit kein erkennbares Entgegenkommen, was angesichts der zwischenzeitlich erfolgten Breit-Abstimmung in Großbritannien und den anstehenden Ausstieg aus der EU auch nicht zu erwarten ist.

Neben den nun im Raum stehenden Problemen hinsichtlich der weiteren Ausgestaltung der Beziehungen zur EU kommen natürlich ganz handfeste Probleme zum Vorschein, die vereinfacht gesagt darin bestehen, dass man – auch wenn viele sie eigentlich nicht mögen – auf Ausländer als Arbeitskräfte angewiesen ist, vor allem in den personalintensiven Branchen, wo zudem noch schlechte Arbeitsbedingungen, dazu gehören auch niedrige Löhne, vorherrschen, so dass man im Inland nicht genug Arbeitskräfte findet, die bereit sind, die Jobs zu erledigen.

Und der Personalbedarf in Branchen wie dem Bau, dem Tourismus und vor allem der Landwirtschaft ist hoch. Wie kommt man nun aber aus dem Dilemma, auf der einen Seite auf Druck auch einer erfolgreichen Volksabstimmung den Zuzug in die Schweiz begrenzen zu müssen, andererseits aber auch an die erforderlichen Arbeitskräfte zu kommen?

Diese Aufgabenstellung klingt wie die Quadratur des Kreises. Aber die Schweizer sind ja durchaus bekannt für ihre Erfindungen und zuweilen geht es vielleicht auch mit der Reanimation schon mal da gewesener Regelungen, die von der Mechanik her durchaus eine praktische Umsetzung des Mottos „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ versprechen:
Das sogenannte Saisonnierstatut war über Jahrzehnte eine international beachtete Schweizer Spezialität – freilich eine hoch umstrittene, berichtet Fabian Renz in seinem Artikel Das Revival der Saisonniers.

»Sein Zweck bestand darin, dem Bau, der Landwirtschaft und dem Tourismus genügend Arbeitskräfte zuzuhalten und gleichzeitig die Zahl der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung tief zu halten: Nach spätestens neun Monaten mussten die Saisonniers die Schweiz verlassen; mindestens drei Monate pro Jahr hatten sie ausser Landes zu verbringen.«

In einem Bericht zur Ausländerpolitik aus dem Jahr 1991 wurde seitens des Bundesrats darauf hingewiesen, dass diesem Modell „Unmenschlichkeit“ vorgeworfen wurde. Aufgegeben wurde es Anfang der 2000er Jahr im Zuge der bilateralen Verhandlungen mit der EU.
Nun könnte es eine Wiederauferstehung erfahren, pikanterweise vorangetrieben von der im ländlichen Raum verankerten SVP, die doch die Masseneinanderungsinitiative auf den Weg und in ihr Ziel im Sinne einer Begrenzung der Zuwanderung gebracht hatte. Die SVP würde gerne das Saisonnierstatut in die von ihr erwünschte Kontingentsregelung einbauen und hat dafür auch Verbündete außerhalb der eigenen Partei.

Mittlerweile diskutiert man über „Kurzaufenthaltsbewilligungen mit einer Gültigkeitsdauer bis zu neun Monaten“, die dann auch von Begrenzungen der Zuwanderung ausgenommen werden sollen.
Gleichsam als Preis, die alte Saisonarbeiterregelung wieder zu bekommen, könnten Zugeständnisse gemacht werden. »So war es den Saisonniers beispielsweise untersagt, ihre Frauen und Kinder in die Schweiz zu holen. Das Verbot des Familiennachzugs war in der Tat der menschenrechtlich wohl heikelste Aspekt des Modells.« Hier könnten weniger restriktive Regelungen eingeführt werden.

Daran soll es doch nicht scheitern, (wieder bzw. in Zukunft) an billige Arbeitskräfte zu kommen. Man muss nur flexibel genug sein.

Für die Gewerkschaften ist auch ein „Saisonnierstatut light“ indiskutabel. Daniel Lampart, Sekretariatsleiter des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB/USS), kritisiert: Ausländer mit befristetem Arbeitsvertrag und ebensolchem Aufenthaltsrecht könnten sich kaum gegen ihre Chefs wehren, und sie verdienten schlechter als Niedergelassene. Das führe auch zu Druck auf die Einheimischen.

Fazit von Fabian Renz: »Fest steht: Mit der Priorisierung von 9-Monate-Werktätigen kehrte die Schweiz zu ihren ausländerpolitischen Wurzeln zurück. Bevorzugt wären wieder Niedrigqualifizierte.«

Auch in Österreich gibt es zahlreiche kritische Stimmen und Widerstände gegen eine weitere Zuwanderung in das Land (vgl. dazu beispielsweise die Hintergrundsendung Hofburg, Alpen, Populismus des Deutschlandfunks vom 2. Oktober 2016) – obgleich man dort natürlich vor den gleichen bzw. ähnlichen Herausforderungen steht wie die Schweizer, was die Deckung des Arbeitskräftebedarfs angeht. Was das bedeutet, beschreibt Vanessa Gaigg in ihrem Artikel Die Knechte und Mägde des 21. Jahrhunderts, in dem es vor allem um die Erntehelfer geht.

»Österreicher findet man laut der Gewerkschaft bei Erntehelfern selten. Schlechte Löhne und Arbeitsbedingungen sind ihr Alltag.« Obwohl wir über körperliche Schwerstarbeit reden, ist die Entlohnung mehr als mager. Da ist z.B. Ilona, die seit 16 Jahren immer wieder im Burgenland arbeitet.

»Laut Kollektivvertrag für das Burgenland, wo Ilona arbeitet, müsste sie 6,23 Euro in der Stunde bekommen. Das Problem: In der Praxis bleibt es meist bei der Theorie, was die Bezahlung angeht. So gut wie nie hat Ilona das verdient, was ihr gesetzlich zusteht.«

2013 legten 70 rumänische Erntehelfer in Tirol erstmals in großem Stil die Arbeit nieder. Es folgten öffentlich geführte Auseinandersetzungen über Löhne und Arbeitsbedingungen, auch Gerichtsprozesse. Seitdem schauen auch die Gewerkschaften genauer hin und versuchen, Kontakt zu den ausländischen Saisonarbeitern aufzubauen.

»Viele Erntehelfer wohnen bei den Bauern selbst und übernehmen auch Tätigkeiten im Haushalt wie Bügeln, Kinder ins Bett bringen oder putzen. Das Verhältnis erinnert an jene von früheren Knechten und Mägden, nur dass die fremden Landarbeiter für ihr Quartier meist bezahlen müssen. Laut Melo kommen die meisten Erntehelfer aus Rumänien und Serbien. Aber auch Bosnier, Ukrainer, Polen und Ungarn trifft sie viele.«

Österreicher suche man auf den Feldern meist vergeblich. Die meisten Bauern würden die Saisonniers sowieso bevorzugen, Experimente mit Österreichern würden oft darin enden, dass diese nach drei Tagen die anstrengende Arbeit wieder abbrechen.
Das nun wieder ist eine Erfahrung, die auch aus Deutschland berichtet wird.

Auch in Deutschland basiert die Funktionsfähigkeit ganzer Branchen auf der Beschäftigung von Saisonarbeitern, Entsendearbeitnehmern, Scheinselbständigen usw. Man sollte sich hin und wieder daran erinnern, wenn wieder Wellen der Ablehnung und der Geringschätzung Ausländern gegenüber durch das Land (und die anderen Ländern) schwappen. Darüber hinaus sind alle Akteure gefordert, die Saisonniers zu schützen, gerade weil sie oftmals nicht nur die verletzlichsten Glieder am Anfang einer Wertschöpfungskette sind, sondern auch die schwächsten Glieder, so dass sie selbst erheblich eingeschränkt sind hinsichtlich des Widerstands gegen Ausbeutungsstrukturen.