Die Notwendigkeit der Beherrschung „höherer Mathematik“ im Allgemeinen und bei der „Mütterrente“ im Besonderen

Nur weil am vergangenen Freitag das „Rentenpaket“ verabschiedet worden ist, sollte man nicht glauben, dass die Diskussionen darüber nun erledigt sind. Vielleicht wird das „hysterische Gejaule“ verstummen, von dem die Bundesarbeitsministerin Nahles (SPD) mit Blick auf die Nörgler und sonstigen Kritiker verächtlich gesprochen hat. Nicht aber der nüchterne Blick und die daraus abgeleiteten Anfragen an das, was die Regierenden der Bevölkerung und dem Rentensystem ins Nest gelegt hat. Nehmen wir als ein Beispiel die so genannte „Mütterrente“, korrekt formuliert die rentenrechtliche Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten. Bekanntlich wollte man auch hier eine „Gerechtigkeitsverbesserungsoperation“ vornehmen, denn die bisherige Rechtslage hat unterschieden zwischen Kindern, die vor und solche, die nach 1992 das Licht dieser Sozialstaatswelt erblickt haben. Für die einen, die vor dem Stichtag geboren wurden, gab es nur einen Rentenpunkt, für die jüngeren Racker immerhin drei. Nun hat man diese „Gerechtigkeitslücke“ zwar nicht geschlossen, aber immerhin halbiert, denn in Zukunft soll es für die älteren Exemplare zwei, wenn auch nicht drei Punkte geben.

In den westlichen Bundesländern ist ein solcher Punkt vom Juli 2014 an 28,61 Euro wert, im Osten sind es 26,39 Euro. Also bekommt eine – im Regelfall ist es die – Mutter für ein Vor 1992-Westkind 57,22 Euro monatlich bei der Rente cash auf die Hand, für ein entsprechendes Ost-Pendant wären das dann 52,78 Euro. Es soll hier nun nicht darum gehen, dass das Ostkind (immer noch) weniger wert ist als das Westkind, das liegt in der Systematik der unterschiedlichen Rentenwerte begründet. Es soll hier um das berühmte „Kleingedruckte“ gehen, mit dem wir alle schon sicher unsere Erfahrungen im Leben gemacht haben. Stefan Sauer hat das in seinem Artikel Die Mütterrente und das Kleingedruckte aufgearbeitet.

Also, wenn wir mal von der Nur-Halbierung der „Gerechtigkeitslücke“ großzügig absehen, dann ist die Sachlage also klar: Es gibt mehr Geld für die Mütter, die einen Teil ihres Lebens mit der Pflege, Betreuung, Bespaßung und Bildung der kleinen (potenziellen) zukünftigen Beitragszahler verbracht haben. Also eigentlich. Und schon ist wieder da, das „aber“. Denn das „mehr Geld“ »gilt allerdings nur für Frauen, die während der Erziehungszeiten kein oder ein nur geringes sozialversicherungspflichtiges Einkommen erzielten. Mütter, die bald nach der Geburt ihrer Kinder wieder in den Beruf einstiegen und gut verdienten, profitieren von der Mütterrente hingegen weniger – und im Extremfall gar nicht. Dies betrifft vornehmlich ostdeutsche Frauen.«

Ups – wie das?

Jetzt braucht der geneigte Leser profunde Kenntnisse der Schulmathematik, um den erläuternden Ausführungen folgen zu können. Hilfsweise ganz langsam lesen und sich Notizen machen:

»Vereinfacht gesagt werden der Rentenpunktwert, der in einem Jahr durch Berufstätigkeit erworben wurde, mit dem Rentenpunkt der Mütterrente verrechnet, wenn bestimmte Obergrenzen überschritten sind. Ein Beispiel: Im Jahr 1975 konnten westdeutsche Arbeitnehmer, die den Höchstbeitrag in den Rentenkassen zahlten, maximal 1,54 Rentenpunkte erwerben. Die Mutter eines 1974 geborenen Kindes, die 1975 aufgrund ihres Arbeitseinkommens 1,2 Rentenpunkte angesammelt hat, erhält für das Erziehungsjahr 1975 daher nicht einen vollen Rentenpunkt, sondern nur 0,34 Punkte – im Westen also nicht 28,61 Euro, sondern 9,28 Euro.«

Also 9,28 Euro sind weniger wert als 28,61 Euro. Das versteht jeder. Und jetzt wieder diese Ostrentner mit ihren ständigen Abweichungen, denn Mitte der 1970er Jahre herrschte der real existierende Sozialismus in der damals noch existierenden DDR und damit auch keine D-, sondern die Ostmark. Man muss als umrechnen:

»Hierfür gibt es die „Umrechnungswerte“, mit denen das DDR-Einkommen mal genommen wird, um auf vergleichbare Westentgelte zu kommen. Der Umrechnungswert für 1975 liegt bei 2,62. Bei einer Frau mit dem damals in der DDR für die Rentenberechnung gängigen Monatseinkommen von 600 Mark werden also 1.576,30 DM als beitragspflichtiges Einkommen berücksichtigt (600 mal 2,62). Das Durchschnittseinkommen im Westen lag damals bei 1.817 Mark, wofür es einen Rentenpunkt gab. Für 1.576,30 werden der Frau also 0,87 Rentenpunkte gut geschrieben. Für ihr Kind erhält sie nun eigentlich einen weiteren Punkt. Da die erreichbare Obergrenze 1975 im Westen aber bei 1,54 Punkten lag, werden der Mutter nur 0,67 Punkte für die Mütterrente gut geschrieben (1,54 minus 0,87). Sie erhält nicht 26,39 pro Monat zusätzlich, sondern nur 17,68 Euro.«

Und dann wird noch ein „Sahnehäubchen“ oben drauf gesetzt: »Als wäre all das nicht kompliziert genug, wird diese Rechnerei nur bei Frauen vorgenommen, die nach dem 30. Juni diesen Jahres in Rente gehen. Für alle „Bestandsrentnerinnen“ wird pauschal pro Kind ein Rentenpunkt aufgeschlagen. Sie erhalten also den vollen Punktwert.« Alles klar?

Ja klar – aber 17,68 Euro sind nun mal mehr als 9,28 Euro für unser beispielhaftes Westkind. Die westdeutschen Mütter werden also scheinbar „benachteiligt“ gegenüber den werktätigen Ex-DDR-Mädels, könnte jetzt auch eine Conclusio aus der dargestellten Rumrechnerei sein. Die natürlich nicht wirklich stimmt, denn der aufmerksame Mitrechnet wird natürlich in Erinnerung haben, dass die Westwerktätige über dem durchschnittlichen Arbeitseinkommen verdient hat, während es bei der Ostwerktätigen genau das damalige durchschnittliche Arbeitseinkommen war. Deshalb bekommt die mehr, weil die weniger verdient hat und insofern werden die also eigentlich gleich behandelt. Alles klar?

Was den Fall so „interessant“ macht hinsichtlich seines „logischen Gehalts“: Der „normale“ Bürger wird bislang davon ausgehen, ein Rentenpunkt mehr für ein Vor 1992-Kind ist ein Punkt mehr. Nichts da. Wir haben gesehen, dass der Rentenpunkt im Falle der frühzeitigen Erwerbstätigkeit eindampft auf ein anteiliges Rententeilpünktchen. Das ist – um das hier nur anzumerken – per se nicht unlogisch, denn den vollen Punkt soll es ja als Kompensation für die Nicht-Erwerbsarbeit und der daraus abgeleiteten Beitragszahlungen und korrespondierend Rentenansprüche später gewährt werden. So sind wir konfrontiert mit der Tatsache, dass viele Betroffene offensichtlich (noch) nicht wissen, dass es weniger als einen Punkt in „Nach-dem-30.Juni-Rentenfällen“, geben wird – und die Aufklärung des Durchschnittsbürgers wird didaktisch angesichts der zu berücksichtigenden Parameter auch eine echte Herausforderung werden.

An dieser Stelle mal ein großes Dankeschön an die Bundesrentenministerin Andrea Nahles: Wie viele unlösbare Klausuraufgaben kann der Hochschullehrer für Sozialpolitik aus diesen neuen Regelungswelten konstruieren? Damit schaffen wir jede Durchfallquote, die gewünscht wird, um die Zahl der Studierenden zu reduzieren 😉

Ein Geben und Nehmen: Die Große Koalition einigt sich auf das vorerst endgültige Design des „Rentenpakets“

Nun soll sie also vorliegen, die finale Version des „Rentenpakets“ der Großen Koalition. Im Internet wurde ein Schriftstück veröffentlicht von heute, 13 Uhr, anderthalb Seiten zum Rentenpaket und eine knappe Seite zu den Ergebnissen der Arbeitsgruppe „Flexible Übergänge in den Ruhestand“ mit möglichen Ansätzen zur Verbesserung des geltenden Rechts. Nahles bekommt ihre Rente mit 63 – aber mit Modifikationen zum bisherigen Gesetzentwurf. Und am kommenden Freitag wird es noch mal spannend: »Dem Vernehmen nach dürfte am Freitag auf Antrag der Opposition über die einzelnen Teile des Rentenpakets getrennt abgestimmt werden. Einen solchen Antrag kann die Koalitionsmehrheit nicht ablehnen, hieß es.« Da darf man gespannt sein, wie groß die Zahl der Abweichler aus der Unionsfraktion bei dem Teil sein wird, der die ungeliebte „Rente mit 63“ beinhaltet. Was aber sind nun die Kompromisse, auf die man sich angeblich verständigt hat?

Dazu muss man noch mal kurz in Erinnerung rufen, dass das „Rentenpaket“ eigentlich aus vier Bausteinen besteht, von denen aber nur zwei überhaupt in der öffentlichen Debatte wahr- und auseinandergenommen werden: Also zum einen die „Rente mit 63“ und die so genannte „Mütterrente“, hinzu kommen noch Verbesserungen bei der Erwerbsminderungsrente und den Reha-Leistungen.

Den meisten Aufruhr gab und gibt es um die „Rente mit 63“, für die einen das Herzstück der sozialdemokratischen Wiedergutmachungspolitik gegenüber den (Industrie-)Gewerkschaften, für die anderen ein zentraler Angriff auf die in der Vergangenheit vorgenommenen Weichenstellungen hin zu  einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit („Rente mit 67“). Insofern überrascht es nicht, dass es an dieser Stelle die meisten Infragestellungen seitens der Kritiker gab und zum anderen aber auch die SPD-Seite versuchen muss, ihr zentrales Anliegen zu retten und der anderen Seite nicht zu sehr entgegenzukommen. Hier die angeblichen Ergebnisse der Kompromisssuche:

  • Zeiten des Arbeitslosengeldbezugs werden wie bereits im vorliegenden Entwurf ohne zeitliche Beschränkungen angerechnet. Um (angebliche) Missbräuche auszuschließen, hat man sich nun darauf verständigt, dass Zeiten des Arbeitslosengeldbezugs in den letzten zwei Jahren vor der abschlagsfreien Rente mit 63 nicht mehr mitgezählt werden bei der Berechnung der erforderlichen 45 Beitragsjahre. Eine Ausnahme von diesem Ausschluss ist jedoch dann vorgesehen, wenn die Arbeitslosigkeitszeiten durch eine Insolvenz oder eine vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers verursacht wurden. Damit folgt der hier skizzierte Kompromiss dem, was bereits in den vergangenen Tagen diskutiert wurde (vgl. hierzu den Beitrag Angekündigter Doppelbeschluss: Die Rente mit 63 soll mit der Arbeitslosigkeit bis 61 fusioniert werden).
  • Im bislang vorliegenden Gesetzentwurf (wie übrigens auch im bereits geltenden Recht, was die abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte ab 65 betrifft) gab und gibt es keine Regelung, dass der Rentenanspruch ohne Abschläge auch mit freiwilligen Beiträgen begründet werden kann. Dies ist also im ursprünglichen Entwurf der Rente mit 63 bewusst herausgenommen worden. Das Problem hierbei ist, dass zu den freiwillig Versicherten, die damit nicht in den Genuss dieser Möglichkeit eines vorzeitigen und vor allem abschlagsfreien Renteneintritts kommen können, insbesondere selbstständige Handwerker gehören, die nach 18 Jahren Pflicht Beitragszahlung in die freiwillige Versicherung wechseln können, häufig jahrelang für Arbeitnehmer eingezahlt und damit ihren Beitrag erbracht haben. Sie sollen jetzt auch bei der abschlagsfreien Altersrente ab 63 berücksichtigt werden. Es sei an dieser Stelle nur angemerkt, dass man das gesetzestechnische sicher nicht auf die Handwerker wird begrenzen können, sondern den Tatbestand der Erfüllung der erforderlichen Beitragsjahr auch durch freiwillige Beiträge auf alle freiwillig Versicherten ausdehnen muss.
  • Als dritter Punkt in dem so genannten Kompromisspapier, das heute veröffentlichte wurde, finden sich Hinweise auf das Thema flexible Übergänge von Beruf in die Rente, offensichtlich eine Reaktion auf die Forderungen aus den Reihen der Gegner der „Rente mit 63“, das wenn man schon die Kröte schlucken muss, dann klare und verbindliche Schritte in Richtung auf eine „Flexi-Rente“ vereinbart werden müssten. Hierzu findet sich in dem vorliegenden Papier der folgende Hinweis: Es wird darauf hingewiesen, dass es „Wünsche von Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ geben würde, auch nach Erreichen der Regelaltersgrenze und darauf bezogener Beendigungsvereinbarungen einvernehmlich das Arbeitsverhältnis für einen von vornherein bestimmten Zeitraum rechtssicher fortsetzen zu können. Dies will man offensichtlich über die folgende Formulierung erreichen bzw. den Protagonisten in Aussicht stellen: „soweit bereits vereinbart ist, dass ein Arbeitsverhältnis mit erreichen der Regelaltersgrenze endet, kann dieser Zeitpunkt künftig über das Erreichen der Regelaltersgrenze – gegebenenfalls auch mehrmals – hinausgeschoben werden. Die Vereinbarung über das Hinausschieben muss während des laufenden Arbeitsverhältnisses geschlossen werden.“
  • Der Vollständigkeit halber sollte nicht vergessen werden, dass das vorliegende Kompromisspapier als vierten Bestandteil die Einsetzung einer Arbeitsgruppe vorsieht, die Vorschläge entwickeln soll wie Arbeit und Rente besser als bisher miteinander kombiniert werden können.

Insgesamt zeichnet sich das vorliegende Papier dadurch aus, dass die „Rente mit 63“ ohne größere Blessuren aus dem sich in den vergangenen Tagen erheblich aufschaukelnden Disput zwischen den Befürwortern und Gegnern innerhalb der großen Koalition herausgekommen ist. Ob die „rotierende Stichtagsregelung“, die so zwar nicht genannt, aber beschrieben wird, auch Verfassung fest ist, wird die Zukunft erweisen. eines aber wird immer klarer erkennbar: Die Aufladung der „Rente mit 63″  mit Gerechtigkeitsüberlegungen erweist sich immer mehr als das, was es ist – eine große Illusion. Nehmen wir nur als Beispiel die neu gefundene Ausnahmeregelung, dass Zeiten der Arbeitslosigkeit zwei Jahre vor dem Renteneintritt in die abschlagsfreie Rente mit 63 dann anerkannt werden können bei der Berechnung der Beitragsjahre, wenn sie aus einer Insolvenz des Unternehmens resultieren. Die Besserstellung dieses Falls wird dem Arbeitnehmer sicher nicht besonders gerecht erscheinen, der mit 61 von seinem Arbeitgeber gekündigt wurde, beispielsweise aus betriebsbedingten Gründen und dem vielleicht ein oder gerade die zwei Jahre fehlen, um die abschlagfsreie Rente mit 63 in Anspruch nehmen zu können.

Besonders lehrreich ist der nunmehr auftauchende Kompromiss, dass auch Zeiten einer freiwilligen Versicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung bei der Bestimmung der zu erfüllenden Beitragsjahre berücksichtigt werden können. Man hat dies nicht ohne Grund im bisherigen Entwurf der Rentengesetzgebung ausgeschlossen. Denn anders, als jetzt in dem Kompromisspapier artikuliert, geht es eben nicht nur um die Fälle, in denen selbstständige Handwerker, die zuvor jahrelang ihre Pflichtbeiträge abgeführt haben und die sich ordentlich weiter freiwillig versichert haben, sicher erhebliche Gerechtigkeitsanfragen an das System stellen bzw. stellen würden, wenn ihre freiwilligen Versicherungsjahre bei der abschlagsfreien Rente mit 63 nicht berücksichtigt werden. Soweit so gut. Aber hierunter fallen eben auch andere Fälle in der Rentenversicherung, die nunmehr – gleichsam im Windschatten der Regelung für die Handwerker – von der Anrechnung auf die Beitragsjahre mit profitieren werden.

Thorsten Denkler und Thomas Öchsner haben in ihrem Artikel Paradoxe Intervention darauf hingewiesen, dass es gerade die CSU war, die explizit mit Gerechtigkeitsaspekten eine Forderung nach einer Ausweitung der „Rente mit 63“ (es sei ungerecht, dass Zeiten der Arbeitslosigkeit angerechnet werden sollen, nicht aber freiwillige Beitragsjahre) begründet hat. Nun fallen darunter wie gesagt aber nicht nur die Handwerker, wo man der Argumentation sicher voll folgen kann. »Von den 324.000 Menschen, die freiwillig gesetzlich rentenversichert sind, zahlen nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung (DRV) 88 Prozent den Mindestbeitrag von 85 Euro im Monat. Die Höchstgrenze liegt bei 1.124 Euro.« Die freiwillig Versicherten können übrigens die Beitragshöhe – vom zu zahlenden Mindestbeitrag abgesehen – übrigens selbst festlegen. Was ist nun das Problem an dieser Stelle? Die Öffnung könnte dazu führen, dass freiwillig Versicherte sich mit einem sehr geringen Beitrag die Abschlagsfreiheit erkaufen können: »Wem für die abschlagfreie Rente mit 63 etwa nur ein Versicherungsjahr fehlt, der zahlt einfach den Betrag nach und schon geht es aufs Altenteil.«

Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass in dem nun heute veröffentlichten Kompromisspapier über die „Mütterrente“ überhaupt kein einziges Wort verloren wird. Dabei gibt es natürlich auch hier erhebliche Fragezeichen, die in der breiten Öffentlichkeit nicht mal ansatzweise so diskutiert werden, wie die (angeblichen und tatsächlichen) Probleme der „Rente mit 63“. Aber auch bei der Mütterrente gibt es Licht und Schatten. Eine ausführliche Diskussion findet sich in der vor wenigen Tagen veröffentlichten Studie von Bach, S. et al. (2014): Die Verteilungswirkungen der Mütterrente. Es geht hier weniger um das Thema Finanzierung, also die Kritik, dass die „Mütterrente“ nicht aus Steuer-, sondern Beitragsmittel finanziert werden soll. Die „Witwerrente“ kommt zwar bei den Rentnerinnen mit kleinen und mittleren Renten an, nicht aber bei den fast 300.000 Rentnerinnen, die derzeit in der Grundsicherung sind, denn hier wird der zusätzliche Rentenbetrag voll auf den Grundsicherungsanspruch angerechnet, anders ausgedrückt: In diesen Fällen zahlt sich der Staat die Mittel der Rentenversicherung aus. Nur bei den Betroffenen kommt keinen Cent an. Dazu passt dann diese Einordnung: »Mit geschätzten Zusatzkosten von 6,7 Milliarden Euro ist die Mütterrente der teuerste Teil des von der großen Koalition geplanten Rentenpaketes … Von den 6,7 Milliarden Euro bleiben den Wissenschaftlern zufolge nur etwa 5,3 Milliarden letztlich bei den begünstigten Rentnerinnen. Der Rest fließe über höhere Steuern und Sozialbeträge oder eingesparte Transferzahlungen wieder an den Staat zurück.«

So oder so – das Ding wird jetzt am Freitag durch den Bundestag geschoben werden. Die Fragezeichnen allerdings bleiben, vor allem aber die Systemfragen.

Vom Ritual der Anhörungen, viel Papier und einem „Rentenpaket“, das mit Zwischenstopp im Bundestag unterwegs ist zum Empfänger. Und wie immer steckt der Teufel im Detail

Es ist eingetütet und bereits on the road – das „Rentenpaket“ der großkoalitionären Bundesregierung. Gut, derzeit liegt es noch im Bundestag und vielleicht wird das eine oder andere auch noch im parlamentarischen Gang der Dinge auf die Verpackung gekritzelt, aber es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn nicht zum Sommer die gesetzgeberische Umsetzung der beiden zentralen Bausteine dieses Vorhabens – also die vorübergehende „Rente mit 63“ und die dauerhafte Anhebung eines Teils der „Mütterrente“, beides verbunden mit einer dauerhaften Absenkung des Rentenniveaus über das bisherige Maß hinaus und einem tiefen Griff in die derzeit gut gefüllten Kassen der Rentenversicherung -, das Licht der Welt erblicken werden. Zu den rituellen Bestandteilen der Behandlung eines Gesetzesvorhabens gehört die Anhörung von „Sachverständigen“, in aller Regel von Interessengruppen und einigen wenigen „Einzelsachverständigen“, die von der einen oder der anderen Partei in den Ring gerufen werden. Die Effizienz und Effektivität dieser Form der angestrebten Kompetenzerweiterung des Parlaments wäre ein eigenes Habilitationsthema, hilfsweise mag man sich begnügen mit der Annahme, dass da nicht so wirklich viel passiert. Aber man möchte ja keinem weh tun, also werfen wir einen kurzen Blick auf die Anhörung zu dem „Rentenpaket“ von Nahles & Co., die am 5. Mai stattgefunden hat.

Ausgangspunkt ist der „Entwurf eines Gesetzes über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Leistungsverbesserungsgesetz)“ der Bundesregierung. Hierzu (und zu zwei Anträgen und einem Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke) fand nun am 05.05.2014 eine zweistündige Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales im Deutschen Bundestag statt. Man kann sich diese Anhörung als Video anschauen oder aber gleich zu der Zusammenstellung der schriftlichen Stellungnahmen der geladenen Institutionen und Sachverständigen greifen, die als Ausschussdrucksache 18(11)82 veröffentlicht worden ist. Wieder einmal haben sich da viele viel Mühe gemacht, ihre Gedanken zu Papier zu bringen. Dem gegenüber steht dann ein Kommentierung wie die von Henrike Roßbach unter der Überschrift Andrea Nahles auf Autopilot: »Es wird viel Kritik zu hören sein, wenn die Verbände und Fachleute heute vor dem Sozialausschuss des Bundestags ihre Meinung zum Rentenpaket von SPD-Sozialministerin Andrea Nahles kundtun …
All das wird die Ministerin aber nicht aufhalten.«

Das ist aber keineswegs ein Sondermerkmal der Frau Nahles, sondern entspringt eben der Ritualisierung und damit verbunden auch der Entleerung von Anhörungen als Instrument der Politikberatung. In eine ähnliche Richtung auch die Einschätzung von Max Haerder in einem Artikel der WirtschaftsWoche, der davon ausgeht, dass Expertenanhörungen im Bundestag häufig wie Stellvertreterkämpfe funktionieren: »Die Anhörung im Berliner Sitzungssaal am Montagnachmittag war ein Paradebeispiel für diese politische Kunst der indirekten Kriegsführung – bis hinzu Nickeligkeiten zwischen den Fachleuten selbst, die sich gegenseitig die fachliche Neutralität absprechen wollten. Am Ende zweier detailreicher Stunden konnten alle Beteiligten ermattet, aber zufrieden vor die Mikrofone treten und per Pressemitteilungen verbreiten, wovon sie schon vorher überzeugt waren.«

Kritik hat es gegeben und man kann sie nachlesen, vor allem in den Stellungnahmen der Anzuhörenden. Was die aber genau gesagt und geschrieben haben, darüber geht dann die Berichterstattung durchaus ihre eigenen Wege. So kann man in der Online-Ausgabe der WELT lesen: Experten geben der Rente mit 63 miserable Noten. Der Bericht des Deutschen Bundestages über die Anhörung selbst kommt schon anders daher, wenn man nur die Überschrift betrachtet: Frühverrentung nein, Leistungseinbußen ja. Daraus nur ein bemerkenswerter Satz vor dem Hintergrund der Debatten in den vergangenen Wochen: »Das Risiko einer Frühverrentungswelle durch die geplante abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren bewertet eine Mehrheit von Sachverständigen als gering.« Oder: »„Ob es zu einer Frühverrentungswelle kommen wird, wissen wir nicht. Die Berechnungen sind unterschiedlich«, mit diesen Worten aus der Anhörung wird Eckart Bomsdorf, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Universität Köln, zitiert. Also reichlich Nebel in der Arena der Stellvertreterkämpfe.

Interessanter sind dann solche Ausführungen, die man beispielsweise in dem Artikel Lauter Teufel im Detail von Barbara Dribbusch finden kann und die sich auf die Stellungnahme der Deutschen Rentenversicherung bezieht:

»Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) verglich in ihrer Stellungnahme zwei Fälle: Im ersten Fall A arbeitet ein Versicherter seit dem 18. Lebensjahr bei durchschnittlichem Verdienst. Nach 45 Jahren hat er 45 Entgeltpunkte zusammen und kann laut Rentenreform mit 63 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen. Seine Rente beträgt im Westen 1.287 Euro. Im zweiten Fall B arbeitet ein Versicherter nur 43 Jahre bis zum 63. Lebensjahr. Er verdient aber 10 Prozent mehr als A und zahlt entsprechend mehr ein. Im Alter von 63 Jahren hat er 47,3 Entgeltpunkte erworben. Bei einem Rentenbeginn mit 63 Jahren muss er jedoch Abschläge in Höhe von 8,7 Prozent in Kauf nehmen. Seine Monatsrente beläuft sich daher trotz höherer Beitragszahlung nur auf rund 1.236 Euro im Monat.«

Dieses Beispiel muss gesehen werden vor dem Hintergrund, dass die Rente mit 63 seitens der Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf damit gerechtfertigt wird, dass besonders die langjährig Versicherten einen Beitrag zur Stabilisierung der gesetzlichen Rentenversicherung erbracht hätten. „Zumindest gemessen an der Höhe der eingezahlten Beiträge haben aber Versicherte, die die Anspruchsvoraussetzungen für die abschlagsfreie Rente ab 63 nicht erfüllen, unter Umständen einen noch größeren Beitrag geleistet“, heißt es in dem Papier der Deutschen Rentenversicherung, auf das Dribbusch sich bezieht.

Auch Stefan Sauer greift in seinem Beitrag Rentenpläne im Feuer die Problematik auf: Er verweist auf die Stellungnahme der Deutschen Rentenversicherung, nach der die Rentenpläne das grundlegende Äquivalenzprinzip der gesetzlichen Rentenversicherung verletzen und somit von höchsten Gerichten gestoppt werden können. Aus dem bereits zitierten Beispiel mit den beiden Fallkonstellationen resultiert für die Rentenversicherung:

»Das Äquivalenzprinzip wäre durchbrochen. Wenn die Höhe der Einzahlungen nicht mehr die Höhe der Auszahlungen bedingt, kann dies unabsehbare Konsequenzen für die Rentenversicherung haben. Forderungen nach Sonderregelungen und Abweichungen zugunsten anderer Zielgruppen ließen sich nicht mehr grundsätzlich abweisen. Die Legitimationsbasis der gesetzlichen Rentenversicherung würde brüchiger denn je. Früher oder später würde das Versicherungsprinzip durch ein Fürsorgesystem abgelöst, das stark von politischen Opportunitäten geprägt wäre – wie dies bereits bei den aktuellen Rentenplänen erkennbar ist.«

Hier wird eine aus Sicht der Sozialversicherung bedenkliche Entwicklungslinie angesprochen, die in aller Deutlichkeit bereits von dem Rentenexperten Winfried Schmähl in seinem in der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“ im Jahr 2012 veröffentlichten Aufsatz Von der Rente als Zuschuss zum Lebensunterhalt zur „Zuschuss-Rente“ herausgestellt wurde. Nach einer Tour d’Horizon durch 120 Jahre Geschichte der Rentenversicherung kommt er für den aktuellen Rand der Entwicklung im Umkreis der geplanten Einführung einer „Zuschuss-Rente“ zu dem Befund, »dass als Folge der seit Jahren praktizierten Politik in der GRV immer stärker das Ziel der „Armutsvermeidung“ in den Vordergrund tritt, während durch die Niveaureduktion in der GRV das Ziel der Einkommensverstetigung im Lebensablauf immer weiter in den Hintergrund rückt.« Es wäre schon eine bemerkenswerte Folge der „Rentenreformen“, wenn sein Ausblick in die mögliche Zukunft so stattfinden sollte, wie er es andeutet: »Bei ihrer Gründung 1889 dominierte in der Gesetzlichen Rentenversicherung das Ziel, Armut bei Invalidität und im Alter zu lindern. Dies wurde erst 1957 mit der großen Rentenreform anders. Seitdem dienen Renten nicht mehr nur als Zuschuss zur Finanzierung des Lebensunterhalts, sondern als Lohnersatz. Seit der Jahrtausendwende haben verschiedene Reformen den Weg zurück zur Rente als Zuschuss vorgezeichnet.«

Abschließend sei hier aus der Stellungnahme des Einzelsachverständigen Felix Welti, seines Zeichens Sozialrechtler an der Universität Kassel, zitiert (S.71 der Ausschussdrucksache 18(11)82), legt er doch den Finger in einige offene Wunden – und seine grundsätzlich kritische Bewertung ist anschlussfähig an die Aussagen von Schmähl:

»Die Reformen der gesetzlichen Rentenversicherung seit 1997 haben dazu beigetragen, die politische Legitimation und rechtliche Legitimität der gesetzlichen Rentenversicherung zu gefährden. Die Senkung des Rentenniveaus bei allen Risiken hat dazu geführt, dass immer häufiger das Niveau der Grundsicherung nicht überschritten wird. Beim Risiko Erwerbsminderung ist das schon fast die Regel. Der Verzicht auf Mindestsicherungselemente innerhalb der Rentenversicherung und die Anhebung des Renteneintrittsalters sind zusätzlich als ein Verzicht auf sozialen Ausgleich wahrgenommen worden, letztere, weil sich bestimmte Personengruppen zur Hinnahme von Abschlägen genötigt sahen. Mindestens die subjektiv wahrgenommene Verlässlichkeit des Rentensystems ist durch die hohe Frequenz von Änderungen und deren politische Begründung herabgesetzt worden. Zunächst wurden die Chancen kapitalgedeckter Altersvorsorge überzeichnet. Als deren Risiken durch die Finanzkrise wieder stärker bewusst wurden, stärkte das zwar die politische Legitimität der Rentenversicherung. Die mit den überzogenen Renditeerwartungen für die Riester-Rente begründeten Niveauabsenkungen aller Rentenarten blieben jedoch erhalten. Zudem blieb es bei dem Problem, dass der Rentenwert für alle sank, die private Altersvorsorge jedoch gerade von geringer verdienenden Versicherten wenig genutzt wird.«