Immer weniger, immer billiger, immer schlechter? Der Verfallsprozess öffentlicher Dienstleistungen und was der Knast mit dem zum Kunden deklarierten Bürger (nicht) zu tun hat

Schon seit vielen Jahren müssen wir einen Verfallsprozess in
Teilbereichen der öffentlichen Dienstleistungserbringung erleben, der sich aus
mehreren Quellen speist. Generell kann man beobachten, dass viele öffentliche
Dienstleistungen quantitativ eingedampft wurden, also immer weniger Leistungen
erbracht werden – nicht verwunderlich ist dabei, dass das vor allem in
personenbezogenen Dienstleistungsbereichen stattfindet, denn die sind mit
entsprechenden Personalkosten verbunden. Tendenziell kann man sagen, dass –
analog zu dem, was  in „normalen“ Unternehmen
passiert – diejenigen, die geblieben sind, deutlich mehr machen müssen als
früher. Dieser grundsätzliche Rationalisierungsprozess, der im Bereich der
öffentlichen Dienstleistungen immer schon verzögert abgelaufen ist im Vergleich
zu  dem, was viele Arbeitnehmer in der
„normalen“ Wirtschaft erleben mussten und müssen, wird angereichert um eine
weitere Dimension, die ebenfalls eine Kopie dessen ist, was wir in den
profitorientierten Betrieben erleben – immer billiger soll die Arbeit gemacht
werden, zumindest aber Teile der Arbeit. Ob durch Leiharbeit und neuerdings
verstärkt über Werkverträge, über Tarifflucht oder Ausgliederung – im Bereich
der öffentlichen Dienstleistungen läuft das oftmals über Auslagerung aus dem
bislang staatlichen Bereich im Sinne einer Privatisierung, die das dann eben
„billiger“ erledigen können, weil beispielsweise deren Beschäftigte nicht
tarifgebunden arbeiten müssen oder zu niedrigeren Tarifen als die bislang
öffentlich Beschäftigten. Zuweilen auch, weil diese Dritten tatsächlich
ökonomisch effizienter arbeiten als manche nicht nur verkrustet daherkommende
staatliche Einrichtungen.

Das war übrigens auch der Ausgangspunkt einer Entwicklung,
die unter dem Begriff „New Public Management“ Anfang der 1990er Jahre seinen
Siegeszug in den westlichen Gesellschaften angetreten hat. Der Soziologe Colin
Crouch, der den Begriff der „Postdemokratie“ geprägt hat, wirft in seinem
Artikel Kunde statt
Bürger
einen kritischen Blick auf das, was da seit den 90er Jahren passiert
ist. 1993 »erschien in den USA das Buch „Der innovative Staat. Mit
Unternehmergeist zur Verwaltung der Zukunft“ von David Osborne und Ted Gaebler.
Die Idee fand in vielen Ländern Anklang, vor allem aber bei der OECD
(Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung).« Da ist sie
wieder, die OECD, die ja auch beispielsweise für die Pisa-Studien
verantwortlich zeichnet, die bekanntlich und wahrlich nicht unumstritten
erhebliche „Reform“prozesse in den Bildungssystemen vieler Länder ausgelöst
hat.

Interessant ist der Hinweis von Crouch, dass es am Anfang
dieser Entwicklung keineswegs um einen Generalangriff auf den öffentlichen
Dienst und den Staat an sich ging. »Keiner der Autoren war ein Feind des
öffentlichen Dienstes. Vielmehr befürchteten sie, dass er ineffizient und
zunehmend unnahbar werde, weil er von jenem Wettbewerbsdruck verschont war, der
privaten Anbietern Anreize zu ständigen Verbesserungen gerade auch im Bereich
der Kundenfreundlichkeit gibt. Sie wollten den öffentlichen Sektor retten,
indem sie Verfahren vorschlugen, um diesem Problem entgegenzuwirken«, so
Crouch. Wie so oft werden wir auch hier mit einer Entwicklung konfrontiert, die
mit einer guten oder zumindest diskussionswürdigen Absicht startet, dann aber
im weiteren Verlauf instrumentalisiert und deformiert wird. Ein zentraler
Ausgangsvorwurf der Vertreter des „New Public Managements“ an den öffentlichen
Dienst alten Zuschnitts war, »er habe seine Nutzer nicht als Menschen, sondern
gleichsam als Objekte betrachtet, weshalb es zu erheblichen Verbesserungen für
diese führen müsse, wenn sie den Status von „Kunden“ erhielten.« Aus einer
unbefangen-naiven Sicht erscheint das als ein durchaus ehrenwertes Anliegen,
das ja auch deshalb auf fruchtbaren Boden gefallen ist, weil viele Menschen,
die in zahlreichen staatlichen Systemen eher die Erfahrung des Bittstellertums
gemacht haben (und machen), der Kundenbegriff assoziiert ist mit der „Kunde als
König“ und damit die Hoffnung auf einen besseren Umgang.

Colin Crouch sieht Großbritannien als einen besonderen
Treiber dieser Entwicklung und die Transformation der Labour Partei unter Tony
Blair, der 1994 Vorsitzender wurde, zu „New Labour“ ist Ausdruck dieser
Geisteshaltung einer auf Markt und Wettbewerb und Abbau klassischer Steuerungsmechanismen
des Staates setzenden Philosophie. In diesem Kontext darf daran erinnert
werden, dass die „Hartz-Kommission“ 2002 umfangreiche Anleihen beim britischen Jobcenter-Modell
gemacht hat, die dann in die Vorschläge der Kommission und in die „Hartz-Gesetze“
eingeflossen sind:

»Den Nutzer öffentlicher Dienstleistungen als „Kunden“ zu
bezeichnen, ist zunächst einmal eine britische Spezialität (die in Deutschland
von der Bundesagentur für Arbeit übernommen wurde). Eine Zeit lang haben die
Behörden sogar mit dem Gedanken gespielt, Gefängnisinsassen zu „Kunden“ zu
erklären, für die man immerhin die Dienstleistung des Freiheitsentzugs
erbringe. Aus den offiziellen Verlautbarungen des britischen Transportwesens
indes ist das Wort „Fahrgast“ komplett verschwunden, dort ist nur mehr von
„Kunden“ die Rede.«

Auf die Gefängnisse werden wir gleich noch wieder zu
sprechen kommen.
Dann bringt Crouch einen interessanten Satz: »Das einzige
Merkmal, das den „Kunden“ von anderen Dienstleistungsnutzern unterscheidet, ist
seine Absicht, den fraglichen Service käuflich zu erstehen.« Genau daran kann
man aber mit Blick auf Arbeitslose oder Knastinsassen oder Teilnehmer an einer
Jugendhilfemaßnahme zweifeln.

Ein weiterer Aspekt ist darin zu sehen, dass das
„Kunden“-Konzept unvermeidlich eine Ungleichheit impliziert, die sich mit dem
Konzept eines mit Rechten ausgestatteten Staatsbürgers nicht verträgt. In jedem
privatwirtschaftlichen Unternehmen werden Kunden mit hoher Kaufkraft besser
behandelt als solche mit geringer – es gibt im privaten Sektor keine
Entsprechung zum staatlichen Konzept der Gleichheit vor dem Gesetz, so Crouch.
Man könnte hier eine Ursprungsquelle erkennen für äußerst umstrittene Konzepte
einer Kategorisierung von hilfesuchenden Menschen in der Arbeitsverwaltung nach
ihrer jeweiligen – unterstellten bzw. ihnen zugeschriebenen – „Marktnähe“, aus
der dann ganz unterschiedliche Konsequenzen für die Ausgestaltung des „Fördern
und Fordern“ resultieren.
Der entscheidende Punkt: Die Differenzierung der Kunden nach
ihrer „Werthaltigkeit“ ist in der normalen Wirtschaft eine absolut logische
Konsequenz, die allerdings ihre Schattengesichtigkeit offenbart, wenn man diese
Logik auf öffentliche Dienstleistungen überträgt. Crouch verdeutlicht das an
einem illustrativen Beispiel aus der britischen Diskussion:

»Im August 2009 erklärte der Konservative Mike Freer, damals
Vorsitzender der Bezirksverwaltung des Londoner Stadtbezirks Barnet, die
Kommune wolle sich mit ihrem Dienstleistungsangebot künftig am „Modell Ryanair“
orientieren. Die Bezirksverwaltung werde den Bürgern elementare
Dienstleistungen kostenlos zur Verfügung stellen und sie für alles darüber
Hinausgehende zur Kasse bitten.
So sollten etwa Bewohner kommunaler Altenheime einfache
Mahlzeiten kostenlos erhalten, besseres Essen aber nur gegen Aufpreis. Wer eine
Baugenehmigung beantragen wolle, könne gegen Entrichtung einer Gebühr in der
Warteliste nach vorne rücken, ähnlich wie die Passagiere (oder vielmehr Kunden)
von Ryanair per Aufschlag einen bestimmten Sitzplatz erwerben können. In
Anlehnung an den Namen einer anderen Fluggesellschaft sprechen Befürworter wie
Kritiker des Konzepts auch vom „easyCouncil“ … In Barnet hat man inzwischen
so gut wie alle öffentlichen Aufgaben an Privatfirmen outgesourct, die Mehrzahl
an Unternehmen der Capita Group. Bürger, die sich mit einem Anliegen ans
Rathaus wenden, werden an eines der vielen Callcenter der Firma verwiesen.
Infolgedessen verfügt die Kommunalverwaltung heute nicht mehr über die nötige
Sachkompetenz, um die Qualität der fremdvergebenen Dienstleistungen zu
beurteilen. Sie beschäftigt beispielsweise keine eigenen Juristen mehr – und
geht damit einen großen Schritt weiter, als es Billigfluglinien je auch nur
erwägen würden.« (vgl. zu Barnet auch den Artikel Outsourced
and unaccountable: this is the future of local government
).

 Immer weniger und immer schlechter kann man auch bei uns an
vielen Stellen beobachten. Zu welchen – nur auf den ersten Blick kuriosen –
Effekten der nur noch als pathologisch zu bezeichnende „Immer-weniger-Personal“-Wahn
führen kann, soll das folgende Beispiel illustrieren: Unter der Überschrift Häftlinge
prügeln sich, weil Wärter fehlen
berichtet Frank Bachner über die Situation
in der Justizvollzuganstalt Berlin-Tegel. Mehr als 800 Männer sitzen in der JVA
Tegel ein. Oft müssen sie fast den ganzen Tag in der Zelle bleiben – und werden
deshalb immer aggressiver, was nicht wirklich verwundern sollte. „Wenn du 23
Stunden eingeschlossen bist und in der Zelle kein Radio und keinen Fernseher
hast, drehst du durch. Dann züchtet man dort regelrecht Bomben.“ Mit diesen
Worten wird ein ehemaliger Häftling zitiert. Aus Sicherheitsgründen produziert
man ein Sicherheitsrisiko, so lässt sich das zusammenfassen, denn natürlich
weiß man, dass das Wegschließen keine gute Sache ist:

»Aber es geht nicht anders. Wärter fehlen. Wärter, die
Freistunden beaufsichtigen, Wärter, die in den Betrieben aufpassen, Wärter, die
bei den Sportstunden kontrollieren. Und wenn Wärter fehlen, müssen die
Gefangenen notfalls in ihren Zellen bleiben, 23 Stunden lang. Aus
Sicherheitsgründen.«

21 Stellen im Vollzugsdienst sind derzeit nicht besetzt,
19 Stellen sollen im kommenden Jahr wegfallen. Und die, die auf dem Papier da
sind, müssen es nicht auch in der Realität sein. Im August gab es an einem Tag
einen Krankenstand von 17,7 Prozent.

Im August gab es in Tegel in der Nähe der Essensausgabe eine
Massenschlägerei. „Diese Prügelei wundert mich nicht, das ist die Folge des
Personalmangels“, so wird ein Beschäftigter der JVA zitiert. Und noch ein weiteres
Beispiel aus dem August dieses Jahres, das die ganze Skurrilität der möglichen
Folgen des Personalmangels aufzeigen kann:

»In der JVA Plötzensee griff in der Freistunde ein
Gefangener eine Wärterin mit einem Besteckmesser an. Andere Gefangene überwältigten
ihn und führten ihn in eine gesicherte Zelle. Gefangene, nicht Wärter. Die
standen nicht zur Verfügung.«

Jetzt wird die Arbeit der Vollzugsbeamten schon
„outgesourct“ an die Gefangenen, sorry: an die Kunden der Justizverwaltung. Und
das System kann froh sein, dass das sogar funktioniert.
Und auch die Bedeutung von Arbeit kann man diesem
Fallbeispiel entnehmen:

»Es gibt Teilanstalten in Tegel, die zeitweise nur mit der
Hälfte des geplanten Personals arbeiten. Und wenn für einen der 14 Betriebe …
genügend Aufsichtspersonal fehlt, wird der Betrieb an diesem Tag geschlossen.
Die Gefangenen müssen dann in ihren Zellen bleiben. Im ersten Halbjahr 2015 gab
es in Tegel an 37 Tagen Betriebsschließungen. 37 Impulse, die eine gefährliche
Spirale in Gang bringen können. Wer nicht arbeitet, verdient kein Geld, wer
kein Geld verdient, kann sich weniger Kaffee und Zigaretten kaufen, eine
wichtige Währung im Gefängnis. Dann kann man auch weniger tauschen. 23 Stunden
in der Zelle kommen noch dazu. Kein Kaffee? Keine Zigaretten? Für einen
Gefängnispsychologen, der große Anstalten kennt, ist das eine
Horrorvorstellung: „Für viele sind Kaffee und Zigaretten ein Ventil. Die dienen
auch zum Spannungsabbau. Wenn sie es nicht haben, setzt sie das noch mehr unter
Spannung.“ 23 Stunden in der Zelle erhöhen den Druck.«

Aber in der JVA Tegel werden trotzdem Stellen gestrichen, eine
Folge von „Organisations- und Strukturänderungen“. Auch so ein Folterbegriff
für ganz viele Arbeitnehmer heute.
Perspektiven der Fortschreibung dieser Entwicklung?
Outsourcing ist das Stichwort. Dass man unsere 5-Euro-T-Shirts in Myanmar oder
demnächst wo auch immer produzieren lässt, daran haben wir uns ja schon – seien
wir ehrlich – gewöhnt. Und das osteuropäische Billigstarbeiter unser
Hackfleisch machen, da wird zwar die Nase gerümpft, aber die meisten wenden
sich beim Gedanken an Massentötungen im Sekundentakt schnell wieder anderen
Themen zu. Aber wie wäre es mit diesem Beispiel aus der Knast-Welt?

»Zu viele Häftlinge, zu wenig Platz. Norwegen hat ein
Problem mit der Unterbringung von Straftätern. Praktisch: In den Niederlanden
stehen viele Zellen leer. Oslo mietet kurzerhand ein komplettes Gefängnis – die
niederländischen Vollzugsbeamten gleich mit.«

Das kann man dem Artikel Oslo
schickt Straftäter in die Niederlande
entnehmen. »Schon seit 2010 sitzen
650 belgische Straftäter in einem von einem Belgier geleiteten niederländischen
Gefängnis in Tilburg ein. Für die Norweger gilt ebenso wie für die Belgier: Im
Strafvollzug gilt das Recht des Heimatlandes. Die Vollzugsbeamten in
Norgerhaven wurden dementsprechend geschult. Sie mussten auch ausreichend
Englisch lernen, um sich mit den Häftlingen verständigen zu können.« Das sind
doch Perspektiven. Für die Apologeten des New Public Management. Die werden
sich freuen und sicher „Effizienzvorteile“ durch „intelligente Arbeitsteilung
aufgrund von Kostendifferentialen“ bestimmen können.
Aber für die Gesellschaft stellt sich die Frage, ob und wie
wir von der Rutschbahn des immer weniger, immer billiger und immer schlechter
in der öffentlichen Daseinsvorsorge runterkommen können. 

Praktisches und theoretisches Streikrecht: Die einen (warn)streiken für ihre Forderungen, die anderen im Windschatten hoffen und bekommen Schützenhilfe vom Bundesverwaltungsgericht

Jetzt warnstreiken die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Bund und Kommunen wieder – bzw. genauer: die, die streiken dürfen, also die Angestellten. Die Beamten begleiten das als Zaungäste und drücken die Daumen. Die Forderungen der Arbeitnehmerseite liegen seit längerem auf dem Tisch und die Arbeitgeberseite hat sich noch nicht durch ein eigenes Angebot hervorgetan. Am kommenden Montag und Dienstag gibt es die nächste Verhandlungsrunde und für die sind alle Beteiligten „zuversichtlich“, was einen Abschluss angeht. Bis dahin werden wir Zeugen des „Showdown vor der letzten Runde„, wie Eva Völpel ihren Artikel über die neue Warnstreikwelle überschrieben hat. „Streik trifft Pendler, Rentner und Eltern in der Region„, so kann man es in der Online-Ausgabe der WAZ lesen.

mehr

Langsam aber sicher wird es gefährlich für die Bürger – die Daseinsvorsorge im Schraubstock von Personalabbau und bürokratischer Erstarrung

Es ist ein mittlerweile fast schon antiquiert daherkommender Begriff, dessen Inhalte aber von existenzieller Bedeutung für uns als Bürger sind, was man meistens erst dann merkt, wenn diese Inhalte immer leichter und weniger werden, was zumeist ein fließender Prozess ist: Die Rede ist hier von der Daseinsvorsorge. »Daseinsvorsorge ist ein verwaltungsrechtlicher Begriff, der auch in der politischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion eine wichtige Rolle spielt. Er umschreibt die staatliche Aufgabe zur Bereitstellung der für ein menschliches Dasein als notwendig erachteten Güter und Leistungen − die so genannte Grundversorgung. Dazu zählt als Teil der Leistungsverwaltung die Bereitstellung von öffentlichen Einrichtungen für die Allgemeinheit, also Verkehrs- und Beförderungswesen, Gas-, Wasser-, und Elektrizitätsversorgung, Müllabfuhr, Abwasserbeseitigung, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Krankenhäuser, Friedhöfe, Bäder usw.«

Eine kurze Reminiszenz sei an dieser Stelle vor dem Übergang zur aktuellen Debatte erlaubt: In der ursprünglichen Dogmatik des Verwaltungsrechts gab es nur die Eingriffsverwaltung, die dem Bürger ein Tun, Dulden oder Unterlassen aufgibt und ihn in seiner freien Entfaltung eingrenzt, beispielsweise zur Gefahrenabwehr. Es war Ernst Forsthoff, der in seiner 1938 in Königsberg erschienenen Schrift „Die Verwaltung als Leistungsträger“ diese auf Eingriffsverwaltung fokussierte Dogmatik um das Konzept der Leistungsverwaltung erweiterte, mit dem das Verhältnis des Einzelnen zum leistungsgewährenden Staat bestimmt werden sollte. Damit hat sich also ein Mann als Geburtshelfer dieses wichtigen Begriffs betätigt, das sei hier der Vollständigkeit halber angemerkt, der vor allem über sein bekanntestes, 1933 veröffentlichte Werk – „Der totale Staat“ – neben  Carl Schmitt, Karl Larenz, Theodor Maunz, Herbert Krüger u.a. zu den Juristen gehörte, die versucht haben, dem Nationalsozialismus eine staatsrechtliche Legitimation zu verschaffen. Nach dem Ende der NS-Zeit konnte er wie viele andere auch seine professorale Karriere in der Bundesrepublik fortsetzen, u.a. auch als Kommentator unseres Grundgesetzes. Und mit Blick auf das Grundgesetz für die Sozialpolitiker erneut relevant sind seine Beiträge in der Debatte um die Begriffe Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit und deren Zusammenspiel im Verfassungsrecht.

Forsthoff hat auf die Notwendigkeit, dass dem Einzelnen Teilhaberechte an Leistungen der Daseinsvorsorge zustehen müssen, hingewiesen. Als Daseinsvorsorge ist demnach die „leistungsgewährende Betätigung des Staates“ zu verstehen, um die Teilhaberechte der einzelnen Bürger einlösen zu können – wenn wir an die gegenwärtige Debatte über Inklusion und die Realisierung von Teilhabe für behinderte Menschen denken, dann erkennt man, dass der so verstandene Begriff nichts an Aktualität eingebüßt hat, ganz im Gegenteil markiert er eine der sicher größten Baustellen der vor uns liegenden Jahren, wenn man denn Inklusion als das versteht, was es ist: ein revolutionäres Konzept aus Sicht der bestehenden Strukturen.

Aber zurück zu dem „klassischen“ Verständnis von Daseinsvorsorge, wie er bei Forsthoff und seinen Nachfolgern viele Jahrzehnte präsent und verankert war: Für die Sicherstellung der Daseinsvorsorge braucht man „slebstverständlich“ eine funktionierende, soll heißen eine leistungsfähige Verwaltung. Auf die Idee, die mit Daseinsvorsorge verbundenen Aufgaben an private Unternehmen auszulagern, wäre man lange Zeit sicher nicht gekommen und die Versuche in diese Richtung, die wir vor allem seit den 1990er Jahren erleben, sind ja mehr als ambivalent zu bewerten, um das mal vorsichtig auszudrücken.

Und genau um eine funktionierende „Leistungsverwaltung“ soll es hier gehen. Denn diese – das zeigen die chaotischen Entwicklungen, die wir derzeit bei der Bahn rund um den Hauptbahnhof Mainz erleben müssen, die man aber nur als oberste Spitze eines weitgehend nicht-sichtbaren Eisberges verstehen muss – wird immer offensichtlicher in Frage gestellt. Denn aus unterschiedlichen Gründen ist die Leistungsfähigkeit der Leistungsverwaltung substanziell beschädigt (worden). So die These von Carsten Brönstrup in seinem Artikel „Öffentlicher Dienst schlägt Alarm wegen Personalmangel„: »Die Bahn ist kein Einzelfall. Auch bei der Polizei, in Kliniken, bei Feuerwehr und Verwaltungen fehlt nach Jahren des Sparens das Personal. Für die Bürger wird das allmählich gefährlich.« Für Brönstrup ist der Engpass bei der Bahn kein Einzelfall. Überall im öffentlichen Bereich hat sich der Staat in den vergangenen Jahren zurückgezogen und beim Personal bis zur Schmerzgrenze gespart. Nach Jahren des Sparens tun sich immer mehr Lücken auf – bei der Polizei, bei der Feuerwehr, in Schulen und Kitas, im Gesundheitssektor und damit in Bereichen, die für uns Bürger von existenzieller Bedeutung sind.

Ganz offensichtlich laufen wir systematisch in eine doppelte Falle hinein: Zum einen fehlt es vorne und hinten an Personal aufgrund der Kürzungen in der Vergangenheit, zum anderen aber steht aufgrund der Altersstruktur eine große Pensionierungs- bzw. Verrentungswelle bevor, die für sich genommen schon einen erheblichen Ersatzbedarf auslöst.

Zum Aspekt Demografie ein Blick auf Berlin:

»Seit der Wende halbierte der Senat die Zahl seiner Bediensteten auf nun noch gut 105.000 Stellen. Folge: Das Durchschnittsalter liegt bereits bei 50 Jahren. Bis 2018 wird jeder vierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst in den Ruhestand gehen. Schon jetzt sei das Personal so knapp, dass etwa die Feuerwehr immer länger brauche, bis sie am Einsatzort eintreffe, heißt es bei den Gewerkschaften. Bei jedem zweiten Einsatz dauere es länger als acht Minuten.«

Brönstrup beleuchtet einige Felder der Daseinsvorsorge beispielhaft:

»Beispiel Polizei: „In den vergangenen Jahren hat es einen rasanten Kahlschlag gegeben“, sagt Rainer Wendt, der Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. „10 000 Stellen sind in den vergangenen 15 Jahren bundesweit abgebaut werden, die müssten wieder aufgebaut werden“, sagte er dem Tagesspiegel. Doch danach sieht es nicht aus, vor allem nicht in Ostdeutschland: Dort sollen in den nächsten fünf Jahren Wendt zufolge noch einmal 9000 Stellen wegfallen. „Die Polizei zieht sich dort aus der Fläche zurück. Wir haben Sorge, dass sich andere Faktoren als Ordnungskräfte aufspielen, Rechtsextreme zum Beispiel.“«

Ein weiteres Beispiel wären die vielen fehlenden pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen – und das angesichts der Tatsache, dass der Staat erst vor kurzem den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz auf die unter dreijährigen Kinder erweitert hat.

»Um fast ein Drittel ist der Personalbestand des Staates seit 1991 zurückgegangen. Schlank sollte das Gemeinwesen sein, das war die Maxime. Die Arbeitsdichte und der Stress haben so überall deutlich zugenommen«, so Brönstrup. Übrigens hat dieses Kaputtsparen auch volkswirtschaftlich negative Effekte, die man beispielsweise beobachten konnte, als der Staat 2009 im Jahr der Krise ein umfangreiches Konjunkturprogramm aufgelegt hat, das u.a. erhebliche Bauinvestitionen in den Kommunen beinhaltete. In der Praxis verzögerte sich trotz der verfügbaren Mittel dann die Realisierung der Bauvorhaben, weil in vielen Kommunen die Bauämter schlichtweg auf der allerniedrigsten Sparflamme gefahren werden, die dem zusätzlichen Ansturm einfach nicht gewachsen waren.

Ein weiteres, durchaus unappetitliches Beispiel aus dem Artikel von Brönstrup:

»Sogar beim Essen spüren die Bürger die Folgen des Spardiktats: Die Zahl der Lebensmittelskandale häuft sich, weil es an Kontrollen fehlt. „Um Irreführungen und Täuschungen aufzudecken, bräuchten wir mindestens 1.200 bis 1.500 zusätzliche Kollegen“, sagt Martin Müller, Vorsitzender des Bundesverbandes der Lebensmittelkontrolleure. In Berlin etwa sei ein einziger Kontrolleur für bis zu 1.200 Betriebe zuständig. „Da können wir einfach nicht mehr den nötigen Druck machen. So ist der nächste Lebensmittelskandal programmiert“, befürchtet Müller.«

In den Krankenhäusern sieht es nicht besser aus. Bundesweit müssten 162 000 Kräfte eingestellt werden, urteilt die Gewerkschaft Verdi. 70 000 Stellen davon entfallen auf das Pflegepersonal.

Eine bessere Ausstattung der Leistungsverwaltung mit Personal würde Geld kosten. An dieser Stelle kommt dann immer reflexhaft die Frage, woher dieses Geld denn kommen soll. Eine – mögliche – Antwort wird uns von Brönstrup mit auf den Weg gegeben, indem er den Chef der Deutschen Steuergewerkschaft, Thomas Eigenthaler, zitiert:

„Jeder neu eingestellte Finanzbeamte bringt ein Vielfaches dessen ein, was er kostet“, sagt er. Ein Betriebsprüfer im wirtschaftsstarken Bayern etwa erhöhe die Steuereinnahmen um mindestens 1,5 Millionen Euro im Jahr, ein Fahnder um eine Million. Doch kaum ein Finanzminister lässt einstellen. „Wir bräuchten im Minimum 11.000 bis 15.000 neue Leute“, fordert Eigenthaler. Wer bei der Einnahmen-Verwaltung spare, spare auch bei den Einnahmen. Was sich auf dem Mainzer Bahnhof abspiele, geschehe in den Finanzämtern jeden Tag. „Wir haben ein Dauer-Mainz – nur interessiert sich dafür niemand.“«