Die „Ausnahmeritis“ grassiert im großkoalitionären Berlin. Oder: Wie der Mindestlohn schrittweise in Richtung Schweizer Käse verhandelt wird

Wer kennt das nicht, die alljährlichen Grippewarnungen. Aus aktuellem Anlass muss an dieser Stelle eine – mehr als vorsorgliche – Warnung vor einer in Berlin um sich greifenden „Ausnahmeritis“ ausgesprochen werden. Es geht um einen offensichtlich grassierenden Handlungszwang, kurz vor Gesetzgebungsschluss dem Schweizer Käse-Modell nachzulaufen. Richtig, wir sprechen vom flächendeckenden und einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn, bei dem doch eigentlich vereinbart war, dass bis auf Langzeitarbeitslose, Jugendliche und bestimmte Praktikantenverhältnisse keine Ausnahmen gemacht werden sollen von der Anwendbarkeit der allgemeinen Lohnuntergrenze, in bestimmten Branchen zudem noch aufgeschoben bis Ende 2016, sofern es tarifvertraglich vereinbarte niedrigere Entgelte gibt. Die Betonung liegt auf eigentlich keine weitere Ausnahmen.

Nun wurde vor kurzem bekannt, dass die Große Mindestlohnkoalition in Berlin schwach geworden ist bei den Zeitungsausträgern. Den Verlegern soll – so die bisherigen Überlegungen – über eine hastig gezimmerte Brücke geholfen werden, indem sie kostenmäßig durch eine Absenkung der für ihre Minijobber zu zahlenden Sozialabgaben entlastet werden sollen. Das war schon irritierend.
Aber offensichtlich ist so ein Verhalten ansteckend, wenn man die aktuelle Berichterstattung verfolgt: Koalition beschließt Änderungen beim Mindestlohn, so beispielsweise die Online-Ausgabe des Handelsblatts. Und sollte sich das bestätigen, was dort berichtet wird, dann ist die „Ausnahmeritis“ akut und flächendeckend ausgebrochen in Berlin.

Spezielle Regelungen soll es nicht nur für Zeitungszusteller geben, sondern auch für Saisonarbeiter. Bei Praktikanten dürfen Arbeitgeber länger als ursprünglich geplant vom Mindestlohn abweichen.

Die mehr als merkwürdig daherkommenden Sonderregelung für die Zeitungsverleger ist in einem Blog-Beitrag bereits beschrieben worden: Nothilfe für die Zeitungsverleger: Noch eine Ausnahme beim flächendeckenden Mindestlohn (eigentlich) ohne Ausnahmen? Allerdings ist die Berichterstattung in den Medien hier widersprüchlich, denn ursprünglich war ja eine Entlastung der Verleger bei den zu zahlenden Sozialbeiträgen geplant.

»Indessen ist die ursprünglich in den Verhandlungen angestrebte Regelung, die Arbeitgeber von Zeitungszustellern bei den Sozialbeiträgen zu entlasten, offenbar gekippt. Stattdessen soll es befristete Abweichungen vom Mindestlohn geben: für 2015 um 25 Prozent und 2016 um 15 Prozent vom Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde«, so ein Artikel in der  Online-Ausgabe der WELT.

Sollte dieser Punkt zutreffen, dann muss man sich schon sehr wundern – denn mit welcher Begründung will man dann diesen Sub-Mindestlohn anderen Branchen, die sicher in der gleichen Kostenproblematik, wenn nicht noch tiefer, stecken? Wie ist es dann bei den Taxifahrern oder im Gaststättenbereich? Einen Hinweis findet man hier: »Juristen wie der frühere Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio hatten argumentiert, der Mindestlohn für Zeitungszusteller sei verfassungsrechtlich bedenklich, weil er die wirtschaftlichen Grundlagen der Presseverlage und damit letztlich die vom Grundgesetz geschützte Pressefreiheit tangiere.«

Was ist das für eine Argumentation? Die Existenz der Tageszeitungen hängt davon ab, dass die Verleger ihren Austrägern einen Lohn zahlen, der deutlich niedriger sein muss als 8,50 Euro in der Stunde? Wenn wir mal hypothetisch davon ausgehen, die wirtschaftliche Existenz würde davon abhängen, dann wäre ein systematische – und letztendlich dauerhafte – Subventionierung wie beim Gebührenmodell für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch irgendwie logischer als das, was hier jetzt vorgesehen ist. Denn die Absenkung des Mindestlohns soll ja – wenn denn die Berichterstattung stimmt – nicht auf Dauer erfolgen, sondern „nur“ für eine Übergangszeit. Was macht das dann aber angesichts der schweren Keule Gefährdung der Pressefreiheit für einen Sinn? Christian Bäumler von der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) wird mit diesen kritischen Worten zitiert: »Wenn der Gesetzentwurf Abweichungen vom gesetzlichen Mindestlohn nur bei Abschluss eines Tarifvertrages vorsieht, kann eine einzelne Branche von dieser Pflicht nicht ausgenommen werden … Es darf nicht sein dass die Zeitungsverleger dafür belohnt werden, dass sie sich weigern einen Tarifvertrag zu überdenken«. Das ist richtig – die Verleger haben sich bislang beharrlich geweigert, über einen Tarifvertrag zu verhandeln, mit dem man – wie andere Branchen auch – zeitlich befristet bis 2017 den Mindestlohn unterschreiten kann. Nunmehr sollen sie also ihr tarivertragsfeindliches Verhalten belohnt bekommen im Kontext eines „Tarifautonomiestärkungsgesetzes“ – die Welt wird immer eigenartiger.

Und wie will man den deutschen Spargel retten?

»Bei Saisonarbeitern aus dem Ausland gilt bisher die Regel, dass für sie keine Sozialbeiträge abgeführt werden müssen, wenn sie maximal 50 Tage im Jahr in Deutschland arbeiten und noch einen anderen Job in ihrer Heimat haben. Diese 50-Tages-Frist soll nach dem Koalitionskompromiss auf 70 Tage ausgedehnt werden. Außerdem sollen Arbeitgeber die Kosten für Kost und Logis der Saisonarbeiter mit dem Mindestlohn verrechnen dürfen.«

Kost- und Logis-Kosten anrechnen? Das öffnet der „kreativen Gestaltung“ seitens der Arbeitgeber Tür und Tor. Mehr muss man dazu nicht sagen.

Und die Praktikanten?

»Laut Gesetzentwurf waren bisher verpflichtende Praktika im Rahmen einer Schul-, Ausbildungs- oder Studienordnung komplett und freiwillige Orientierungspraktika sechs Wochen lang vom Mindestlohn ausgenommen. Diese Frist soll nun auf drei Monate verlängert werden.«

Nun kann man zum jetzigen Zeitpunkt noch sagen, vielleicht sind das auch nur voreilig gestreute Verhandlungspunkte, um die andere Seite unter Druck zu setzen. Die endgültige Fassung des Gesetzes soll ja „erst“ am 3. Juli im Bundestag verabschiedet werden. Aber an dieser eher hoffnungsvollen Position hinsichtlich möglicher Korrekturen kann man begründet zweifeln:
»Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) sagte am Freitag vor Familienunternehmern auf die Frage nach Ausnahmen für Praktikanten: „Wir lösen Ihr Problem.“ Konkrete Angaben machte er nicht. Er könne nicht in die Details zu dem gehen, was in der nächsten Woche verabschiedet werden solle«, so ein Bericht in der Online-Ausgabe der FAZ.

„Jetzt kommt der Mindestlohn doch als Schweizer Käse“. Mit diesen Worten wird die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, Brigitte Pothmer, zitiert.

Nothilfe für die Zeitungsverleger: Noch eine Ausnahme beim flächendeckenden Mindestlohn (eigentlich) ohne Ausnahmen?

Seit Monaten wird die Politik mit Forderungen nach Ausnahmen von dem zu erwartenden gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn bombardiert. Ursprünglich sollte der Mindestlohn ohne irgendeine Ausnahme seine Funktion als unterste Haltelinie im Lohngefüge entfalten können. Doch schon die Formulierung im Koalitionsvertrag, dass man mit den Branchen über die Umsetzung des Mindestlohnes sprechen und verhandeln wolle, öffnete die Tür für Ausnahmeregelungen. Bislang haben sich vor allem drei Bereiche herauskristallisiert, bei denen der Mindestlohn keine Anwendung finden wird: Zum einen gilt er nicht für die Jugendlichen bis 18 Jahre, auch alle Langzeitarbeitslosen sollen in den ersten sechs Monaten ihre Beschäftigung von der Anwendung des Mindestlohns ausgenommen werden können und bestimmte Praktika sind ebenfalls ausgegliedert worden. Hinzu kommt, dass es eine Übergangslösung dergestalt gibt, dass in Branchen, die tarifvertraglich niedrigere Löhne vereinbart haben als die vorgesehenen 8,50 € pro Stunde Mindestlohn, bis Ende 2016 auf die Anwendung des eigentlich höheren Mindestlohnsatzes verzichtet werden kann.
In den vergangenen Wochen sind zahlreiche Branche Sturm gelaufen gegen ihre Nicht-Berücksichtigung bei den Ausnahmeregelungen: beispielsweise die Taxi-Branche, die Landwirte für die bei ihm beschäftigten Saisonarbeiter oder der gesamte Bereich der Gastronomie. Bislang erfolglos. Aber eine Branche scheint durchgekommen zu sein: die Zeitungsverleger.

Nach Angaben des Bundesverbandes der Deutschen Zeitungsverleger (BDZV) gibt es etwa 160.000 Zeitungsausträger. Die Mehrzahl davon sind geringfügig Beschäftigte, also Minijobber. Und die Verleger haben Zeter und Mordio geschrieen und sie sind offensichtlich erhört worden in den heiligen Hallen des Bundesarbeitsministeriums. Zumindestens scheint man ihnen ein Kompensationsangebot zu machen, folgt man solchen Meldungen: Nahles will Verleger beim Mindestlohn entlasten. Danach soll es so aussehen, dass zwar der Mindestlohn grundsätzlich auch für die Zeitungsausträger Anwendung finden würde, gleichzeitig man aber die damit verbundenen höheren Kosten an einer anderen Stelle teilweise kompensieren will, indem den Arbeitgebern ein Teil der Sozialabgaben erlassen wird:

»Den Zeitungsverlegern würden für fünf Jahre befristet geringere Sozialabgaben für Minijobber unter den Zeitungsboten eingeräumt. Dadurch würden nach Nahles‘ Worten etwa 60 Prozent der Mindestlohn-Mehrkosten für die Zeitungsverleger ausgeglichen. Diese hatten argumentiert, durch die Umstellung auf einen Mindestlohn von 8,50 Euro in der Stunde entstünden ihnen Mehrkosten von 225 Millionen Euro … Die Regierungskoalition bietet den Zeitungsverlegern den Angaben nach an, dass sie für fünf Jahre für Minijobber nur die geringeren Sozialabgaben wie in Privathaushalten zahlen. Das macht einen Unterschied von rund 18 Prozentpunkten aus: Für Minijobs im privaten Bereich fallen inklusive der Pauschalbesteuerung für Arbeitgeber 12,5 Prozent des Lohns an Abgaben an. Im gewerblichen Bereich sind es 30 Prozent.«

Wenn es zu dieser Lösung kommt, die jetzt diskutiert werden muss von den Regierungsfraktionen, dann wäre die Zeitungsbranche die einzige, die eine spezielle Ausnahmeregelung zugestanden bekommt. Da drängt sich natürlich sofort die Frage auf, ob es nicht auch für andere Branchen dann weitere gute Gründe gibt, auf Ausnahmeregelungen zu pochen. Die Kritik seitens der Opposition lässt nicht lange auf sich warten:

»Die Grünen-Politikerin Brigitte Pothmer nannte es ein Unding, dass Nahles der Zeitungsbranche „eine Rabatt-Regelung bei den Minijobs“ anbiete: „Dieser Kuhhandel müsste sofort wieder vom Tisch, denn sonst würden auch andere Branchen mit vielen Minijobs wie zum Beispiel die Gastronomie eine solche Sonderregelung verlangen.“ Die Zeche zahlen müssten die Sozialversicherungen, denen Beitragseinnahmen entgingen.« (Quelle: Lockerung für Mindestlohn der Zeitungsträger).

Man könnte natürlich auch die Hypothese aufstellen, dass die Politik hier gegenüber einer ganz speziellen Branche deshalb nach einer Ausnahmeregelung sucht, weil sie die Meinungsmacht und die Einflussmöglichkeiten über das, was da ausgetragen wird, fürchtet. Wie dem auch sei, ein „Geschmäckle“ hat die ganze Sache schon. Darüber hinaus muss man sehen, dass auch die jetzt diskutierte „Lösung“ das betriebswirtschaftliche Grundproblem der Zeitungsbranche hinsichtlich Ihrer Zeitungsausträger nicht löst, denn das besteht in der Tatsache, dass bislang ein Stück Lohn gezahlt wird, denn nun auf einen Stundenlohn umgestellt werden muss. An diesem grundsätzlichen Wechsel wird auch bei dem Kompensationsangebot festgehalten. Man wird sehen, wie die Branche auf diesen Vorschlag seitens der Politik reagiert. Bislang haben sich die Verleger noch nicht zu Wort gemeldet, sie müssen sich noch sortieren.

Sollte die Lösung so kommen, wie über sie derzeit berichtet wird, dann kann man deren Charakter als ein „Notnagel“ auch daran erkennen, dass es keine wirklich systematische Lösung ist, um das noch nett auszudrücken. Denn wenn es eine Entlastung bei den Abgaben für die geringfügig Beschäftigten geben sollte, dann stellt sich natürlich die Frage, was dann mit Zeitungsausträgerin ist, die oberhalb der Schwelle des geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses liegen. Für die gäbe es dann ja gar keine Entlastung. Das wirkt doch alles mehr als unausgegoren und vermittelt den Eindruck, dass hier eine Baustelle notdürftig versorgt werden soll.

Das muss ja auch mal gesagt werden: Rettet den deutschen Spargel vor dem deutschen Mindestlohn! Und die Gurken gleich mit. Aber natürlich ist es in Wahrheit wieder einmal komplexer

Die vergangenen Wochen waren von einem permanenten Rauschen über angeblich dringend notwendige Ausnahmen von der vorgesehenen Mindestlohnregelung in den Medien beherrscht. Nachdem die Grundsatzentscheidung für die Einführung eines (mehr oder weniger) flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns seitens der Bundesregierung gefallen ist, versuchen die Gegner dieses Instruments mit zahlreichen Ausnahmeforderungen die Logik einer allgemeinen Lohnuntergrenze gleichsam von hinten herum wieder auszuhebeln. Die Forderungen, wer und wo es Ausnahmen von Mindestlohn geben soll – von studentischen Hilfskräften, Rentnern, Taxifahrern bis hin zu den Saisonarbeitern in der Landwirtschaft – haben derart überhandgenommen, dass selbst Mitglieder der Union so etwas wie einen halben Nervenzusammenbruch bekommen haben: „Es reicht mir langsam“, mit diesen Worten wird der CDU-Sozialexperte Karl-Josef Laumann zitiert.

»Wenn ich höre, was der Wirtschaftsrat alles an Ausnahmen haben will, kann ich nur sagen: Das  ist  abenteuerlich. Wenn man ganze Bevölkerungsgruppen aus dem Mindestlohn herausnehmen will, soll man doch gleich sagen, dass man überhaupt keinen will … Es ist genug geredet worden, wir müssen jetzt mal zu Potte kommen. Und es bleibt dabei: Wir brauchen einen  robusten Mindestlohn. Ohne Ausnahmen«, so Laumann in dem Interview.

Aber die Akteure lassen einfach nicht locker. Als oberster Verteidiger der deutschen Spargelproduktion hat sich nunmehr immerhin der stellvertretende CDU-Vorsitzende Thomas Strobl  aus Baden-Württemberg zu Wort gemeldet – mit einer klaren Ansage: „Ich möchte auch in Zukunft eine regionale Spargelproduktion haben„. Und die sieht er in ernsthafter Gefahr, wenn denn ein Mindestlohn auch für die Saisonarbeiter in der Landwirtschaft Anwendung finden soll. Für den Erhalt „regionaler, heimatnaher Produktion gesunder Nahrungsmittel“ brauche es Ausnahmen vom Mindestlohn, so Strobl. Und überhaupt – es gebe eigentlich gar keinen Bedarf für einen Mindestlohn in diesem Bereich. Strobl macht setzt sich fast schon rührend „für“ die osteuropäischen Erntehelfer ein:

»… wissen Sie, ob das Hungerlöhne sind, da mache ich auch ein Fragezeichen dahinter. Die Saison-Arbeitskräfte, die aus Osteuropa zu uns kommen, die leben ja nicht einen Monat von dem, was sie hier in wenigen Wochen verdienen, sondern die ernähren ihre Familie ein ganzes Jahr in ihrem Heimatland. Sie sind sehr froh, dass sie diese Arbeit bei uns machen können, und sie wären sehr unglücklich, wenn sie diesen Arbeitsplatz bei einem Landwirt, bei einem Bauern in Deutschland in der Zukunft nicht mehr hätten.«

Und dann bringt er das folgende Argument:

»… ich möchte schon, dass wir auch in Zukunft eine regionale Produktion von Erdbeeren, von Kopfsalat, von Gurken und von Spargel haben und wir das nicht alles aus dem Ausland importieren müssen. Das betrifft die Saison-Arbeitskräfte und da brauchen wir zumindest eine Übergangsregelung, weil ansonsten eine landwirtschaftliche Produktion dieser Sonderkulturen in Deutschland nicht mehr möglich ist.«

Der eine oder die andere wird an dieser Stelle fragen, sind nicht in bestimmten Branchen genau die von ihm geforderten Übergangsregelung immerhin bis Ende 2016 vorhanden bzw. möglich? Genau das ist das Problem. Denn die Landwirtschaft könnte schon längst eine solche Übergangsregelung haben, die immerhin eine mehrjährige Übergangsfrist eröffnen würde, wenn denn die Arbeitgeber bereit gewesen wären, mit der Gewerkschaft einen entsprechenden Tarifvertrag abzuschließen. Dazu schauen wir mal bei der IG Bauen-Agrar-Umwelt nach:
Anfang des Jahres 2013 konnte man diese Meldung von der Gewerkschaft vernehmen: „Landwirtschaft: Lohnplus von 6,5 Prozent / Sonderbehandlung für Saisonarbeiter abgeschafft„. Darin findet man dann den Hinweis, dass

»… es keine Tarifverträge Saisonarbeiter mehr geben wird … „Saisonarbeiter sind Arbeitskräfte wie alle anderen. Es gibt keinen Grund, für einen gesonderten Tarifvertrag“ … Künftig fallen Arbeiten, die ohne Berufsabschluss oder Anlernzeit ausgeübt werden, unter die allgemeinen Tarifverträge in der Landwirtschaft. Die Tarifvertragsparteien einigten sich auf eine stufenweise Anhebung der Lohnuntergrenze. Zum 1. Dezember 2017 steigen die Löhne nach und nach von derzeit 6,10 Euro (Ost) bzw. 6,70 (West) auf einen Stundenlohn von 8,50 Euro.«

Ja, da haben wir doch eine Übergangsregelung, einen stufenweisen Anpassungsprozess, der erst 2017 zu dem nunmehr als gesetzlicher Mindestlohn vereinbarten 8,50 € pro Stunde führen wird. Wo ist dann das Problem? Genau solche Übergangsregelungen sind doch im Mindestlohngesetz ausdrücklich vorgesehen?

Aufklärung verschafft uns eine weitere Pressemitteilung der Gewerkschaft, die vor wenigen Tagen unter der folgenden Überschrift veröffentlicht wurde: „Arbeitgeber der Landwirtschaft blockieren Tarifverhandlung. Keine Ausnahme vom Mindestlohn für Saisonarbeiter„. Dem kann man entnehmen, dass die IG BAU die Arbeitgeber der Landwirtschaft und des Gartenbaus auffordert, »endlich Verhandlungen über einen Mindestlohntarifvertrag für diese Branchen aufzunehmen. „Unsere Geduld ist langsam zu Ende. Bereits im März dieses Jahres haben wir den beiden Arbeitgeberverbänden angeboten, einen solchen Tarifvertrag abzuschließen“, sagte Harald Schaum, Stellvertretender IG BAU-Bundesvorsitzender und Verhandlungsführer für die grünen Branchen … Doch die Arbeitgeber blockieren die Tarifverhandlungen und spielen lieber auf Zeit.«
Die Verhandlungen sind notwendig, um die im neuen Mindestlohngesetz geplante zweijährige Übergangsfrist bis Ende 2016 zu nutzen und die Löhne für ungelernte Arbeitnehmer an den gesetzlichen Mindestlohn heranzuführen.

Doch der Gesamtverband der Deutschen land- und forstwirtschaftlichen Arbeitgeberverbände (GLFA) bewegt sich nicht, bzw. stellt sich tot, er will noch nicht einmal ein Verhandlungsdatum vereinbaren.

Es liegt nahe, dass die Arbeitgeberseite hier voll auf Risiko spielt bzw. auf das Prinzip Hoffnung setzt, zum Beispiel auf Politiker wie den Herrn Strobl aus Baden-Württemberg, der sich für sie in die Bresche wirft. Aber so wie man jede Spiel auch verlieren kann und Hoffnung oftmals bitter enttäuscht wird, so kann es auch in diesem Fall ausgehen. Der stellvertretende Gewerkschaftsvorsitzende bringt es auf den Punkt:

»Diese Hinhaltetaktik macht nur Sinn, wenn Saisonarbeiter vom gesetzlichen Mindestlohn ausgenommen werden. Sollten die Arbeitgeber darauf spekulieren, betreiben sie ein riskantes Spiel. Am Ende kommt diese Ausnahme nicht und sie stehen ohne Branchenlösung da. Dann gilt ab 2015 der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro auch für Erntehelfer.«

Bereits im April wurde in einem Blog-Beitrag auf dieser Seite darauf hingewiesen, dass die Realitäten in der Landwirtschaft durchaus schwierig sind, vor allem aufgrund des unabweisbar brutalen Preisdrucks, der auf den Produzenten lastet. Aber es wurde auch darauf hingewiesen, dass es bereits heute nicht wenige Landwirte gibt, die ihren Saisonarbeitern gerade aufgrund der existenziellen Abhängigkeit von der Ernte in einem kurzen Zeitraum des Jahres so ordentliche Entgelte zahlen, dass der Mindestlohn von 8,50 Euro kein Thema ist. Diese andere Seite illustriert der Deutschlandfunk-Beitrag „Gesetz zum Mindestlohn – 8,50 Euro für (fast) jeden“ von Tonia Koch am Beispiel des Gartenbaubetriebs von Erwin Faust in Saarlouis: »Ohne die rumänischen Mitarbeiter, die im Schnitt jeweils vier Monate vor Ort sind, könne der Betrieb einpacken, sagt Erwin Faust. Er brauche vor allem Kontinuität und Leute, die wissen, was zu tun sei auf dem Feld und in den Gewächshäusern … „und da machen wir auch Lohnkonzessionen, weil am Ende die Leistung auch herausspringt. Das Problem ist, wir müssen anstinken gegen die, die die Leute in den Container stecken und fürs halbe Geld arbeiten lassen. Was heißt das letztendlich? Die Supermärkte lachen sich kaputt, die Discounter lachen sich kaputt, weil sie billiges Zeug kaufen können.“ Der zum Teil ruinöse Wettbewerb über die Löhne sei der falsche Ansatz. Der Gemüsebauer hält daher eine Mindestlohnregelung für überfällig. „Wir zahlen auch über Mindestlohn unsere Leute. Der geringste Bruttolohn, den wir haben, liegt bei 9,20 Euro, der geringste, für Aushilfen. Da steh‘ ich voll dahinter, und das ist auch bei unseren Rumänen so.“«

Fazit: Soweit man das derzeit beurteilen kann, wären die Arbeitgeber gut beraten (gewesen), auf eine tarifvertragliche Übergangslösung mit der Gewerkschaft zu setzen, statt dem Prinzip Hoffnung zu folgen. Angesichts der breiten Kritik an den bereits im Gesetz vorgesehenen Ausnahmen ist es mehr als unwahrscheinlich, dass die Gruppe der Saisonarbeiter aus dem Mindestlohn-Anwendungsbereich herausgenommen wird, denn unabhängig von der Frage, ob das europarechtlich überhaupt zulässig ist, besteht dann natürlich die Gefahr, dass das als Präzedenzfall für andere Branchen gewertet und verwendet wird. Darauf wird sich die Bundesregierung bzw. der Teil von ihr, der die Umsetzung des Mindestlohngesetzes zu verantworten hat, mit Sicherheit nicht einlassen. Am Ende des Tages könnten die Arbeitgeber mit weitaus weniger dastehen, als möglich gewesen wäre.

Die klassische Taxibranche hat es nicht leicht in Zeiten von gesetzlichem Mindestlohn und rosinenpickender Konkurrenz aus der App-Economy

London, Paris, Berlin, Madrid – in ganz Europa blockierten Zehntausende Taxifahrer die Straßen aus Protest gegen die Taxi-App Uber. Sie fürchten um die Zukunft ihrer Branche, so Carsten Volker in seinem Artikel „Wir sind keine Dinosaurier„. »In Berlin nahmen Hunderte Taxifahrer an einer Sternfahrt teil, in Paris blockierten Tausende die Straßen zu den Flughäfen Orly und Charles de Gaulle. Beim größten Streik in London legten rund 10.000 Black Cabs das Regierungsviertel um den Trafalgar Square lahm.« Und das alles wegen einer App? Und was hat das alles mit dem Mindestlohn zu tun?

Die Proteste können den Eindruck verstärken, dass wir Zeuge werden eines massiven Angriffs auf das traditionelle Geschäftsmodell der Taxiunternehmen – manche Kritiker sprechen gerne vom Taxikartell – durch die zunehmende Konkurrenz durch Limousinenservices und nun auch noch durch eine App auf den Smartphones vieler (potenzieller) Kunden. Schon seit längerem ist die Taxibranche in Großstädten konfrontiert mit Vermittlern von Limousinenservices, die sich beispielsweise „Blacklane“ oder „My Driver“ nennen. Die Limousinendienste operieren überwiegend mit Festpreisen, was sie gerade für Firmen attraktiv macht. Interessant am Rande ist auch der Tatbestand, dass Daimler sich an dem Unternehmen Blacklane beteiligt hat, was zu erheblichen Spannungen zwischen dem bisherigen Hoflieferanten der Taxi-Unternehmen und den betroffenen Anbietern führt. Die neueste Zumutung ist  ist eine Smartphone-App, die den Namen „Uber“ trägt. Es handelt sich um ein Unternehmen aus San Francisco, das private Fahrer vermittelt. Unternehmen wie Uber kassieren für die Vermittlung 20 Prozent des Fahrpreises, die Kunden zahlen deutlich weniger als für eine reguläre Fahrt mit dem Taxi.

Nun muss man allerdings einschränkend – und zugleich problemverschärfend – anmerken, dass die neue Konkurrenz für das traditionelle Geschäftsmodell der Taxibranche keinen generellen Angriff auf diese darstellen kann, den sowohl die Limousinenservices wie auch Unternehmen wie Uber bieten ihre Dienstleistungen keineswegs flächendeckend an, sondern sie betreiben klassische „Rosinenpickerei“, da sie sich  fokussieren im wesentlichen auf die Großstädte. An ländlichen oder kleinen städtischen Regionen haben sie weitaus weniger bis gar kein Interesse. Aus dieser Konfiguration entsteht die erste Wettbewerbsverzerrung, die noch dadurch potenziert wird, dass sich die neuen Anbieter nicht an die zahlreichen Regulator Auflagen halten müssen bzw. sie meinen, dass diese nicht für sie gelten, darunter beispielsweise die Bindung der Taxiunternehmen an die Vorschriften des Personenbeförderungsgesetzes.

Unfaires Spiel mit den Taxifahrern, so hat Gernot Kramper seinen Kommentar zu den aktuellen Protesten überschrieben: »Es kann nicht sein, dass die traditionellen, alten Gewerbe mit tausend Vorschriften und Regeln geknebelt werden und ein neues Geschäftsmodell wie Uber, das letztlich die gleiche Dienstleistung anbietet, von diesen Spielregeln freigestellt wird.« Er plädiert für eine „Waffengleichheit“ zwischen den Kontrahenten, sieht aber auch, dass eine solche nur erreichbar wäre, wenn der Staat, insbesondere die hier relevanten Kommunen bislang existierende regulatorische Eingriffe zurücknehmen würde und wir alle als Kunden müssten uns bewusst sein, dass daraus das Ende verbindlicher Standards in diesem Bereich resultieren würde: »Einnahmen aus einer Taxilizenz würde es für die Kommunen nicht mehr geben … Eignungstest, Ortskenntnisse, Sprachfähigkeiten könnten die Gemeinden bei einer Freigabe auch kaum noch vorschreiben. Einheitliche Tarife gäbe es nicht mehr. Spezielle Versicherungen für die Insassen wären freiwillig. Das Motto: Der Markt wird es schon richten.« Die Hoffnung, dass es der Markt schon richten wird, haben offensichtlich auch andere, so beispielsweise Sidney Gennies in seinem Kommentar Das Taxigewerbe gerät unter Druck – zu Recht.

Zurück zu der Frage, was das nun alles mit dem Thema Mindestlohn zu tun haben könnte. Dazu der Artikel Zwischen Mindestlohn und Netz-Konkurrenz, in dem nicht nur auf die neue Konkurrenz hingewiesen, sondern auch der gleichzeitig ablaufende Prozess einer Auseinandersetzung mit dem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde angesprochen wird:

Momentan verdienen Taxifahrer nach BZP-Angaben im Schnitt etwa 6,00 Euro bis 6,50 Euro die Stunde, bei angestellten Fahrern geschieht das meist über Umsatzbeteiligungen. „Das dürfte regional sehr schwanken“, erklärt Jan Jurczyk von der Gewerkschaft Verdi. Gehört hätten sie schon von Fällen, wo drei Euro in Mecklenburg-Vorpommern und acht Euro in Baden-Württemberg verdient worden seien. „Deswegen ist der Mindestlohn da so wichtig“, sagt Jurczyk. Für viele Taxifahrer würde er mehr Geld in der Tasche bedeuten.

Nach Einschätzung von Professor Stefan Sell könnte ein Mindestlohn aber auch noch mehr Konkurrenz ins Geschäft bringen. Weil er nicht für Selbstständige gelten würde, könnten mehr Fahrer in die Selbst- oder Scheinselbstständigkeit abtauchen, vermutet der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler von der Hochschule Koblenz. Sie würden finanziell nicht von der neuen Regel profitieren, aber den Taxifirmen Konkurrenz machen, die ihren Angestellten wie vorgeschrieben mehr pro Stunde zahlen müssten. „Das ist ein echtes Dilemma.“
Um das einordnen zu können, muss man einige Basisinformationen in Erinnerung rufen: Die 200.000 Taxifahrer Deutschlands gehören zu den am schlechtesten bezahlten Beschäftigten der Nation. Nun geht es aber eben gerade nicht „die“ Taxifahrer, sondern wir sind mit einer erheblichen Heterogenität der Beschäftigungsverhältnisse in der Taxibranche konfrontiert. Das reicht von den Angestellten Taxifahrern, die tatsächlich auf Vollzeitbasis diesen Beruf ausüben und davon leben müssen/sollen, über die Selbstständigen, die mit ihrem Taxi einem Gewerbe nachgehen bis hin zu nur punktuell bzw. temporär beschäftigten, die sich beispielsweise auf 450 €-Basis oder anderen Teilzeitverhältnissen ein Zubrot verdienen. Genau in dieser erheblichen Heterogenität der Beschäftigung innerhalb der Branche liegt nun ein zentrales Problem für die Umsetzung des zum 1. Januar 2015 geplanten Mindestlohns. Man kann sich das mit Blick auf die Stadt Frankfurt verdeutlichen, mit welchen Herausforderungen man konfrontiert sein wird: »In Frankfurt kommen auf 1.700 Taxis 1.100 Unternehmer. Das heißt: Ganz oft sitzt der Chef selbst hinterm Steuer. Für Unternehmer aber gilt der Mindestlohn nicht …  Doch auch … Angestellte finden sich in der Branche natürlich in großer Zahl. Neben zahlreichen Ein-Mann-Betrieben sind in Frankfurt auch Taxiunternehmen mit 30 und mehr Fahrzeugen am Markt. Alles in allem verdienen in der Stadt an die 4.500 Fahrer ihr Geld«, so Manfred Köhler in einem Artikel.

Auf der Seite der Beschäftigten gibt es trotz der schlechten Arbeitsbedingungen ein großes Arbeitsangebot, durch das ein erheblicher Lohndruck nach unten ausgeübt wird, beispielsweise durch Zuwanderer, die bereit sind, auch zu den untersten Bedingungen zu arbeiten, um überhaupt Fuß fassen zu können.

Wenn man jetzt – wie vorgesehen – zum 1. Januar 2015 einen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 € pro Stunde einführt, der dann auch für die angestellten Taxifahrer gelten wird bzw. soll, dann muss man sich darüber im klaren sein, dass das nicht einfach zu realisieren sein wird, um das noch positiv auszudrücken. Dies hängt zusammen mit den Besonderheiten der Branche, über die wir hier sprechen. Denn der Mindestlohn wird nur gelten für die angestellten Taxifahrer, währenddessen die zumeist Solo-Selbstständigen nicht unter den Geltungsbereich des Mindestlohnes fallen.
Um einmal konkret zu illustrieren, was das best: die bisherige Vergütung der Taxifahrer sieht im wesentlichen so aus, dass sie am Umsatz beteiligt sind, in der Größenordnung von 35 % bis 45 % der Tageseinnahmen. Wir haben es hier also mit einer Art Stücklohn zu tun. Nun gibt es Zeiten mit erfreulichen Umsätzen, in denen man das erwirtschaftet, was in den Randzeiten, wo weniger Betrieb ist, gleichsam als Zuschuss zur Wartezeit, die keine Einnahmen bringt, gebraucht wird. Angesichts des bestehenden sehr niedrigen Vergütungsniveaus ist es auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbar, dass der Verband der Taxiunternehmen fordert, dass die Preise für die Beförderungsleistung im Schnitt um mindestens 20 % angehoben werden müssen.

Unabhängig von der Tatsache, dass wir derzeit über 800 Tarifordnungen für Taxis in Deutschland haben und dass eine Änderung nicht in Monaten, sondern eher in Jahren vorstellbar sein wird, wäre die entscheidende Frage, zu welchen möglicherweise völlig ungeplanten Folgen  das führen wird, wenn die Mindestlohnregelung ab Januar des kommenden Jahres in der Taxibranche greifen muss. Das bereits heute vorhandenen, teilweise extreme Kostengefälle zwischen den einzelnen Taxiunternehmen wird sich erheblich erweitern. Denn der „normale“ Taxiunternehmer, der mehrere  angestellte Fahrer hat, muss diese nach dem Mindestlohn mindestens vergüten, während beispielsweise der Selbstständige mit Migrationshintergrund auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen kann, um sein Taxi zu betreiben. Es ist durchaus nicht unplausibel, dass wir als eine Folge der Mindestlohn-Einführung in der Taxibranche eine weitere Expansion des Modells der (Schein-) Selbstständigkeit erleben werden müssen.

Aber damit nicht genug. Stellen wir uns ein Taxiunternehmen in einer eher ländlich strukturierten Region vor und den Problemen solcher Unternehmen, bestimmte Dienstzeiten abdecken zu müssen, beispielsweise die Nachtzeiten. An diesem Beispiel kann man zeigen, dass der Mindestlohn als Stundenlohn definiert zu erheblichen Veränderungen auf der Angebotsseite führen wird. Denn in den ländlichen bzw. kleinen städtischen Regionen gibt es in der Nachtzeiten vielleicht ein oder zwei Nachfrager. Die aber zu dem Preis bedient werden müssen, der auch für die normalen Inanspruchnahmezeiten tarifiert worden ist. Und so teuer könnte man gar nicht die Taxifahrt machen, um die Stundensätze für einen normalen Taxifahrer in den Anzeigen bzw. in der Nacht gegenfinanzieren zu können. Das wird jetzt zwei Konsequenzen haben (müssen): Entweder werden die Taxiunternehmen ihre Dienstleistung in den Nachtstunden wenn nicht erheblich einschränken, dann vielleicht sogar grundsätzlich einstellen müssen. Dieses Phänomen kann man beispielsweise in anderen Mindestlohn-Ländern, die bereits seit vielen Jahren Erfahrungen haben sammeln können, beobachten. So gibt es beispielsweise in den Niederlanden in vielen Regionen nachts kein Taxi-Angebot mehr. Weil das schlichtweg nicht finanzierbar ist. Oder aber man greift zur Aufrechterhaltung des Angebots in diesen ungünstigen Zeiten auf „Selbstständige“ zurück, die ja bekanntlich nicht unter die Mindestlohnregelung fallen.

Aber auch wenn man den Forderungen des Taxi-Verbandes nachkommen würde, die eine Anhebung der Tarife um mindestens 20 % fordern, um den Mindestlohn umsetzen zu können, heißt das noch lange nicht, dass sich die Vergütungsbedingungen der Angestellten Taxi-Fahrer signifikant verbessern werden – dann nämlich nicht, wenn die Tariferhöhung für alle Taxi-Unternehmer gilt, damit also auch für diejenigen, die bereits seit Jahren Billigst-Arbeitskräfte beschäftigen oder die beispielsweise als Selbstständige agieren, denn die bekommen natürlich auch die angehobene Vergütung, ohne dass sie sich in dem gleichen Kostenkorsett befinden wie der Taxi-Unternehmer, der eine ganze Reihe an angestellten Mitarbeitern zu finanzieren hat. Damit wird die erhebliche Asymmetrie innerhalb der Branche weiter zugespitzt zugunsten der Billig-Anbieter.

Auf der einen Seite wird man die erhebliche Kostensteigerung, die mit der Einführung eines Mindestlohns in Höhe von 8,50 € pro Stunde bei derzeit im Durchschnitt über alle gezahlten 6,85 € pro Stunde (mit einer erheblichen Varianz, die von 3 bis 4 € in ostdeutschen Bundesländern bis hin zu über 8 € in Baden-Württemberg reicht), nicht ohne eine entsprechend deutliche Erhöhung der Tarife, also der vom Staat gesetzten Preise für die Beförderungsdienstleistung, stemmen können, wenn überhaupt. Gleichzeitig aber kommen die höheren Preise auch den Anbietern von Taxi-Dienstleistungen zugute, die das als Selbstständige machen und insofern nicht an die Mindestlohn-Vorgaben gebunden sind.

Hier ist ein offensichtliches Dilemma angesprochen, für das bislang keine mir bekannte wirklich plausible Lösung vorgelegt worden ist.

Gott schütze die Praktikanten! Und die Rentner, die Zeitungsausträger und die studentischen Hilfskräfte. Ach, der Mindestlohn

„Die Frage, ob der Heilige Geist den Mindestlohn eingeführt hat, ist unter den Theologen nicht restlos geklärt“. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) am 05.06.2014 anlässlich der ersten Lesung des Mindeslohngesetzes im Deutschen Bundestag

Die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat in ihrer Rede vor dem Bundestag am 5. Juni 2014 unmissverständlich ausgeführt: »Der Mindestlohn kommt zum 1. Januar 2015. Das haben wir versprochen, und das wird gehalten. Ab dem 1. Januar 2017 gilt für alle Branchen ohne Ausnahme in Ost und West gleichermaßen ein Mindestlohn von 8,50 Euro.« Endlich ist also dieses Thema vom Eis, sollte man meinen. Wie immer in der Sozialpolitik lohnt ein genauerer Blick auf die Sache und natürlich haben die zahlreichen Gegner der Einführung eines gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohns keineswegs aufgegeben in ihrem Versuch, den Mindestlohn noch im laufenden Gesetzgebungsverfahren (weiter) aufzubohren. Wieso „weiter“ aufbohren? Weil die Formulierung der Ministerin etwas euphemistisch daherkommt, denn den Mindestlohn von 8,50 Euro wird es nicht geben für bestimmte Praktikanten, für alle Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr und für alle bislang Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten ihrer Beschäftigung (und für bestimmte Branchen erst ab 2017). Aber die Gegner des Mindestlohnes lassen nicht locker. Erneut werden weitere Ausnahmen gefordert. An die Spitze der Bewegung hat sich nun der ehemalige Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU), mittlerweile Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses im Bundestag, gestellt, der entsprechende Ausnahmen fordert für Praktikanten, Rentner, Zeitungsausträger und studentische Hilfskräfte.

Bleiben wir in einem ersten Schritt bei den bereits im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Ausnahmen vom angeblich „flächendeckenden“ Mindestlohn.

Da ist die Herausnahme der Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr. Bereits dieser Punkt wird heftig kritisiert, allerdings nicht nur von denjenigen, die keinerlei Ausnahmen zulassen möchten, sondern durchaus auch von Anhängern des Mindestlohns, die mit Blick auf andere Länder, vor allem auf die mit einem hohen Mindestlohn, argumentieren, dass es dort Ausnahmeregelungen für junge Menschen gibt, die teilweise bis über das 21. Lebensjahr hinausreichen. Grundsätzlich geht es hier um das mögliche Problem, dass die Aufnahme einer bezahlten Erwerbstätigkeit attraktiver daherkommt als die einer Ausbildung, denn für die Zeit der Berufsausbildung gelten die Mindestlohnbestimmungen nicht. Die fachwissenschaftliche Diskussionslage hierzu ist uneinheitlich, vgl. beispielsweise die Hinweise in dem Artikel Jobben statt Ausbildung? Am deutlichsten gegen eine Herausnahme der Jugendlichen aus der Anwendung des Mindestlohns hat sich das Wirtschaft- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung  ausgesprochen. Vgl. hierzu die Publikation Jugend ohne Mindestlohn? von Marc Amlinger, Reinhard Bispinck,und Thorsten Schulten, die im März 2014 veröffentlicht wurde. Darin findet man wichtige kritische Aspekte angesprochen:

»Die Ausnahme von Minderjährigen wird mit Hinweis auf die Diskrepanz zwischen Ausbildungsvergütung und unmittelbar erzielbarem Erwerbseinkommen gerechtfertigt, die für Jugendliche negative Anreize bedeuten könnten. Dieses Spannungsverhältnis besteht jedoch bereits heute in vielen Branchen – die Einführung eines Mindestlohns wird diese Situation nicht grundlegend verändern. Vielmehr wären von der Ausnahme Jugendlicher … fast ausschließlich junge Minijobber betroffen, die einen geringen Zuverdienst erwerben. Etwa drei Viertel dieser Altersgruppe geht weiterhin einer Ausbildung nach. Weitere Ausnahmeregelungen könnten in den typischen Tätigkeitsfeldern von Jugendlichen hingegen zu unerwünschten Verdrängungseffekten führen, durch die ältere Beschäftigte durch jüngere ersetzt werden« (Amlinger et al. 2014: 1).

Tatsächlich wird aus Ländern, in denen es altersabhängig nach unten abgestufte Mindestlöhne gibt, von typischen Verzerrungseffekten berichtet, denn Unternehmen erhalten einen Anreiz, gezielt ältere durch jüngere Arbeitnehmer zu ersetzen. »In den Niederlanden sind beispielsweise mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in Supermärkten jünger als 23 Jahre und liegen damit unter der Altersschwelle, ab der der volle Mindestlohn gezahlt werden muss. Mit dem Erreichen dieser Altersgrenze verlieren jedoch viele der von vornherein nur befristet beschäftigten Jugendlichen ihren Job, da mit dem Übergang zum Erwachsenenmindestlohn eine erhebliche Lohnsteigerung einhergeht«, so Thorsten Schulten, einer der Verfasser der WSI-Studie, in einem Artikel in der taz.
Auf der anderen Seite sollte man zur Kenntnis nehmen, dass zahlreiche Praktiker aus der Jugendsozialarbeit durchaus die Gefahr sehen bzw. tagtäglich erleben, dass bestimmte junge Menschen eine lohnbedingte Präferenz für die Aufnahme irgendeiner Erwerbsarbeit auf der Ebene der Tätigkeiten von Ungelernten gegenüber einer Berufsausbildung haben. Und aus einer grundsätzlichen Perspektive ist es zumindestens diskussionsbedürftig, warum jemand ohne eine Berufsausbildung teilweise deutlich mehr Geld verdienen kann, als jemand, der eine Berufsausbildung macht, was ja bedeutet, dass neben der bereits anteiligen praktischen Arbeit auch noch im Regelfall eine Menge gelernt werden muss.

Interessanterweise ist bei der Diskussion über mögliche Ausnahmen von Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen bislang nie eine Lösung diskutiert worden, die so aussehen könnte, dass junge Menschen beispielsweise bis zum 21. Lebensjahr dann nur ein abgesenkter Mindestlohn zugestanden wird, wenn sie über keine anerkannte Berufsausbildung verfügen. Damit könnte man durchaus ein zumindest „pädagogisches“ Signal senden.

Auf große Kritik und teilweise heftige Irritationen im Lager der Mindestlohnbefürworter ist die nach den Verhandlungen zwischen SPD und Union in den Gesetzentwurf der großen Koalition aufgenommene Ausnahmeregelung für die ersten sechs Monate eine Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen, die in dieser Zeit dann nicht unter den Mindestlohn fallen. Davon ist nicht nur eine kleine Gruppe betroffen und darüber hinaus gibt es mehr als massive Zweifel an der Sinnhaftigkeit der vorgesehenen Ausnahmeregelung. Man muss diesen Punkt wahrscheinlich so sehen, wie er zustande gekommen ist: Vor dem Hintergrund der massive Widerstände in den Reihen der Union und dem enormen Druck seitens der Wirtschaftsverbände hat die sozialdemokratische Bundesarbeitsministerin hier gleichsam ein „Bauernopfer“ geliefert bzw. liefern müssen, was allerdings zugleich auch viel sagt über die Wahrnehmung „der“ Langzeitarbeitslosen.
Die offizielle Begründung für die Herausnahme der Langzeitarbeitslosen in den ersten sechs Monaten ihrer Beschäftigung aus der Mindestlohnregelung stellt ab auf eine dadurch erreichbare Erhöhung bzw. überhaupt erst Ermöglichung der Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt. Offensichtlich geht es hier um die den Langzeitarbeitslosen zugeschriebene bzw. unterstellte geminderten Leistungsfähigkeit. An dieser Stelle darf und muss man allerdings fragen, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, eine alternative Lösung über den Weg der Lohnkostenbezuschussung zu gehen. Denn wenn es „nur“ die eingeschränkte Produktivität der Langzeitarbeitslosen wäre, die auf Seiten der Arbeitgeber ein Einstellungshindernis darstellen, dann könnte man an dieser Stelle ordnungspolitisch durchaus unproblematisch mit (zeitlich begrenzten) individuellen Lohnkostenzuschüssen arbeiten.

Neben der durchaus nicht unplausiblen Gefahr, dass einige schwarze Schafe unter den Arbeitgebern die neue Ausnahmeregelung als Teil ihres Geschäftsmodells im Sinne von Lohndumping missbrauchen können, muss man zwei zentrale Kritikpunkte besonders herausstellen:

  1. Wie auch die Jugendlichen werden die Langzeitarbeitslosen vollständig aus dem Geltungsbereich des angeblich flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes herausgenommen. Anders formuliert: Sie werden in den Lohnbereich unter den vorgesehenen 8,50 € „entlassen“, ohne dass irgendeine Haltelinie nach unten definiert wird. Wenn man denn schon eine Differenzierung vornehmen will bzw. möchte, dann hätte man sich die Verwendung von abgesenkten Mindestlohnschwellen vorstellen können – so wie in allen anderen Mindestlohnländern, die nicht nur einen Mindestlohn haben. Die arbeiten alle mit prozentual abgesenkten besonderen Mindestlöhnen, beispielsweise für Jugendliche. So aber gibt es nun bei uns überhaupt keine Grenze nach unten für diese Personengruppen. Auf die Spitze getrieben wird das Ganze dadurch, dass die derzeit vorgesehene Regelung die Langzeitarbeitslosen betreffend quasi zu einer „Doppelförderung“ der aus tarifvertragliche Sicht „schlechten“ Arbeitgeber führen kann: Zum einen werden sie gefördert über den Tatbestand, dass in den ersten sechs Monaten eine Beschäftigung keine Lohnuntergrenze besteht und zum anderen ist es jedenfalls nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht ausgeschlossen, dass sie dann auch noch für die Einstellung des Langzeitarbeitslosen einen Lohnkostenzuschuss seitens der Arbeitsagentur bzw. des Jobcenters bekommen können.
  2. Besonders problematisch ist die Tatsache, dass „ironischerweise“ von der Ausnahmeregelung bei den Langzeitarbeitslosen gerade die Unternehmen profitieren (können), die nicht tarifgebunden sind, denn die tarifgebundenen Unternehmen haben gar nicht die Möglichkeit, von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch zu machen, es sei denn, auf der tarifvertraglichen Ebene wird ihnen das eröffnet, was allerdings höchst unwahrscheinlich ist. Das hat schon was – ein Gesetz, dass die sozialdemokratische Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles mit dem programmatisch daherkommenden Titel „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ versehen hat, führt im Ergebnis dazu, dass gerade die tarifungebundenen Unternehmen sich erneut bestätigt fühlen müssen hinsichtlich ihrer Entscheidung, auf eine Tarifbindung zu verzichten oder aus dieser zu fliehen, denn das macht sich hier jetzt als Vorteil gegenüber den tarifgebundenen Unternehmen bemerkbar.

Fazit: Bereits die im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Ausnahmeregelungen sind nicht unproblematisch, um das einmal nett auszudrücken. Aber die Gegner einer flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnregelung lassen nicht locker und fordern gleichsam im Dauerfeuer auf die Bundesarbeitsministerin weitere Ausnahmen von dem Mindestlohn ab 2015/2017.

Immer wieder werden dabei die „Praktikanten“ genannt. Da wird in einem Artikel in der FAZ gar von einem Angriff auf die Generation Praktikum gesprochen und auch die WirtschaftsWoche macht sich große Sorgen: Arbeitgeber fürchten Wegfall von Praktikumsplätzen. Konkret geht es um den § 22 im Gesetzentwurf von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Darin steht, dass der Mindestlohn von 8,50 Euro je Stunde auch für Praktikanten gelten soll, wenn das Praktikum länger als sechs Wochen dauert und es freiwillig gemacht wird.  Ebenfalls nicht erfasst vom Mindestlohn – und für die nun einsetzende Debatte um mögliche Umgehungsstrategien besonders relevant (vgl. hierzu z.B. den Beitrag So umgehen Firmen Mindestlohn bei Praktikanten) – sind Praktikanten, die ein Praktikum verpflichtend im Rahmen einer Schul-, Ausbildungs- oder Studienordnung leisten.

Löhr, Peitsmeier und Ritter zitieren in ihrem Artikel z.B. Florian Haller, Chef der Münchner Agentur Serviceplan, der größten inhabergeführten Werbeagentur in Deutschland: » Derzeit bekommen die Praktikanten 600 Euro im Monat, die meisten bleiben drei bis sechs Monate. Für Haller steht fest: Wenn der Gesetzentwurf mit der besagten Praktikanten-Regel durchgeht, wird es bei Serviceplan keine Praktika mehr geben. „Das Praktikum ist tot“, sagt Haller. „Die Politik macht gerade eine tolle Institution kaputt.“«

»Nun ist das mit der „tollen Institution“ so eine Sache«, stellen die Verfassers des Artikels selbst in den Raum. Gerade in der so genannten „Kreativbranche“ basieren ganze Geschäftsmodelle letztendlich auf der Nutzung teilweise oder vollständig unentgeltlicher Arbeitskraft von jungen Menschen, die sich über diesen Einsatz einen Einstieg in ein hart umkämpftes Beschäftigungsfeld erhoffen:
»Berichte über Unternehmen, die Lücken in der Belegschaft mit Jahrespraktikanten füllen, die vollen Arbeitseinsatz für geringe Gehälter erwarten, mit der vagen Aussicht auf eine feste Stelle, haben erst den Begriff der „Generation Praktikum“ geprägt, und dann die Politik auf den Plan gerufen.«  Ganz offensichtlich geht es hier um erhebliche Größenordnungen: 600.000 Praktikanten sind gegenwärtig an einem durchschnittlichen Werktag in der deutschen Wirtschaft im Einsatz.

Vor diesem Hintergrund kommt es prima facie erst einmal sympathisch und durchgreifend rüber, wenn die Bundesarbeitsministerin Nahles mit diesen Worten zitiert wird:  „Ich werde das Modell der „Generation Praktikum“ beenden“. Zur Begrifflichkeit vgl. auch den ZEIT-Artikel „Generation Praktikum“ von Matthias Stolz aus dem Jahr 2005. Nun gibt es wie so oft im Leben einen Unterschied zwischen dem, was man will und dem, was man bekommt. So kann es auch in diesem Fall ausgehen.

Die Position sicher vieler Arbeitgeber, bei denen Praktikanten weniger als billige Arbeitskräfte zum Einsatz gebracht werden, illustriert dieses Zitat: „Praktikanten machen uns Arbeit und stören den normalen Ablauf. Und dafür sollen wir ihnen nun auch noch den Mindestlohn bezahlen? Das ist doch Unfug“, erregt sich Martin Kannegießer, der Inhaber der Maschinenbaufirma Herbert Kannegießer GmbH im ostwestfälischen Vlotho und lange Jahre Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall.

An dieser Stelle wird ein grundsätzliches Problem erkennbar: Wenn die Praktikanten tatsächlich überwiegend, teilweise ausschließlich zur Wertschöpfung in dem Unternehmen eingesetzt werden, was durchaus der Fall sein kann/wird, wenn es sich um ausgebildete Fachkräfte nach einem Studium handelt, die beispielsweise kostenlos in einer Marketing-Agentur arbeiten und sich dort voll einbringen, dann bedeutet die Nicht-Einbeziehung in die Mindestlohnregelung tatsächlich, dass hier ein eigener, für die Unternehmen höchst attraktiver Niedrig- bzw. Gar-kein-Lohnsektor geschaffen wird. Dadurch können sich diese Unternehmen erhebliche Kostenvorteile gegenüber ihren Konkurrenten verschaffen. Auf der anderen Seite muss man aber auch sehen, dass eine „richtige“ Beschäftigung von Praktikanten bedeutet, dass man tatsächlich von der betrieblichen Seite her gesehen einen erheblichen Aufwand hat, da den Praktikanten ja etwas beigebracht werden soll und dadurch die Arbeit von Normalbeschäftigten gebunden wird.

Letztendlich geht es hier um ein nicht auflösbares Dilemma zwischen „zu lange“ und „zu kurz“: So argumentieren Vertreter aus der Politik, dass die Unternehmen ja die Dauer ihrer Praktika reduzieren könnten, statt der jetzt üblichen drei bis sechs Monate das Reinschnuppern auf sechs Wochen begrenzen. Ausgeschlossen, so die Replik aus der Wirtschaft, zu groß wäre der Aufwand der Einarbeitung, zu gering die Einblicke der Praktikanten in den Unternehmensalltag.

Zweifellos wird es erhebliche Kollateralschäden geben – wenn man vom bestehenden System ausgeht und dieses fortführen möchte. Zu erwarten ist, dass viele „freiwillige Orientierungspraktika“ von Unternehmen so gut wie nicht mehr angeboten werden, weil sie zu teuer sind und viele Firmen werden ihr Angebot eindampfen müssen.

Theoretisch könnte man dann eine halbwegs ausbalancierte Lösung finden, wenn es gelingt, die Laufzeit von Praktikanten-Verträgen an der Unterscheidungslinie Noch-nicht-ausgebildet und Bereits-fertig-ausgebildet zu ziehen (vgl. hierzu auch den Argumentationsansatz in dem Artikel Wider die Praktikanten-Ausbeutung von Nadia Pantel). Das mag für viele Fallkonstellationen genügen, um den Bereich der Ausbeutung von Praktikanten zu regulieren, denn die wird vor allem bei denjenigen stattfinden, die schon über eine entsprechende und damit nutzbare Qualifikation verfügen. Auf der anderen Seite muss man sich dann aber auch darüber bewusst sein, dass es in ganz bestimmten Branchen, die bislang auf diesem Rekrutierungsweg marschiert sind, erhebliche Verwerfungen geben wird. Dies wird vor allem die so genannte „Kreativwirtschaft“ treffen, wo bereits heute die Beschäftigungsverhältnisse durch eine außerordentliche Prekarität charakterisiert sind.

Auch und gerade die Medien werden mit dem Thema konfrontiert. Simone Schmollack hat das in ihrem Artikel mit dem treffenden Titel Generation Kurzzeitpflege am Beispiel der taz angesprochen: »In der Hauptredaktion in Berlin arbeiten jeden Monat bis zu 15 Praktikanten in allen Ressorts. Sie sind durchschnittlich acht Wochen im Haus und erhalten eine Aufwandsentschädigung von 200 Euro monatlich.« Diese Modelle werden dann nicht mehr funktionieren, was vielleicht auch die offene Aggressivität erklärt, mit der Martin Reeh seinen Kommentar in der taz dazu überschrieben hat: Bornierte Sozialdemokraten: »Dabei ist es richtig, dass sich die Bundesregierung des Praktikantenunwesens annimmt. Aber die Regelung, nach der Praktikanten, die sich noch in einer Ausbildung befinden, keinen Mindestlohn erhalten müssen, alle anderen aber schon, ist falsch. Sie wird alle, die nach ihrem Studium nicht sofort einen Arbeitsplatz finden, ebenso aufs Jobcenter befördern wie Studienabbrecher und Menschen, die einen beruflichen Neuanfang wagen.«

Nun können die Befürworter einer rigiden Ausgestaltung der Praktikanten-Problematik immer noch an dieser Stelle argumentieren, dass das sicherlich einige Geschäftsmodelle zerstören wird, aber das sei nun mal der Preis dafür, dass man eine möglichst mit wenigen Ausnahmen versehene Regelung bekommt. Und die Unternehmen werden sich schon an die neuen Rahmenbedingungen anpassen. An dieser Stelle muss dann allerdings auch auf die Bereiche hingewiesen werden, die beispielsweise im kulturellen oder sozialen Beschäftigungsfeld angesiedelt sind und die kaum oder gar keine Erlöse auf dem „Markt“ erwirtschaften (können) und damit letztendlich auf öffentliche Förderung angewiesen sind, die bekanntlich oftmals mehr als prekär ist. In diesen Bereichen gibt es überhaupt gar keine Möglichkeit, auch wenn man möchte, Praktikanten auch nur annähernd adäquat zu entlohnen, vor allem diejenigen nicht, die nach einem Studium über einen Praktikum in der Einrichtung versuchen, einen Fuß in die Tür zu bekommen. Man kann das verständlicherweise kritisieren und als ein parasitäres Modell verwerfen, denn es basiert darauf, dass die Betroffenen das Einkommensrisiko privatisieren und sich über andere Quellen finanzieren. Aber man kann es drehen und wenden wie man will, die bislang vorgesehene Regelung bei der Praktikanten wird zu erheblichen Rückgängen an Praktikumsmöglichkeiten in diesen Sektoren führen müssen.

Es sei an dieser Stelle nur kursorisch darauf hingewiesen, dass die derzeitige Debatte über Notwendigkeit und Missbrauch von Praktikanten gerade in der so genannten „Kreativwirtschaft“ wahrlich kein ausschließlich deutsches Problem darstellt. In der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 3. Juni 2014 berichtete Jürgen Schmieder unter der prägnanten Überschrift „Albtraumfabrik“: »Für Praktika in Hollywood gibt es selten Geld – dafür locken unbezahlbare Kontakte. Doch die Produktionsfirmen nutzen die Freiwilligen oft nur aus. Seit ein Hospitant vor Gericht zog, bangt die mächtige US-Filmindustrie … Für Aufsehen sorgt vor allem der Fall von Eric Glatt, der im Jahr 2010 als Praktikant bei der Produktion „Black Swan“ mit Natalie Portman gearbeitet und die Produktionsfirma Fox Searchlight Pictures später wegen Verstößen gegen den Fair Labor Standards Act (FLSA) verklagt hat. Mittlerweile wurde gar eine Sammelklage zugelassen, bei der es nicht mehr nur um Bezahlung und Schadensersatz geht, sondern auch darum, wie die Unterhaltungsindustrie und auch andere Branchen mit Praktikanten umzugehen haben.« Auch in den USA geht es ganz grundsätzlich um die Frage: Wer profitiert von so einem Praktikum? „Die Gesetzgebung ist eindeutig“, sagt Ross Perlin, Autor des Buches „Intern Nation“: „Wenn ein Praktikum bei einer Firma mit Gewinnabsicht unbezahlt ist, dann muss sich dieses Unternehmen um ein pädagogisches Umfeld kümmern.“ Er schätzt, dass es in den Vereinigten Staaten etwa 500.000 Praktika gibt, die gegen diese Regel verstoßen – und dass dadurch die Unternehmen etwa zwei Milliarden US-Dollar pro Jahr sparen.

Nun gibt es weitere Forderungen nach Ausnahmeregelung beim vorgesehenen Mindestlohn. So erwähnt Ramsauer (CSU) auch die Rentner, die Zeitungsausträger und die studentischen Hilfskräfte. Wenn wir mal von den studentischen Hilfskräften absehen, die in den meisten Bundesländern bereits heute Stunden Vergütung bekommen, die oberhalb des vorgesehenen Mindestlohns liegen, sind die beiden anderen Personengruppen ein interessantes Beispiel:

  • Die Forderung, die Zeitungsausträger vom Mindestlohn auszunehmen, muss man wohl als Kniefall vor den Zeitungsverlegern und damit immer noch überaus gewichtigen Meinungsmacherinnen einordnen. Wenn das für viele andere Bereiche – man denke hier an das Gaststättengewerbe (vgl. dazu den Beitrag Mindestlohn zwingt Wirte zum Umdenken) – gelten soll, dann gibt es keinen Grund, gerade die Gruppe der Zeitungsausträger davon auszunehmen. Außer, man möchte die Verleger für sich gewinnen.
  • So richtig problematisch wird es bei der Forderung, Rentner von der Anwendung des Mindestlohnes auszunehmen. Würde man dieser Forderung entsprechen, dann besteht die überaus realistische Gefahr, dass ein riesiger Niedriglohnsektor eigener Art in den kommenden Jahren vor unseren Augen entstehen wird. Das Ganze muss im Zusammenhang gesehen werden mit den derzeitigen Überlegungen in Richtung auf eine „Flexi-Rente“. Ganz offensichtlich geht es einigen Akteuren darum, der Wirtschaft den Zugang zu billigen erwerbstätigen Rentnern zu eröffnen. Vor dem Hintergrund der enorme Absenkung des Rentenniveaus sowie des Zustroms in den kommenden Jahren von Menschen, die aufgrund ihrer Erwerbsbiografie in die Altersarmut rutschen werden, gibt es hier ein Jahr für Jahr enorm wachsendes „Potenzial“ an nutzbaren älteren Arbeitskräften, die dann zu deutlich günstigeren Bedingungen beschäftigt werden können als „normale“ Arbeitnehmer. Vor diesem Hintergrund ist von einer Herausnahme „der“ Rentner aus dem Geltungsbereich des Mindestlohns dringend abzuraten.

In der Gesamtschau der Argumente gibt es viele Gründe, die dafür sprechen, die Ausnahmeregelungen auf ein Minimum zu begrenzen.
Weiterhin offen bleiben drei zentrale Fragen, die mit dem Mindestlohn verbunden sind:

(1) Zum einen geht es um die besondere regionale Betroffenheit in den Gegenden, in denen ein teilweise deutlich unter dem vorgesehenen Mindestlohn liegendes Lohnniveau weit verbreitet ist. Es geht also um weite Teile Ostdeutschlands. Die folgende Sichtweise illustriert die Problemwahrnehmung: Der gesetzliche Mindestlohn sei ein größerer Schritt als der von der Pferdekutsche zur Kraftdroschke, so wird ein Taxiunternehmen in dem Artikel Firmen im Osten fürchten Mindestlohn zitiert. Konkret:

„Es wird gefeilscht, bis das Blut kommt“, sagt der Unternehmer Lutz Möbius aus Zeitz im Süden Sachsen-Anhalts über seine Kundschaft. Taxifahrten, Kleintransporte oder Kurierdienste – mit rund 24 Mitarbeitern bietet der 55-Jährige alles rund um den Transport. Vier bis sechs Euro die Stunde bekommen seine Fahrer, je nach Auftragslage. Ein Mindestlohn von 8,50 Euro sei in der strukturschwachen Region nicht hereinzuholen. „Das haut einem die Füße weg“, sagt Möbius.
»Nach einer Analyse des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle verdiente 2011 jeder vierte Beschäftigte in den neuen Ländern und Ost-Berlin weniger als 8,50 Euro die Stunde. In Westdeutschland war es dagegen nur jeder achte. Eine jüngere Untersuchung der IHK Halle-Dessau – die die Arbeitgeber und nicht die Arbeitnehmer befragte – kommt zum Ergebnis, dass in den Mitgliedsunternehmen rund 15 Prozent der Beschäftigten unter Mindestlohn-Niveau verdienen. Der Bau sei kaum betroffen, im Gastgewerbe aber rund die Hälfte aller Beschäftigten.«

 Diese Ausgangslage wird natürlich dazu führen, dass für viele Unternehmen, deren Stundenlöhne derzeit zwischen vier und fünf Euro schwanken, eine gesetzlich verordnete Anhebung auf 8,50 Euro in der Stunde wie ein schwerer externer Schock auf der Kostenseite wirken wird. Da hilft es auch nicht, wenn man mir durchaus begründbaren wissenschaftlichen Argumenten herausstellt, dass mittel- und langfristig die Regionen im Osten unseres Landes nur dann aus der Niedriglohnfalle herauskommen können, wenn sich die Löhne nach oben bewegen. Man hätte durchaus differenzierter über ein Übergangsszenario für Ostdeutschland sprechen müssen, bevor sich die politische Zahl 8,50 Euro verselbständigt hat. Jetzt wird es um Schadensbegrenzung gehen müssen.

(2) Damit durchaus in einem Zusammenhang stehend ist die Diskussion um die konkrete Höhe des vorgesehenen gesetzlichen Mindestlohns – hier allerdings aus einer anderen, nicht aus der Kostenperspektive der Unternehmen, sondern aus dem Blickwinkel der betroffenen Arbeitnehmer. Immer wieder gibt es Forderungen nach einem höheren gesetzlichen Mindestlohn. Dafür mag es gute Gründe geben, die allerdings abgewogen werden müssen mit der Frage, wie man die Einführung eines solchen Instruments hin bekommt, ohne große Schäden im bestehenden System zu verursachen. Für die Merkwürdigkeiten dieser Debatte ein kleines Beispiel: Dass die Linke einen Mindestlohn von 10 Euro fordert, ist bekannt. Aber das wird jetzt noch mal getippt, wenn man dieser Meldung folgt: Wohlfahrtsverband fordert Mindestlohn über 13 Euro: »Zur Verhinderung von Altersarmut ist nach Ansicht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ein Stundenlohn von deutlich über 13 Euro erforderlich. „Der Mindestlohn muss deutlich steigen“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Ulrich Schneider, der „Passauer Neuen Presse“. Die Gefahr der Altersarmut bestehe vor allem bei Langzeitarbeitslosen, für die es ein Beschäftigungsprogramm geben müsse.« Da wird ja nun einiges durcheinander geworfen. Schaut man auf die Facebook-Seite von Ulrich Schneider, dann findet man dort den folgenden Beitrag von ihm:

»… dann bringen wir doch noch mal Schwung in die Debatte …. auch wenn man redlicherweise sagen muß, daß ich den Mindestlohn in dem Gespräch mit der Passauer Neuen Presse gar nicht explizit gefordert habe, sondern eigentlich nur darauf hinwies, daß man über 13 Euro Stundenlohn brauche, um angesichts des sinkenden Rentenniveaus überhaupt eine Chance zu haben, mit seiner Rente über Sozialhilfeniveau zu landen …«

Bei aller Sympathie für den Mindestlohn an sich, hier scheint jemand – immerhin der Hauptgeschäftsführer eines nicht unbedeutenden Wohlfahrtsverbandes – aus einer medialen Selbstverliebtheit über die Wirkung seiner Worte gleichsam mit dem Feuer zu spielen, denn allen halbwegs mit Vernunft gesegneten Beteiligten muss doch klar sein, dass man in der derzeitigen Situation nicht ernsthaft einen Mindestlohn von 13 € pro Stunde fordern kann, so gerne man das jedem wünschen würde. Der eigentliche Ansatzpunkt an dieser Stelle wäre auch weniger das Hochschrauben des gesetzlichen Mindestlohns, sondern eine kausale Therapie dergestalt, dass man an dem – übrigens trotz Rentenpakets weiter fortbestehenden – Absinken des Rentenniveaus ansetzt und hier eine Veränderung herbeiführt. Denn das Problem, dass man einen so hohen Stundenlohn braucht, um überhaupt eine Rente zu bekommen, die oberhalb der Mindestsicherung liegt, entspringt der politisch gesetzten Reduktion des Rentenniveaus.

(3) Von wesentlich wichtigerer Bedeutung wäre – gerade wenn man aus ökonomisch durchaus nachvollziehbaren Gründen nicht so hoch bei Mindestlohn einsteigen kann, wie man eigentlich möchte – die Frage, wie sich der Mindestlohn in den vor uns liegenden Jahren weiter entwickeln wird.  Hierfür soll es bekanntlich eine Mindestlohnkommission geben. Hinsichtlich der Aufgabe und der Besetzung dieser Kommission hat es einige Diskussion bereits im Vorfeld gegeben. Nunmehr gibt es eine interessante „Große Koalition“ zwischen den Arbeitgebern und den Gewerkschaften, denn die  möchten die Höhe des Mindestlohns am liebsten künftig unter sich aushandeln. »Nur alle zwei Jahre soll nach dem Willen der Tarifpartner die Lohnuntergrenze angepasst werden, und zwar immer automatisch in der Höhe der vorangegangenen Tarifabschlüsse«, berichtet Karl Doemens in seinem Artikel Mindestlohn ist kein Anhängsel und wünscht sich richtigerweise: »Hoffentlich bleibt die schwarz-rote Koalition hart« in ihrer Ablehnung dieses durchsichtigen Vorschlags. Man müsste ansonsten wirklich die Frage stelle, wozu man dann noch eine Kommission bräuchte. Bereits die „abgespeckte“ Variante in dem Gesetzentwurf hat – leider – nicht mehr viel mit dem zu tun, was wir beispielsweise in Großbritannien mit der „Low Pay Commission“ oder in Australien mit der „Fair Work Commission“ haben.