„Vermittlungsskandal 2.0“ bei der Bundesagentur für Arbeit? Nein. Es ist viel schlimmer: Hier geht es um die Systemfrage. Oder: Vom eigentlichen Skandal hinter der Zahlenhuberei

Da gab es am Wochenende so einige, die mit Blick auf die Bundesagentur für Arbeit (BA), wie die „gute Tante Arbeitsamt“ mittlerweile heißt, ein Déjà-vu hatten – nur mit dem Unterschied, dass es sich hierbei nicht mehr nur um das Gefühl handelt, eine neue Situation schon einmal erlebt, gesehen oder geträumt zu haben, sondern um das Auftauchen einiger unangenehmer Beweisstücke aus den Tiefen bzw. Untiefen eines umfassenden Systems der zahlengetriebenen Steuerung. Denn so könnte eine sehr kompakte Definition dessen lauten, was die BA heute darzustellen versucht. Viele ältere Semester fühlten sich an den Anfang des Jahres 2002 katapultiert, als der so genannte „Vermittlungsskandal“ über die damalige Bundesanstalt für Arbeit hereinbrach, der neben dem durch eine Welle an kritischer Berichterstattung verursachten Rücktritt des damaligen BA-Präsidenten Jagoda auch zur Einsetzung der „Kommission moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ mit dem damaligen VW-Personalvorstand Peter Hartz an der Spitze geführt hat – mit den bekannten Folgen. Man muss sich bewusst machen, dass das, was die BA heute ist (oder sein möchte) eine unmittelbare Konsequenz aus den Ereignissen des Jahres 2002 ist und nur vor diesem Hintergrund zu verstehen ist.
Irgendwie erschien es im ersten Augenblick wie ein zynischer Treppenwitz der Geschichte, dass die Antwort auf den „Vermittlungsskandal“ des Jahres 2002 im Jahr 2013 an einem neuen „Vermittlungsskandal“ scheitern könnte, denn natürlich wurden nach den Vorwürfen sofort Überlegungen laut, wie es denn mit der personellen Verantwortung an der Spitze der Bundesagentur für Arbeit aussehen sollte und müsste.

Aber der Reihe nach. Ausgelöst wurden die aktuell schweren Fahrwasser, in die die Bundesagentur für Arbeit geraten ist, durch einen längeren Artikel im SPIEGEL: Dahlkamp, J. et al.: Mit allen Mitteln, in: DER SPIEGEL, Heft 26/2013, S. 30-36. Bereits am Sonntag veröffentlichte „Spiegel Online“ unter der Überschrift „Arbeitsagentur manipuliert Vermittlungsstatistik“ eine Kurzfassung des Artikels, der in der Print-Ausgabe des Magazins erschienen ist. Der SPIEGEL bezieht sich auf die Erkenntnisse aus einem seit Monaten unter Verschluss gehaltenen Prüfbericht des Bundesrechnungshofs mit dem staubtrocken daherkommenden Titel: „Mitteilung an die Bundesagentur für Arbeit über die Prüfung der Steuerung der Zielerreichung in den strategischen Geschäftsfeldern I und Va“.

Der Originalbericht trägt das Datum 7. November 2012. Aber der enthält einige Sprengsätze für die Führungsspitze der BA, die vom SPIEGEL freigelegt wurden. Die Kernaussage – die noch vertiefend zu behandeln sein wird – lautet: »Vermittelt wird nur, wer leicht vermittelbar ist: Der Bundesrechnungshof wirft der Agentur für Arbeit … vor, nach diesem Prinzip eine bessere Erfolgsbilanz vorzutäuschen. Besonders Langzeitarbeitslose würden schlecht betreut«. Das ist starker Tobak, wird aber anhand der vom Bundesrechnungshof zusammengestellten Befunde nachvollziehbar.

Der Rechnungshof hatte in einer Stichprobe sieben der 156 Arbeitsagenturen sowie sieben Regionaldirektionen drei Monate lang untersucht. „Die Tatsache, dass wir in allen geprüften Agenturen Fehlsteuerungen festgestellt haben, zeigt, dass es sich um ein grundsätzliches Problem handelt“, heißt es im Fazit des Rechnungshofes.

Welche konkreten Vorwürfe werden vorgetragen? Die folgende Zusammenstellung bezieht sich auf den Artikel „Mit allen Mitteln“ aus der Print-Ausgabe des SPIEGEL. Eines muss an den Anfang gestellt werden: Es geht um das „Herz“ der neuen, „modernen“ BA – um die Zielsteuerung und die Kontrolle der Zielerwartungen innerhalb der großen Maschine. Es geht um Zahlen, alles dreht sich um diese Zahlen: Was die Vermittler tun, wird gezählt, beziffert, und am Ende sind es die Zahlen, nicht die Schicksale dahinter, die über alles entscheiden: Ob die jeweilige Agentur die Zielvorgaben von oben schafft, aus der Regionaldirektion und der Zentrale in Nürnberg. Ob sie damit im Vergleich zu anderen Agenturen vorn oder hinten liegt, so der SPIEGEL-Artikel.
»Nürnberg gibt der Regionaldirektion die Ziele vor, die Direktion der Agentur, die jedem Teamleiter, der Teamleiter jedem Vermittler. Die Ziele … könne man, je nach Temperament, entweder „sehr hoch“ oder aber „Wahnsinn“ nennen, trotzdem: Sie sind die Norm, das Gesetz, die Heilige Schrift, der sich in der Behörde alle unterordnen« (S.34). Um die Zahlen zu erreichen bzw. herzustellen wird in den unteren Etagen mit Druck gearbeitet und bei den Führungskräften ab Teamleiter aufwärts gibt es – bei Planerfüllung – Prämien. Das soll motivieren.

Schauen wir uns die im SPIEGEL-Artikel genannten Beispiele aus dem Rechnungshof-Bericht genauer an:

Eine der Zielgrößen ist die „Arbeitslosigkeit in Tagen“. Eine Agentur bzw. ein Team hat ein Problem, wenn es viele „Langläufer“ gibt, denn die versauen den Schnitt. Gott sei Dank gibt es hier einen Ansatzpunkt zur „Korrektur“ dieses Problems, z.B. IFLAS, ein »Sonderprogramm, eigentlich gedacht, um Arbeitslose wieder fit für den Berufseinstieg zu machen. Aber worauf es jetzt ankommt: Wer an IFLAS teilnimmt, zählt nicht für den Schnitt.« Also „motiviert“ man Arbeitslose, an einem der Qualifizierungskurse teilzunehmen, z.B. einen PC-Kurs, auch wenn der betroffene Arbeitslose kurz vor der Rente steht und es keine Arbeit mehr für ihn geben wird. Insofern kann man – zynisch gesprochen – nicht von „sinnlosen Maßnahmen“ sprechen, diese Kurse machen in der Welt der BA-Zahlen schon Sinn, denn die Teilnehmer zählen nicht mit bei der Messung der Arbeitslosigkeitsdauer.
Bei dem ausgefeilten System der Zielsteuerung in der BA geht es um Punkte, die man sich unten, an der Front, erarbeiten muss – und unterschiedliche Erfolge werden unterschiedlich bepunktet. Da gibt es mal viele und mal wenige Punkte. Darüber setzt man Anreize, sich auf die hoch bepunkteten Maßnahmen auszurichten und darüber steuert man dann das Verhalten der eigenen Mitarbeiter.

Zwei Wege werden in dem Bericht des Rechnungshofes identifiziert und kritisiert:

1.) »Die Agenturen kümmern sich, so der Rechnungshof, vor allem um die gefragten Kunden, die vermutlich auch ohne ihre Hilfe eine Stelle bekämen, und um die gefragten Stellen, für die man nicht lange nach Bewerbern suchen muss. Konzentration aufs leichte Geschäft und die Problemfälle links liegen lassen – für den Rechnungshof eine Missachtung des gesetzlichen Auftrags (S. 31). Hier geht es um Rosinenpickerei oder „Creaming“-Effekte. Verdeutlich wird das an den „Job-to-Job“-Kunden. Dabei handelt es sich um Personen, die sich in einem gekündigten, befristeten oder von „Arbeitslosigkeit bedroht“ Arbeitsverhältnis befinden – und nach den Rechtsvorschriften des SGB III müssen sie sich nach der Kündigung bzw. drei Monate vor dem Auslaufen des Arbeitsvertrags bei der Arbeitsagentur melden, die sie zumeist als „arbeitsuchend“ führt. Der Grundgedanke dieser Regelung war wie so oft in diesem Bereich ein guter: Wenn die Arbeitsvermittlung schon vor dem faktischen Eintritt der Arbeitslosigkeit die Möglichkeit bekommt, nach einer anderen Beschäftigung zu suchen, dann kann die Arbeitslosigkeit  durch dieses Suchfenster vielleicht sogar vermieden werden. Eigentlich eine sinnvolle Sache. Und da es sich bei diesen „Job-to-Job“-Kunden nicht selten um „gute Risiken“ handelt, die sich gut wieder unterbringen lassen, hat man eine Vermittlung dieser Menschen mit einem hohen Punktwert bei der Messung des Zielerreichungsgrades – von dem u.a. die Leistungsprämie abhängig ist – ausgestattet. Nur wie so oft im Leben gibt es solche und solche unter dieser „Kundengruppe“ – sozusagen „Sahnekunden“ und „Kaffeesatzkunden“. Und an dieser Differenzierung setzt die Rosinenpickerei bzw. das „Creaming“ ein: »Die einen erhalten noch am selben Tag ein Gespräch mit ihrem Vermittler, die anderen erst in sechs Wochen. Die einen danach jede Woche, die anderen nie mehr … fast alle untersuchten Agenturen (hatten) einen Sofortzugang für diese Superkunden eingerichtet: Sie gingen gleich am ersten Tag direkt vom Empfangstresen zur Vermittlungskraft, von dort zum Arbeitgeber-Service, der die offenen Stellen verwaltet … Doch das galt eben nur für die Top- Kunden. Umgekehrt „schlossen die meisten Agenturen bestimmte Kundengruppen vom Sofortzugang aus“, beobachteten die Rechnungsprüfer. Und zählten die Unbeliebten auf: Ungelernte ohne Führerschein, Bewerber mit angeschlagener Gesundheit und Ältere, je nach Agentur mal ab 50 Jahren, mal ab 55, 58 oder 60. Die bekamen erst später einen Termin und danach manchmal keinen zweiten mehr, bis sie zu Hartz-IV-Empfängern wurden« (S. 33)

»Das ist die Kehrseite des Creaming: Wer nicht Sahne ist, wer mehr Arbeit macht, wer nicht schnelle Punkte bringt oder nur das Pech hat, in der falschen Zielkategorie zu hängen, der hat von der Agentur nicht mehr viel zu erwarten.« In dem Bericht der Rechnungsprüfer findet sich der Hinweis, dass für mehr als die Hälfte aller Langzeitarbeitslosen in den untersuchten drei Monaten kein einziger Stellensuchlauf durchgeführt worden ist. Und zu 47% von dieser Gruppe wurde nicht mal ein ernstzunehmender Kontakt aufgenommen.

Der hier entscheidende Punkt: Das beklagte Creaming ist eine systemische Konsequenz aus der Tatsache, dass seitens der BA-Zentrale vorgegeben wurde, dass jede Integration (in irgendeine Arbeit) den gleichen Wert zugewiesen bekommt. Nun muss man keine Studie machen, um zu erkennen, dass dies natürlich Unsinn ist, denn die eine Vermittlung geht schnell von der Hand, während man bei einem anderen große Mühen auf sich nehmen muss, um ihn in neuer Beschäftigung zu platzieren. Die Gleichwertigkeitsvorgabe führt nun aber dazu, dass sich die Vermittlungskräfte auf die „leichteren“, also marktgängigen Kunden fokussiert und die „schwereren Fälle“ außen vor lässt. Insofern handelt die BA betriebswirtschaftlich gesehen effizient, aber sozialpolitisch gesehen treibt sie die Polarisierung zwischen den „guten“ und „schlechten“ Risiken voran.

2.) Der SPIEGEL spricht mit Blick auf den zweiten Weg gar von „Betrug, Täuschung“. Auch heute werden wieder „in großem Stil Vermittlungen simuliert“, so der Artikel (S. 31). Da gibt es unterschiedliche Ausformungen. Da wäre das Beispiel Leiharbeit: »Liebste Arbeitgeber deutscher Job-Vermittler sind Zeitarbeitsfirmen. Von den knapp 510 000 besetzten Stellen im Jahr 2011 entfielen gut 190 000 auf die Rein-und-Raus-Branche, also mehr als ein Drittel. Zum Vergleich: In der deutschen Wirtschaft sind nur drei Prozent der Beschäftigen Zeitarbeiter.« Der Aufwand für eine „Integration“ in Leiharbeit ist sehr überschaubar, aber die Einstellung als Leiharbeitnehmer zählt als Integration in Erwerbsarbeit (auch wenn diese nach zwei Monaten wieder mit einer Entlassung beendet wird, weil es ausreicht, dass eine Beschäftigung von sieben Tagen vorliegt, damit man eine „Integration“ buchen kann) genau so wie eine höchst aufwendige Integration z.B. eines älteren Arbeitslosen mit einer gesundheitlichen Einschränkung in ein Handwerksunternehmen.
Als „knallharten Statistikbetrug“ wertet der SPIEGEL-Artikel die Strategie, die Nenner-Größe bei der Berechnung der Erfolgsquoten zu verkleinern nach dem Motto: »Wie werde ich Kunden los? Vor allem die Sorte, die sich nicht gut vermitteln lässt.« Dafür gibt es dann beispielsweise die Masseninformationsveranstaltungen. »Dafür werden die 37-jährige Hausfrau oder der 50-Jährige mit angegriffener Gesundheit regelmäßig mit 100 anderen zum selben Termin eingeladen. Bis sie so genervt sind, dass sie einmal nicht kommen, und schon meldet die Agentur sie aus dem Bestand ab« (S. 34). Ein anderes Beispiel – und wieder an die „Job-to-Job“-Vermittlung ansetzend – bezieht sich auf Auszubildende am Ende der Lehre: »… ob die jungen Leute hinterher im Betrieb übernommen werden oder in einen anderen wechseln, beides gilt als erfolgreiche „Job to Job“-Vermittlung“. Einzige Bedingung: Die Damen und Herren von der Agentur müssen die Jugendlichen irgendwie dazu bringen, sich vorher arbeitsuchend zu melden.« In dem Artikel wird auch berichtet von Agenturen, »die Fragebögen in den Berufsschulen austeilen: Wer ankreuzt, dass er von seiner Firma übernommen wird oder woanders eine feste Zusage hat, landet demnach im Behördencomputer, unter „arbeitsuchend“. Bis zu dem Tag, an dem er Geselle wird und der Vermittler das als Erfolg der Behörde im Computer erfasst. Und die anderen Fragebögen? Die von denen, die nichts in Aussicht hatten? „Die werden gleich weggeschmissen.“«

In der Gesamtschau muss man natürlich den Eindruck gewinnen, hier läuft vor unseren Augen ein neuer, veritabler Skandal ab, hier werden offensichtlich Erfolgsindikatoren „produziert“ bzw. „aufgehübscht“, aber bei allem Kopfschütteln angesichts der Information darüber, womit sich erwachsenen Menschen offensichtlich den lieben langen Tag beschäftigen können bzw. müssen – fairerweise sollte die Bewertung lauten: Nein, das ist kein Skandal, erst recht kein neuer, sondern eine zwangsläufige Folge, eine nicht vermeidbare Auswirkung einer sich über das eigentliche Kerngeschäft legenden zahlengetriebenen Steuerung, die sich abzuschließen versucht von den Irritationen, die aus der Außenwelt in die Agentur kommen könnten und die durchaus effizient versucht, die eigenen Maßstäbe immer besser zu erreichen, koste es, was es wolle. Hierin unterscheidet sich die BA in keiner Weise von vielen anderen, gerade börsennotierten Unternehmen mit ihrer dort ebenfalls wirkenden Kombination aus Controlling-Dominanz und Fokussierung auf die Realisierung kurzfristiger (scheinbarer) Erfolge, die man zahlenmäßig abbilden kann.

Niklas Luhmann, der große Systemtheoretiker der Soziologe, hätte heute seine Freude an der BA, er würde sie sicher in einem seiner Werke verewigen. Mit Luhmann assoziiert man seine Beschreibung „selbstreferentieller Systeme“. Selbstbezügliche Systeme stabilisieren sich durch die Bezugnahme auf sich selbst und schließen sich darin von ihrer Umwelt ab. Dadurch gewinnen sie Beständigkeit und ermöglichen Systembildung und Identität. Selbstreferenzielle Systeme sind „operational geschlossen“. Auch der SPIEGEL-Artikel kommt zu dem Ergebnis, dass die von den Rechnungsprüfern und Insidern berichteten Strategien und Maßnahmen »Merkmale eines in sich geschlossenen Systems (aufweisen), auf Höchstleistung gedrillt, überzüchtet.«

Und was sagt Nürnberg?
„Ich muss fordern, dass man die Erfolge fortsetzt. Wir haben bewiesen, dass wir in unseren Zahlen fast jedes Jahr ein bisschen besser geworden sind …“ (F.-J. Weise)

Die Reaktion der Führungsspitze der Bundesagentur für Arbeit kann Hinweise geben auf den Grad der „operationalen Schließung“ dieser Institution.

Direkt nach der Veröffentlichung der Vorwürfe bekam der Chef der BA, Frank-Jürgen Weise, die Möglichkeit, in einem Interview mit Spiegel Online Stellung zu nehmen. Das Interview wurde bezeichnenderweise betitelt mit „BA-Chef Weise räumt „Fehlsteuerungen“ ein„. Hier einige Auszüge aus seiner Argumentation bzw. besser: aus seiner Sicht der Welt:

»Die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit in der Statistik, in den Finanzen und die Controlling-Zahlen zeigen eine kontinuierliche Verbesserung gegenüber dem Vorjahr.» Und zu den Vorwürfen des Bundesrechnungshofs führt er aus: »Diese Fälle sind punktuell, aber wir nehmen sie sehr ernst. Es gibt Agenturen, die durch die Vorgaben überfordert sind.«

Und das folgende Zitat von Weise zeigt in aller Deutlichkeit seine Sichtweise, dass es die einzelnen Mitarbeiter vor Ort sind, die schuld seien an dem, was jetzt mal wieder an die Öffentlichkeit gespült worden ist: »Es gibt Menschen, die kommen mit diesem System der Forderung, der Transparenz nicht klar.« Da zieht sich der Chef zurück und macht die da unten verantwortlich. Schlechter Stil, mindestens. Und auch sachlich falsch, wenn man begreift, dass es sich hier um die Folgen eines Systems handelt, das man gut oder schlecht finden kann, das aber nicht reduziert werden darf auf Einzelfälle, wenn es unangenehme Anfragen an das System gibt.

Jetzt sind wir schon am Kern seiner Abwehrstrategie angekommen:
1. ) Wenn, dann handelt sich um Einzelfälle und 2.) Wenn es partiell so etwas gegeben hat, dann waren die Mitarbeiter vor Ort „überfordert“.

Auf die Frage nach dem im Prüfbericht beschriebenen und dokumentierten Fällen einer Differenzierung der „Kunden“ in „Sahne“- und „Kaffeesatz“-Kunden antwortet Weise – und das sollten wir uns merken: »Es kann doch nicht darum gehen, dass wir Menschen unterschiedlich behandeln.« Genau das wurde gerade aufgedeckt.

Auf die Frage, wie es denn jetzt weiter geht, offenbart sich der eigentliche Skandal hinter der Zahlenhuberei:

»… wir bearbeiten die Themen hier bei uns im Haus … Indem wir immer wieder an der Feinjustierung eines Zielsystems arbeiten«.

Genau das ist das Problem: Die BA ist kein Logistik- oder sonstiges Unternehmen, Herr Weise, dass man mit Hilfe externer Unternehmensberater von Roland Berger oder von wem auch immer führen kann, abgeschottet von der Umwelt, sondern eine Sozialbehörde, auch wenn das sicher für manche in der BA von heute wie ein Terminus von Untoten klingen mag. Die BA hat sich dem öffentlichen Diskurs zu stellen und muss endlich zulassen, dass auch von außen mitdiskutiert wird an der Frage, was denn der Auftrag der BA ist und wie man dann, nachdem man das fixiert hat, die Auftragserfüllung messen kann, wenn man es denn überhaupt kann. Und sie muss sich kritischen Anfragen stellen, die sich in einem zentralen Punkt verdichten lassen: Wozu braucht man diese Behörde, wenn sie sich fokussiert auf die „marktnahen“ Kunden, die es auch ohne ihre Hilfe schaffen, sich auf dem Arbeitsmarkt zu platzieren – und wie kann man sicherstellen, dass der sozialpolitische Auftrag der BA wieder mit Leben gefüllt wird.

Immerhin liegt der Bericht des Bundesrechnungshofes schon seit dem vergangenen Jahr in Nürnberg. Man habe seitdem eifrig an den Konsequenzen, die daraus zu ziehen seien, gearbeitet, bis jetzt, im Juni des Jahres 2013 der Bericht an die Öffentlichkeit gekommen ist. Und wie sehen diese aus? Dazu gibt es erste Hinweise in dem Beitrag „Wir sind kein Betrügerladen„:

»Im Kern geht es bei der BA-Reform darum, dass die Vermittlung von schwierigen Fällen ab 2014 höher bewertet wird. Die Nürnberger Behörde hat dabei drei Gruppen und Merkmale definiert, für deren Vermittlung es ein Extra-Plus geben soll.
• Wenn ein ehemaliger Arbeitsloser auch nach mehr als sechs Monaten noch einen Job hat.
• Wenn die Vermittlung in einen kleinen oder mittelständischen Betrieb erfolgt.
• Wenn ein Arbeitsloser mit Hauptschulabschluss eine Stelle bekommt.«

Ein Schritt vor, aber elegant der eigentlichen Grundsatzfrage ausgewichen. Soll man eine Sozialbehörde so steuern? Macht das Sinn? Welchen Sinn machen Prämien für die Erreichung irgendwelcher quantitativer Zielquoten? Keine Antwort aus Nürnberg.

Welche Auswirkungen – um noch auf einen weiteren Aspekt hinzuweisen – haben die Diskussionen hinsichtlich der Zielsteuerung der Arbeitsagenturen auf die der Jobcenter, zumindest auf die, wo die BA in den „Gemeinsamen Einrichtungen“ mit den Kommunen agiert? Denn man muss es an dieser Stelle wieder in Erinnerung rufen: Die 156 Arbeitsagenturen sind keine Jobcenter und die 410 Jobcenter sind keine Arbeitsagenturen, so merkt es das BIAJ richtigerweise an. Wie gehen wir dort, in der Hartz IV-Welt, mit der Frage nach dem sozialpolitischen Auftrag um? Und wären die Ereignisse nicht Grund genug, wieder einmal die unangenehme Grundsatzfrage aufzuwerfen, wie wir mit der „Achillesferse“ der deutschen Arbeitsmarktpolitik – also der Trennung der Rechtskreise SGB III und II und ihre Abbildung in getrennten Institutionen – umgehen wollen? Macht das alles noch Sinn? Werden hier nicht Verschiebe- bzw. Abschiebebahnhöfe produziert, gegen die die alte Welt aus Arbeits- und Sozialämtern als eine heile Welt daherkommt?

Fragen, notwendige Fragen – aber offensichtlich interessiert sich auch die Medienberichterstattung kaum noch für das Thema. Man ist bereits nach wenigen Tagen zum nächsten Ort des Geschehens aufgebrochen, wo die nächste Sau durchs (sozialpolitische) Dorf getrieben wird. Zurück und allein bleibt eine Institution, die nicht mehr die „gute Tante Arbeitsamt“ ist und dies auch heute nicht mehr sein sollte, die man aber auch nicht alleine lassen darf in den Händen controllingverliebter Unternehmensberater, die etwas gestalten und verändern, was ein öffentliches Gut darstellt – und dabei noch nicht einmal Rechenschaft ablegen müssen, was aus ihrer Welt der Powerpoint-Folien in die freie Wildbahn entlassen wird.

Wozu Kritik an den letzten Außenposten des Sozialstaats führen kann: Die Bundesagentur für Arbeit exkommuniziert Frau H. aus H. und schießt ein veritables Eigentor

Ach, der große Tanker Bundesagentur für Arbeit, die sich selbst nach den Jahren der durch viele Unternehmensberater vorangetriebenen Um- und Anbauten als windschnittig daherkommendes und in den buntesten Farben lackiertes Schnellboot auf der großen See des Arbeitsmarktes versteht und sieht. Aber sie ist und bleibt ein Ozeanriese auf den Wogen der Sozialgesetzbücher, deren Inhalte und vor allem dessen sozialrechtlichen Implikationen und sozialpolitischen Verpflichtungen aber mittlerweile zumindest in der Führungsebene der ehemaligen Anstalt, vor allem bei ihrem BWL- und dabei vor allem Controlling-verliebten Vorstandsvorsitzenden Weise, am liebsten klammheimlich unter dem Tisch fallen sollten. Gleichsam historisch ist der vor einigen Jahren von Herrn Weise getätigte und in einem Beitrag eines Politikmagazins im Fernsehen dokumentierte Ausspruch, die Bundesagentur für Arbeit habe keinen sozialpolitischen Auftrag. Das mag die Denkwelt des Herrn Weise auf den Punkt bringen, rechtlich gesehen ist das natürlich Unsinn, denn (noch) gelten die Sozialgesetzbücher, insbesondere in Gestalt der Bücher II und III, auch für die BA. Auf der anderen Seite markiert der wie in Stein gemeißelte Satz des Herrn Weise dessen Wahrnehmung einer Bundesagentur für Arbeit im Sinne eines „am Markt operierenden Konzerns“, der im Grunde der gleichen Logik zu folgen hat wie ein – sagen wir mal – Automobilhersteller oder eine Baumarktkette. Und so haben sich die Führungskräfte der BA in den vergangenen Jahren auch immer öfter und immer stärker verhalten, sicher auch durch die personalpolitische Ausrichtung der Rekrutierung entsprechend ausgerichteter „Manager“-Typen, die mit der gleichen Freude wie ihr Chef morgens auf die Controllingberichte am Bildschirm schauen (sollen).

Herr Weise war nach klassischen Kriterien mehr als erfolgreich – um seinen betriebswirtschaftlich fokussierten Umbau der alten Arbeitsverwaltung ungestört abarbeiten zu können, hat er die BA soweit es ging gegenüber der Presse zurückgenommen, um schlechte Publicity zu vermeiden und zugleich hat er ein Stein im Brett der Politiker, weil es ihm gelungen ist, Milliardenbeträge in der Arbeitslosenversicherung einzusparen (wobei man vielleicht fairerweise anfügen muss, dass die konjunkturelle Entwicklung einiges dabei geholfen hat und für die die BA nun wirklich nichts kann).
Nur mit einem kann Herr Weise sicher nicht zufrieden sein – mit einem zentralen Abfallprodukt der Hartz-Gesetzgebung: den Jobcentern, die sich mit den Grundsicherungsleistungsempfängern herumschlagen müssen. Jahre des Hin und Her liegen hinter uns, herausgekommen ist ein (nicht nur) aus BA-Sicht völlig defizitäres System mit zwei Säulen, den Jobcentern als „gemeinsame Einrichtungen“ von BA und Kommunen sowie den „zugelassenen kommunalen Trägern“, wo also die Kommunen in Alleinregie die Arbeit erledigen und die Bundesagentur für Arbeit vom Spielfeld genommen wurde.

Die Führungsspitze der BA hatte – aus ihrer Sicht auch verständlich -, immer zwei Optionen vor Augen: Entweder den gesamten SGB II-Bereich unter ihre alleinige Zuständigkeit zu stellen oder aber letztendlich Rückzug aus dem Mischmodell mit den Kommunen und damit Kommunalisierung des SGB II, da die Kommunen doch oftmals ganz anders ticken als die immer noch (und heute eigentlich noch intensiver über ihre Steuerungssysteme) zentralistisch ausgerichtete BA mit ihrem Oberraumschiff in Nürnberg und der Folge einer Reduzierung auf eine als „moderne“ Versicherungsagentur aufgestellte Instanz für die „guten Risiken“ nach dem SGB III. Dann wäre man wenigstens den frustrierenden Hartz IV-Kram losgeworden. Doch aus beiden Ansätzen ist nichts geworden – und man kann den Frust innerhalb eines Teils der BA, was die Jobcenter angeht, aus deren Brille durchaus nachvollziehen, denn die schlechten Nachrichten aus dieser Welt werden meistens eins zu eins an die BA weitergereicht, auch wenn es sich um eine Optionskommune oder eben um Probleme in einem gemeinsam mit den Kommunen getragenen Jobcenter handeln sollte. Hartz IV wird sicher von den meisten Bundesbürgern mit dem „Arbeitsamt“, dass es zumindest semantisch seit Jahren schon nicht mehr gibt, gleichgesetzt und auch die Verantwortung wird immer erst einmal an die BA adressiert. Da kann man es bis zu einem gewissen Grad schon verstehen, dass die BA-Spitze angesichts der tatsächlich wesentlich komplexeren Lage zuweilen die Geduld verliert.

Was man aber nun wirklich nicht mehr verstehen kann, ist die unglaublich unprofessionelle und sprachlos machende Peinlichkeit in Form des „Presse Info 035 vom 14.06.2013“ mit der Überschrift: „Inge Hannemann gefährdet tausende Mitarbeiter der Jobcenter“. Ach hätte man doch einen direkten Draht zu denen da in Nürnberg in ihrem Hochhaus, der Trutzburg der deutschen Arbeitsverwaltung, man hätte zum Telefonhörer greifen und ihnen zurufen können: Habt ihr noch alle Tassen im Nürnberger Schrank? Wie tief muss eine – immerhin noch – Behörde eigentlich gesunken sein, um so einen Unsinn abzusondern, so dass sämtliche Reflexe des Fremdschämens beim Leser ausgelöst werden? Denn die Bundesagentur für Arbeit schreibt in ihrer Pressemitteilung:

»Angesichts der anhaltenden öffentlichen Attacken der (inzwischen freigestellten) Mitarbeiterin des Hamburger Jobcenters Inge Hannemann sieht sich die Bundesagentur für Arbeit gezwungen, Stellung zu nehmen – allein schon zum Schutz der vielen tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die durch die Äußerungen von Frau Hannemann beleidigt, herabgewürdigt und in Gefahr gebracht werden.«

Das ist schon mal starker Tobak. Eine Frau aus der Freien und Hafenstadt Hamburg bringt das Jobcenter-System in eine derart bedenkliche Schieflage? Ein Druckfehler? Nein, die meinen das wirklich so:

Frau Hannemann »bringt ihre Kolleginnen und Kollegen in Gefahr, die sich zunehmend Aggressionen von Seiten der Kunden ausgesetzt sehen.« Also wird jetzt die Frau H. aus H. in Zukunft für die leider immer wieder zu beobachtenden Zwischenfälle in den Jobcentern verantwortlich sein? Es kann doch wohl nicht wahr sein, wenn man sich die komplexen Hintergründe anschaut, die beispielsweise in der Vergangenheit zu Übergriffen seitens der „Kunden“, wie die vom System profitierende abhängige Menschen heute oft neusprechmäßig genannt werden, geführt hat.
Man hat bei dieser Pressemitteilung den Eindruck, eine schnell dahingeschriebene Kommentierung unter einem Facebook- oder Blogbeitrag irgendwo in den Niederungen des Internets lesen zu müssen, nicht aber das offizielle Statement einer deutschen Behörde. »Frau Hannemann missbraucht ihre angeblichen Insider-Ansichten, um sich in der Öffentlichkeit als einsame Kämpferin für Entrechtete darzustellen«, so die BA und darüber hinaus »gefällt sie sich in der Rolle der Märtyrerin, die von ihrem Arbeitgeber (der Freien und Hansestadt Hamburg) „kaltgestellt“ werden soll.«

Besonders „erheiternd“ ist der folgende Passus der Pressemitteilung:

»Frau Hannemann ist keine „Whistleblowerin“, die Missstände aufdeckt, denn die behaupteten Missstände gibt es nicht – sie kann daher auch keine „Hartz IV-Rebellin“ sein.«

Zwei Anmerkungen: Erstens ist das keine wirklich überzeugende Gegenrede, wenn die BA behauptet, es gebe bei ihr einfach keine Missstände. Und zweitens ist der Terminus „Hartz IV-Rebellin“ von RTL verwendet worden, solche terminologischen Überspitzungen seitens der Presse kennt jeder, der Medienerfahrungen hat sammeln können oder müssen.

Aber worum und vor allem um wen geht es hier eigentlich? Dazu muss man sich das Subjekt des wutschnaubenden Ausfalls der großen Behörde genauer anschauen. Ingrid Hannemann hat in den vergangenen Monaten eine für unsere Mediengesellschaft bezeichnende Öffentlichkeitskarriere hingelegt, die ihren Ursprung hat in ihrem Blog „altonabloggt“, wo sie sich sehr kritisch mit der Arbeit der Jobcenter auseinandersetzt. Insbesondere ihre grundsätzliche Ablehnung des Sanktionsinstrumentariums sticht dabei heraus – und das in Zeiten, in denen die Sanktionen im Grundsicherungsbereich eine große und eben auch sehr umstrittene Rolle spielen. Erst vor kurzem wurde über einen neuen Rekordstand bei den Sanktionen im Hartz IV-Bereich berichtet, wobei gerade ein differenzierter Blick auf die Sanktionen in einem Bereich, in dem es immerhin um die Absicherung des Existenzminimums geht, notwendig ist: Durch die Medien ging die Meldung, mehr als eine Millionen Sanktionen sind im vergangenen Jahr verhängt worden – und viele, die diese Information aufgenommen haben, stellen sich bewusst oder unbewusst eine Million Hartz IV-Empfänger vor, denen deshalb die Leistungen gekürzt oder gar entzogen wurden, weil sie sich gedrückt haben vor einem Arbeitsangebot.

Abgesehen von der Tatsache, dass es sich bei dieser Zahl um Sanktionsfälle und nicht um unterschiedliche Personen handelt: »2012 wurden rund 1.025.000 Sanktionen gegen „Hartz IV“-Bezieher verhängt. Die Zahl hat damit gegenüber dem Vorjahr um elf Prozent zugenommen. Grund hierfür sind aber keineswegs häufigere Ablehnung von Jobangeboten oder mangelnde Eigeninitiative bei der Jobsuche. Tatsächlich beruht der Zuwachs vollständig auf Terminversäumnissen«, so die Zusammenfassung bei „O-Ton Arbeitsmarkt“ in deren Beitrag „Mehr Sanktionen gegen „Hartz IV“-Bezieher wegen Arbeitsverweigerung?“ Und weiter: »Gerade die relativ harmlosen Meldeversäumnisse waren 2012 allerdings Grund für rund 70 Prozent der Sanktionen. Gegenüber dem Vorjahr ist ihr Anteil an allen Sanktionen um mehr als vier Prozentpunkte gestiegen. Der Anstieg aller Sanktionen erklärt sich daher alleine über die Zunahme der Meldeversäumnisse. Kürzungen, die wegen der Ablehnung von Jobangeboten oder aufgrund mangelnder Kooperation bei der Arbeitssuche ausgesprochen wurden, haben über die letzten Jahre sogar kontinuierlich abgenommen. Sie begründeten 2012 lediglich 28 Prozent aller Sanktionen, rund vier Prozentpunkte weniger als noch 2011.« Das ergibt schon mal ein differenzierteres Bild. Und weiter: »Befragungen von Fachkräften der Bundesagentur für Arbeit zeigen, dass gerade kleinere Sanktionen, wie Meldeversäumnisse, häufig in „erzieherischer“ Absicht genutzt werden, um die Beziehung zwischen Berater und Arbeitslosem verbindlicher zu gestalten. Gleichzeitig stehen viele  Arbeitsvermittler Sanktionen wegen Ablehnung von Arbeitsangeboten kritisch gegenüber. Vielfach können sie nur unpassende oder schlechte Arbeitsangebote machen, darunter auch immer mehr aus dem Bereich der Leiharbeit.«

Warum das hier so ausführlich dargelegt wird? Zum einen, weil Frau Hannemann an der durchaus auch von anderen vertretenen Kritik bis hin zu einer grundsätzlichen Infragestellung von Sanktionen inhaltlich ansetzt und sie es mit ihrem Blog über dieses Thema und vor allem dem Verhalten, sich den Sanktionserwartungen in der eigenen Arbeit im Jobcenter Hamburg nicht zu fügen, in die Medien geschafft hat, bis hin zu einem Artikel im SPIEGEL (Heft 17/2013), um nur ein Beispiel zu zitiereren: »Widerstand aus Zimmer 105. Im Jobcenter Hamburg-Altona kämpft ausgerechnet eine Arbeitsvermittlerin gegen Hartz IV: Inge Hannemann weigert sich, Arbeitslosen das Geld zu kürzen, wenn sie nicht erscheinen«.

Nun sind Presseberichte oder auch kurze Interviews in Print oder Radio das eine. Wer sich etwas umfassender über die Positionierung von Frau Hannemann informieren möchte, der wird sicher umfänglich fündig in dem folgenden längeren Radiogespräch, das von DRadio Wissen veröffentlicht wurde und das man als Audio-Datei anhören und abrufen kann:

Dradio Wissen: Die Empörung einer Sachbearbeiterin (12.05.2013): Zu Gespräch im Online-Talk: Inge Hannemann. Die Bloggerin arbeitet im Jobcenter und ist scharfe Kritikerin des Hartz-IV-Systems

Kommen wir nun wieder zurück zu der Pressemitteilung der Bundesagentur für Arbeit vom 14.06.2013, mit der sie Frau Hannemann gleichsam exkommuniziert:

»Wer in einem Jobcenter arbeitet, hat sich an Recht und Gesetz zu halten. Es kann nicht sein, dass eine Mitarbeiterin nach Gutdünken handelt und persönliche, politische Vorlieben auslebt. Frau Hannemann hat sich den falschen Beruf ausgesucht. Sie sollte nicht ihre Kolleginnen und Kollegen darunter leiden lassen«, so tönt es ex cathedra von der BA aus ihrer Festung in Nürnberg.
Starke Worte, die geprüft werden müssen.

Viele werden in einem ersten Schritt der geäußerten Auffassung, dass sich die Mitarbeiter einer Behörde an Recht und Gesetzt zu halten haben, uneingeschränkt zustimmen – und genau das ist ja auch mit der Formulierung von der BA so beabsichtigt. Wer von uns Normalmenschen würde das nicht erwarten, wenn wir an Polizei, Finanzämter oder Gerichte denken? Nun wird an dieser Stelle der eine oder die andere schon innerlich etwas unsicherer werden, wenn man an die eine oder die andere Entwicklung beispielsweise im Bereich der Justiz denkt (vor dem aktuellen Hintergrund des Falls Mollath in Bayern würde sich beispielsweise der Hinweis genau auf diesenFall anbieten, das soll hier nur mal ohne weitere Kommentierung als ein mögliches Beispiel unter vielen stehen bleiben).

Und genau hier muss man der BA entgegenhalten: So einfach kann man es sich eben mit dem „Recht und Gesetz“ nicht machen. Vor allem nicht im Bereich der Sanktionierung von Menschen, die im Grundsicherungssystem sind. Denn auch viele wissenschaftliche Analysen haben zeigen können, dass die bestehende Sanktionspraxis eben nicht auf einer gut strukturierten und eindeutigen, mithin also fehlerfreien Rechtsanwendungspraxis basiert, sondern angesichts der enormen Varianz der faktischen Anwendung bzw. eben auch Nicht-Anwendung von Sanktionen muss ein gewisses Maß an Willkür diagnostiziert werden, das zumindest diskussionsbedürftig ist, wenn nicht sogar ein Hinweis, dass ein bestimmter Anteil der Entscheidungen gerade nicht auf einer rechtmäßigen, sondern eher auf einer persönlichen Grundlage beruhen. Also wäre dann nicht nur das sanktionsablehnende Verhalten der Frau Hannemann als Abweichung von „Recht und Gesetz“ zu beklagen, sondern auch zahlreiche tatsächliche Sanktionsentscheidungen. Die aber – obgleich seit Jahren auch im seriösen Fachdiskurs als ein Problem des Jobcenter-Systems thematisiert – sieht die BA „natürlich“ nicht als Problem einer Verletzung von „Recht und Gesetz“ an, sondern ihr geht es doch im Grunde um etwas ganz anderes: Um ein „Automaten-Modell“ hinsichtlich der eigenen, internen Weisungen bei den Mitarbeitern, die mit Zielsteuerungsvereinbarungen und zahlreichen anderen Werkzeugen der subkutanen Verhaltenssteuerung die Vorgaben von oben (beispielsweise die Reduzierung der Leistungsempfängerquote wie auch immer und das heißt, wenn nicht durch Integration in Arbeit, dann eben durch andere Maßnahmen).

Dass wir es hier eben nicht mit einem einfachen Rechtsanwendungsmodell zu tun haben, kann man sich vielleicht an dem folgenden Beispiel verdeutlichen: Im SGB III, also in der klassischen Arbeitslosenversicherung, gibt es eine erstmal völlig berechtigte Schutzvorschrift für die Beitragszahlergemeinschaft, die besagt, dass man für drei Monate vom Bezug der Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I ausgesperrt wird, wenn man selbst gekündigt hat. Mit dieser Vorschrift will man verhindern, dass es zu einer missbräuchlichen Inanspruchnahme der Versicherungsleistung kommt. So weit, so gut. Wie so oft allerdings liegen möglicher Missbrauch und komplexe Lebensrealität dicht beieinander. Bleiben wir beim Beispiel Eigenkündigung des Arbeitnehmers und stellen wir uns eine Entscheidungssituation für den Mitarbeiter der Arbeitsagentur vor, bei der eine Arbeitnehmerin argumentiert, sie habe wegen Mobbings oder wegen sexueller Belaästigung durch den Chef kündigen müssen. Formal müsste sie gesperrt werden – außer es liegt ein „wichtiger Grund“ vor, so sieht es das Gesetz selbst vor. Ist das jetzt ein „wichtiger Grund“? Sollte die sexuelle Belästigung tatsächlich vorgelegen haben, wird jeder sofort sagen, natürlich. „Natürlich“ wird aber in einem solchen Fall der betroffene Arbeitgeber alles abstreiten und dann stehen, wenn keine Zeugen da sind, Aussage gegen Aussage. Was bleibt dem Mitarbeiter in der Arbeitsagentur? Würfeln? Glauben? Nicht-Glauben? Das Beispiel sollte verdeutlichen können, dass die Realität eben nicht weiß oder schwarz ist, sondern meistens sehr grau. Natürlich könnte es auch sein, dass die Arbeitnehmerin beispielsweise über die vielen Hilfeseiten im Internet darüber informiert ist, dass es sich bei einem „wichtigen Grund“ um eine Möglichkeit handelt, eine dreimonatige Sperre zu vermeiden und sie wählt den beschriebenen Vorwurf als Instrument, um das Ziel zu erreichen, was faktisch Missbrauch wäre. Aber wie will man das beweisen können?

Man sollte auch bei der BA wahrnehmen, dass es – um auf den Fall der Frau Hannemann zurückzukommen – um das Problem bzw. die Herausforderung „abweichenden Verhaltens“ der eigenen Mitarbeiter geht. Aber um den Ball mal wieder zurückzuspielen ins Feld der BA: Es gibt auch viele andere Institutionen, die an Recht und Gesetz gebunden sind und bei denen die Einhaltung dieser Vorschriften auch deshalb so wichtig ist, weil hier existenzielle Folgen produziert werden. Man denke hier z.B. an Schulen und Hochschulen mit ihrer Notengebung – und jetzt denke jeder mal an die vielfältigen Formen „abweichenden Verhaltens“ von Lehrer/innen an Schulen oder gar an Hochschullehrer, die unter dem sehr schützenden Dach der „Freiheit von Lehre und Forschung“ segeln können. In diesen Systemen gibt es gerade deshalb das Problem des Umgangs mit „abweichenden Verhalten“, weil die Exit-Option für den Arbeitgeber auch aufgrund des Beamten-Status schwierig bis unmöglich zu ziehen ist. Also muss man andere Formen des Umgangs finden. Das hätte man sich auch im Fall der Frau Hannemann gewünscht, die ja schon seit längerem freigestellt ist von ihrer Tätigkeit im Jobcenter Hamburg.

»Es gibt bestimmt jede Menge Gründe, warum sich das Arbeitsverhältnis von Inge Hannemann in einem Zustand zwischen Krise und Krieg befindet, jeden Tag ein Stück weniger Krise, jeden Tag ein Stück mehr Krieg«, so Jürgen Dahlkamp in seinem im April veröffentlichten Artikel im SPIEGEL über Ingrid Hannemann. Genau hier liegt eine Tragik der absehbaren Eskalationsspirale, denn es besteht die Gefahr, dass durch das Öl, dass die BA mit ihrer infantilen Pressemitteilung ins Feuer gegossen hat, beide Seiten in die totale Konfrontation getrieben werden. Dabei wäre gerade Frau Hannemann zu wünschen, dass sie sich nicht runterziehen lässt auf die Ebene einer von den Medien natürlich auch gerne inszenierten und für eine kurze Zeit des Medienhypes auch promovierte Rolle einer „Hartz IV-Rebellin“. Die Gefahr ist real, natürlich auch, weil sich jetzt viele Unterstützer zu Wort melden, die in ihr eine Gallionsfigur ihres Kampfs gegen das „Hartz IV-System“ allgemein und gegen „die“ Jobcenter besonders sehen und sie dafür auch einspannen wollen. Natürlich muss man auch so konsequent sein, zu argumentieren, dass eine Verteidigung der Frau Hannemann und ihrer wichtigen Kritik in dem komplexen Gefüge Jobcenter und SGB II, auch wenn man einige ihrer Positionen gerade nicht vertritt oder eine andere Meinung beispielsweise zur grundsätzlichen Frage der Sanktionierung hat, nur dann Sinn macht, wenn sie nicht grundsätzlich gebrochen hat mit der Vorstellung, sich in einer unvollkommenen und kritikwürdigen Praxis bewegen zu können. Dann kann man auch von dem System verlangen, den „Fremdkörper“ nicht nur zu akzeptieren, sondern abweichendes Verhalten als Bereicherung, zumindest als Anregung für die eigene Weiterentwicklung als Institution zu begreifen.

Es wäre schade, wenn sich Frau Hannemann auf eine Ebene begeben würde, die sicher viele der Systemkritiker lauthals begrüßen und unterstützen würden – und die zu einer pauschalen und wirklich falschen grundsätzlichen Ablehnung von allem, was in den Jobcentern passiert, führen würde. Abschreckendes Beispiel eines solchen freien Falls nach unten wäre für mich Ralph Boes, der Ende vergangenen Jahres mit einer Hungerstreik-Aktion für Aufsehen gesorgt hat: »Für einige ist er ein Held, der sich für die Menschenwürde aufopfert. Für andere ist Ralph Boes Deutschlands frechster Schnorrer. Mit einer Anti-Hartz-IV-Kampagne kandidiert der Langzeitarbeitslose jetzt für den Bundestag, Nazi-Vergleiche inklusive«, so ein Artikel mit der bezeichnenden Überschrift: „Hartz-IV-Schnösel“ will in den Bundestag. Es geht hier nicht um seine grundlegende Einstellung zu Hartz IV oder den Jobcentern, das sehen bekanntlich auch viele andere kritisch. Aber es geht darum, dass man sich mit solchen Positionen ins Aus manövriert:

»Über die Schriften der geistigen Väter der Agenda 2010 sagt er: „Wenn man das liest, ist der Vergleich zum Dritten Reich nicht weit.“ Schließlich habe auch Hitlers Regime klein angefangen. Jobcenter-Mitarbeitern unterstellt er ein „Eichmann-Syndrom“.«

Das ist unterstes Niveau und eine unglaubliche Entgleisung, die natürlich wieder zu einer entsprechenden Schließung auf der anderen Seite führen muss.

Insofern bleibt zu hoffen, dass es auf der einen Seite eine konstruktive Auseinandersetzung der Jobcenter und der BA mit den Positionen von Ingrid Hannemann geben wird, dies auch vor dem Hintergrund kritischer Anfragen an das Jobcenter-System von anderen, die sicher in vielen Punkten nicht die Auffassung von Frau Hannemann teilen. Es gibt ja auch innerhalb der Jobcenter zahlreiche kritische Stimmen, die versuchen, auf Fehlentwicklungen hinzuweisen (vgl. hierzu nur beispielsweise den Beitrag „Frust im Jobcenter. Kunden und Mitarbeiter unter Druck“ des Politikmagazins „Frontal 21“ (ZDF) vom 04.06.2013 oder für einen anderen Ansatz und mit Bezug auf Hamburg die Ergebnisse des Projekts „Einspruch“ des Diakonischen Werks, in deren Kontext beispielsweise die Studie „Respekt – Fehlanzeige? Erfahrungen von Leistungsberechtigten mit Jobcentern in Hamburg“ und ganz aktuell die Studie „Zwischen Vermessen und Ermessen“ erstellt und veröffentlicht wurden).
Wenn es sich bei den Jobcentern um die „letzten Außenposten des Sozialstaats“ handelt (vgl. hierzu: Sell, S. (2010): Vom „Herzstück“ der „Hartz-Reformen“ zur ewigen Dauerbaustelle? Schwierige Jobcenter in schwierigen Zeiten, Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 08-2010, Remagen, 2010), dann brauchen wir eine gesellschaftliche Auseinandersetzung über das, was in den Jobcentern passiert – mit den Betroffenen, aber auch mit den dort arbeitenden Menschen, die doch keine Maschinen sind, wenngleich sich das manche wünschen würden.

Frau Hannemann bleibt zu wünschen, dass sie auch in Zukunft vor ihrem grundsätzlichen Hintergrund primär fachlich zu argumentieren versucht, so wie sie das ganz aktuell mit ihrer Gegendarstellung zu der Pressemitteilung der BA gemacht hat, wo sie auf die einzelnen Punkte eingeht.

Es droht die Gefahr eines Effekts, der in dem wirklich lesenswerten Buch „Finks Krieg“ von Martin Walser beschrieben worden ist, wenn man sich in der Spirale der Eskalation verheddert. Das sollte man aufgrund der damit verbundenen Beschädigungen, wie aber auch aufgrund der daraus resultierenden Nicht-Veränderungen unbedingt vermeiden.

Und der BA möchte man zurufen. Die Welt ist deutlich bunter als diese Ideologie des „Wir hier gegen die da draußen“, die sich immer wieder Bahn bricht bei der großen Bundesagentur. Die Wagenburg-Zeit sollte doch schon längst vorbei sein. Oder etwa nicht?

Aufstockende Einzelhändler, Jobcenter im Osten, denen es reicht mit den schlimmsten Aufstocker-Fällen und Tarifverträge, die verschwunden sind

Die „Aufstocker“-Thematik wird in diesen Tagen wirklich in den unterschiedlichsten Medien bearbeitet. Unter der kompakten Überschrift „Staat zahlt jährlich 1,5 Milliarden Euro für Niedriglöhne im Handel“ berichtet Spiegel Online aus der Welt des gigantischen Kombilohnmodells Hartz IV. Der Befund von Yasmin El-Sharif klingt heftig: »Meist weiblich, immer häufiger unsicher beschäftigt und oft abhängig von staatlichen Zuschüssen – so sieht der typische Arbeitnehmer im Einzelhandel im Jahr 2013 aus.« Sie leitet das ab aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag. Aber die Daten sind schon gravierend: Demnach arbeitet jede dritte der 3,2 Millionen Beschäftigten im Einzelhandel zu Löhnen unter zehn Euro in der Stunde.
»Viele dieser Löhne müssen aufgestockt werden. Nach Angaben der Bundesregierung gibt der Staat jährlich rund 1,5 Milliarden Euro an ergänzendem Hartz IV für Aufstocker des gesamten Handels aus – drei Viertel der Bezieher arbeiten im Einzelhandel. So mussten im Juni vergangenen Jahres die Einkommen von rund 130.000 Beschäftigten des Einzelhandels auf ein existenzsicherndes Niveau aufgestockt werden.«

Neben der Tatsache, dass es mehr als diskussionswürdig ist, dass hier Niedriglöhne der Arbeitgeber mit Steuermitteln auf das Existenzminimum gemessen an Hartz IV hoch subventioniert werden müssen, steht der Einzelhandel aber auch gleichsam paradigmatisch für das Durcheinander und die fatalen Entwicklungen, die wir auf dem Arbeitsmarkt zunehmend beobachten müssen. Denn die Nachricht über die Aufstocker/innen im Einzelhandel muss in einem größeren Zusammenhang gesehen werden: Zum einen haben wir diese Entwicklungen im Einzelhandel erst mit zunehmender Dynamik seit dem Jahr 2000 – denn damals hatte die Bundesregierung auf Druck der Arbeitgeber di bis dahin vorhandene Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im Einzelhandel beseitigt und damit den Startschuss für einen Teil der Unternehmen gegeben, über Lohnkostensenkungen einen individuellen Kostenfaktor in dem hart umkämpften Einzelhandel realisieren zu können. Seitdem befindet sich die ganze Branche wie auf einer Rutschbahn nach unten und auch die Unternehmen, die sich (noch) an die Regeln halten (wollen), werden immer stärker von dem Sogeffekt erfasst, der durch den Wegfall der Bindung aller Unternehmen an das tarifvertragliche Niveau ausgelöst hat.

Damit nicht genug. Der Handelsverband HDE hat Anfang des Jahres den Manteltarif, der die Strukturen in der Branche mit mehr als drei Millionen Beschäftigten regelt, gekündigt und damit der Gewerkschaft im wahrsten Sinne des Wortes den Fehdehandschuh vor die Füße geworfen. Und die Situation für die Gewerkschaft ist keine einfache, denn »die Gewerkschaft steckt in der Zwickmühle: Sie hat zwar ein großes Interesse daran, dass die Tarifbindung erhalten bleibt, weniger Unternehmen aussteigen und die sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstellen bleiben, die immer häufiger durch Minijobs oder Werkverträge ersetzt werden. Ver.di müsste dafür Kompromisse eingehen. Zugleich aber fürchtet die Gewerkschaft Lohndumping durch die Hintertür und will eine Reform nach Arbeitgeberwünschen verhindern. Dumm nur: Die Gewerkschaft ist zunehmend geschwächt, weil Werkverträge, die Zahl befristeter und geringfügiger Jobs im Einzelhandel, bereits stark zugenommen haben. Entsprechend wenig Drohpotential für einen möglichen Streik hat Ver.di.« Das passt es denn auch zu den Hiobsbotschaften, wenn vermeldet wird: „Karstadt steigt aus Flächentarifvertrag aus„, um die tariflichen Lohnsteigerungen zu vermeiden.

Womit wir in einer generell bedenklichen, schon seit längerem an Schubkraft gewinnenden Entwicklungsphase angekommen wären: „Flächentarife verlieren an Bedeutung„: »Der Kampf um Löhne wird kleinteiliger. Weil immer mehr Firmen aus den branchenüblichen Tarifbindungen ausscheren, können sich immer weniger Arbeitnehmer auf einen landesweit geregelten Tarifvertrag berufen.« Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zieht sich jährlich ein Prozent der Betriebe aus den flächendeckenden Branchentarifbindungen zurück. »Seit 1996 ist laut der Untersuchung fast jeder fünfte Betrieb aus der Tarifordnung ausgeschert. Die Quote sank in den westlichen Landesteilen von 70 Prozent der Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben auf 53 Prozent im vergangenen Jahr. In Ostdeutschland waren es nur noch 36 Prozent.« Insofern ist Karstadt nur ein Mosaikstein in einer seit langem ablaufenden Entwicklung.

Aber wieder zurück zum Thema „Aufstocker“: Thomas Öchsner hat in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift „Jobcenter klagen gegen sittenwidrige Niedriglöhne“ berichtet, dass die Behörden in ganz Ostdeutschland gerichtlich gegen die Arbeitgeber vorgehen, bei den Niedrigstlöhne gezahlt werden, die dann zu Aufstockungsleistungen aus dem Grundsicherungssystem führen. Bereits im Jahr 2000 hatte das Jobcenter Stralsund hier ganze Vorarbeit geleistet, in dem man dort Arbeitgeber vor Gericht gebracht hatte, die sittenwidrig niedrige Löhne gezahlt haben. Wobei das mit der Sittenwidrigkeit gar nicht so einfach ist, wenn man sich die Rechtsprechung anschaut. Öchsner versucht dennoch eine kompakte Herleitung: »Ein Rechtsgeschäft ist nichtig, wenn es gegen die guten Sitten und „gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ verstößt. So steht es im Bürgerlichen Gesetzbuch, so sieht es der BGH. Was das für die Höhe von Löhnen bedeutet, hat das Bundesarbeitsgericht festgelegt. Danach ist eine Bezahlung sittenwidrig, wenn sie nicht einmal zwei Drittel eines in der betreffenden Branche und Region üblicherweise gezahlten Lohns erreicht.«

In Ostdeutschland verdienen viele Arbeitnehmer einen Lohn, der unter 8,50 Euro in der Stunde liegt. „Sittenwidrige Löhne“ liegen vor diesem Hintergrund in der Regel unter fünf Euro, meist noch deutlich darunter. Die Jobcenter prüfen vor allem dann, wenn sie Verdienstbescheinigungen mit einem Stundenlohn von weniger als drei Euro vorgelegt bekommen. Leider gibt es wieder einmal keine belastbaren Zahlen über das Volumen „sittenwidriger Löhne“, dies sicher auch deshalb, weil man jeden Einzelfall für sich betrachten und bewerten muss und weil überhaupt initiativ geprüft werden muss, was nicht selbstverständlich ist. Öchsner zitiert in seinem Artikel den Geschäftsführer des Jobcenters Neubrandenburg, Andreas Wegner: »Er hält sittenwidrige Löhne nicht für ein „flächendeckendes Phänomen“. Es handele sich um Einzelfälle, häufig bei Teilzeitbeschäftigten und Minijobbern, die allerdings „nicht hinnehmbar“ seien. Häufig seien eher unbedarfte Arbeitgeber betroffen, die selbst ums Überleben kämpften … Hört man sich in den Geschäftsleitungen von Jobcentern um, ist auch von Schwarzarbeit die Rede. Nicht selten gebe es Arbeitsverträge nur der Form halber. In der Realität bekämen Mitarbeiter dann mehr bar auf die Hand.«

Übrigens – viele der in diesen Tagen immer wieder genannten Zahlen zu den „Aufstockern“ finden sich in Artikeln, die auf der Website „O-Ton Arbeitsmarkt“ veröffentlicht worden sind. Eine informative Quelle. Die sind auch auf Twitter und bei Facebook zu finden.