Ein Teil der weltweiten Flüchtlingswelle strandet auch in Deutschland. Hier suchen Kommunen nach Schlafplätzen, die Regierung plant mal wieder eine Begrenzung des Asylrechts und da war doch noch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Im vergangenen Jahr wurde eine weitere markante Marke geknackt – fast 110.000 Menschen haben einen Erstantrag auf Asyl in Deutschland gestellt. Nach einem kontinuierlichen Rückgang der Asylbwerberzahlen seit Mitte der 1990er Jahre verzeichnen wir seit 2008 wieder stark steigende Zahlen bei den Erst- wie Folgeanträgen im Asylbereich. Und im laufenden Jahr beschleunigt sich diese Entwicklung: In den ersten fünf Monaten des Jahres 2014 wurden 54.956 Erstanträge vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entgegen genommen. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 34.419 Erstanträge; dies bedeutet einen Zuwachs um 59,7 % (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Aktuelle Zahlen zu Asyl, Ausgabe: Mai 2014, S. 3). Diese Entwicklung löst einerseits ganz praktische Probleme vor Ort aus, beispielsweise hinsichtlich der Unterbringung der zu uns kommenden Menschen. Viele Kommunen kämpfen hier mit fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten. Zum anderen aber sehen wir reflexhafte Reaktionen der Bundesebene, die am Asylrecht herumfummeln will, um einen Deckel auf den Topf zu bekommen, dabei aber zugleich eine – eigentlich mal wieder recht eindeutige – Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 umsetzen muss.

Die Zahlen zur Entwicklung der Asylanträge müssen eingebettet werden in einen globalen Zusammenhang, den die UNO-Flüchtlingshilfe mit Blick auf das zurückliegende Jahr 2013 so beschreibt: »Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es auf der Welt über 50 Millionen Flüchtlinge, Asylsuchende und Binnenvertriebene. Ein Grund hierfür ist der Krieg in Syrien, der innerhalb kürzester Zeit 2,5 Millionen Menschen zur Flucht in die Nachbarstaaten zwang und 6,5 Millionen Menschen im Land selbst vertrieben hat. Ein weiterer Grund sind die gewaltsamen Konflikte in Afrika, in der Zentralafrikanischen Republik, dem Kongo und Südsudan, die kein Ende nehmen wollen.« Besonders betroffen von dieser gewaltigen Flüchtlingswelle sind nicht die reichen Industriestaaten, sondern die armen Länder der Welt, denn: 9 von 10 Flüchtlingen (86%) leben in Entwicklungsländern. Viele Flüchtlinge sind also für das hier relevante Thema – Asylbewerber in Deutschland – gar nicht relevant. Dazu die UNO-Flüchtlingshilfe:

»Die Gruppe der Flüchtenden teilt sich in drei Gruppen. so wurden insgesamt 16,7 Millionen Flüchtlinge gezählt, die höchste Zahl seit 2011. Gleichzeitig waren 33,3 Millionen Menschen innerhalb ihre Landes auf der Flucht und 1,1 Millionen Menschen stellten einen Asylantrag – die Mehrzahl von ihnen in Industriestaaten.«

Man kann es drehen und wenden, wie man will – die Zunahme der Zahl an Menschen, die in Deutschland Aufnahme suchen, auch wenn die Erfolgsquoten im Asylbereich äußerst niedrig sind, ist ein gesellschaftspolitisch überaus heikles Thema. Man spürt förmlich die Angst der politischen Entscheidungsträger, dass ihnen die Entwicklung aus dem Ruder läuft und innergesellschaftliche Konflikte produziert werden. Man muss in diesem Kontext auch sehen, dass Deutschland parallel zu den Asylbewerbern mit einer stark ansteigenden Zuwanderung beispielsweise aus den Armenhäusern der Europäischen Union konfrontiert ist. Auch für das laufende Jahr wird eine Netto-Zuwanderung von über 400.000 Menschen erwartet. Der gesamtgesellschaftliche Blick auf diese Zuwanderung ist das eine, das andere ist die Realität, dass diese Menschen nicht gleichverteilt sind über die Bundesrepublik, sondern dass sie gerade in den Großstädten und dort, wo es aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung gleichzeitig auch viele lebenspraktische Folgeprobleme gibt, wie beispielsweise eine zunehmende Wohnungsnot, aufschlagen. Wenn dann noch aufgrund der Verteilungsschlüssel deutlich mehr Asylbewerber zugewiesen werden, dann bildet sich hier und da immer stärker das Gefühl heraus, dass man überfordert ist bzw. wird. Man schaue sich nur beispielhaft die Konflikte in einigen Städten an, aktuell die Auseinandersetzungen um die Räumung der von Flüchtlingen besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg. Parallel dazu die zunehmenden Schwierigkeiten vieler Städte, genügend Unterbringungsmöglichkeiten zu finden: »Hamburgs SPD-Sozialsenator Detlef Scheele warnt vor dramatischen Zuständen bei der Unterbringung von Flüchtlingen: „Wir haben keine freien Plätze“, so der Sozialsenator ) in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

Vor diesem Hintergrund ist es dann nicht überraschend, dass man auf der bundespolitischen Ebene versucht, durch Eingriffe in das Asylrecht wenigstens auf einen Teil des Topfes einen Deckel aufzusetzen. Das Ergebnis dieser Reaktionsweise lässt sich dann mit solchen Schlagzeilen beschreiben: Schwarz-rote Bundesregierung will Asylrecht verschärfen: »Die Große Koalition plant eine Verschärfung des Asylrechts. Hintergrund sind die wieder deutlich steigenden Zahlen von Asylanträgen in Deutschland. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) rechnet für dieses Jahr mit bis zu 200.000 Asylanträgen – im vorigen Jahr waren es noch rund 127.000.« Auf die Verschärfung des Asylrechts haben sich die Partei- und Fraktionschefs geeinigt, so der Bericht. Was heißt das konkret? Es geht um eine bestimmte Gruppe unter den Asylsuchenden, etwa 20% der Fälle, deren Anträge aber zu 99% nicht anerkannt werden: Es geht um Menschen aus Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien. Hier will die Bundesregierung tätig werden – und zwar so:

»Alle drei sollen nach einem Gesetzentwurf als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden. Folge: Schnellere Verfahren, kürzerer Aufenthalt, weniger Kosten für Sozialleistungen und eine Umkehr der Beweislast. Der Staat nimmt an, dass der Antrag unbegründet ist – der Asylbewerber muss das Gegenteil beweisen. Vorbild sind Frankreich, Belgien und Großbritannien.«

Allerdings kann die Große Koalition die Asylrechtsverschärfung nicht aus eigener Kraft durchsetzen, denn sie ist über den Bundesrat auf die Hilfe der Grünen angewiesen, denn die können das über die Länder, in denen sie (mit)regieren, verhindern.  Und schon sind wir mitten auf dem föderalen Basar: Die Bundesregierung will den Städten mehr Geld in Aussicht stellen, denn die Flüchtlingsproblematik ist in einigen Großstädten ganz besonders extrem ausgeprägt. Gegenüber den Bundesländern wird zugleich der besonders SPD und Grünen wichtige Doppelpass von der Union derzeit blockiert, um das als Faustpfand für die anstehenden Verhandlungen zu nutzen. Die Regelung über den Doppelpass soll nur verabschiedet werden, wenn gesichert ist, dass auch die Regelung mit den „sicheren Herkunftsstaaten“ kommt, was in rot-grünen Bundesländern als Erpressungsversuch gewertet wird.

Aber da ist noch eine andere große Baustelle für die Bundesregierung: Das Asylbewerberleistungsgesetz muss nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 geändert werden. Das BVerfG verkündete damals kurz und bündig: Regelungen zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig. Es ging um die Frage, ob die Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) verfassungsgemäß seien. Die Antwort aus Karlsruhe war eindeutig: Nein.

»Die Höhe dieser Geldleistungen ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 trotz erheblicher Preissteigerungen in Deutschland nicht verändert worden ist. Zudem ist die Höhe der Geldleistungen weder nachvollziehbar berechnet worden noch ist eine realitätsgerechte, am Bedarf orientierte und insofern aktuell existenzsichernde Berechnung ersichtlich. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, unverzüglich für den Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes eine Neuregelung zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums zu treffen.«

Die Deutlichkeit des Richterspruchs kann man auch daran erkennen: Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung wurde  »angesichts der existenzsichernden Bedeutung der Grundleistungen« eine Übergangslösung dergestalt verfügt, dass ab dem 01.01.2011 ab dem 1. Januar 2011 die Höhe der Geldleistungen nach den Maßgaben des SGB II und XII zu berechnen sei – rückwirkend für nicht bestandskräftig festgesetzte Leistungen ab 2011 und für die anderen ab der Urteilsverkündung im Jahr 2012.

Also: Das BVerfG hatte im Juli 2012 das Asylbewerberleistungsgesetz  in entscheidenden Teilen für grundrechtswidrig erklärt und eine sofortige Erhöhung der Leistungen verlangt. Seither bekommen Asylbewerber mehr Geld, eine gesetzliche Regelung legt die Bundesregierung aber erst jetzt vor – bzw. einen Gesetzentwurf.

Unter der Überschrift »Regierungspläne „inhuman“. Wohlfahrtsverband kritisiert Leistungsgesetz für Asylbewerber« wird in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung am 21.06.2014 über die Inhalte des – noch nicht abgestimmten – Referentenentwurfs aus dem Bundesarbeitsministerium berichtet:

»Danach sollen erwachsene, alleinstehende Asylbewerber künftig 352 Euro im Monat erhalten und Verheiratete je 316 Euro. Die Bundesregierung hält jedoch daran fest, dass Flüchtlingen der größere Teil dieses Betrags grundsätzlich in Form von Sachleistungen zukommt. Allerdings soll Asylbewerbern künftig ein weit höherer Bargeld-Anteil als bisher zustehen. So sollen Alleinstehende 140 Euro in bar erhalten. Die meisten Flüchtlinge bekommen jedoch ohnehin mehr Geld in die Hände, weil die Mehrheit der Bundesländer bei der Versorgung von Asylbewerbern vor allem auf Geld- statt auf Sachleistungen setzt.
Zudem müssen Asylbewerber künftig nur noch zwölf Monate statt wie bisher vier Jahre mit den verringerten Leistungen auskommen. Sollte ihr Verfahren länger dauern, werden sie danach nach den üblichen Hartz-IV-Regeln versorgt. Auch diese Änderung folgt Vorgaben aus Karlsruhe: Die Verfassungsrichter hatten Minderleistungen nur für kurzfristige, nicht auf Dauer angelegte Aufenthalte erlaubt.«

Die allgemeine Bewertung des vorliegenden Gesetzentwurfs fällt kritisch-distanziert aus, beispielsweise in dem Kommentar „Sachleistungen statt Selbständigkeit“ von Jan Bielicki, ebenfalls in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 21.06.2014, der sich auf die Umsetzungspflicht des BVerfG-Urteils aus dem Jahr 2012 bezieht:

»Der jetzt vorgelegte Gesetzesentwurf setzt dieses Urteil artig um – viel mehr aber tut er nicht. Weiter hält er etwa an dem Prinzip fest, Asylbewerber vor allem mit Sachleistungen zu versorgen, statt ihnen Geld zu geben – und das, obwohl die Bundesländer, darunter sogar Bayern, von diesem entmündigenden Verfahren mehr und mehr abrücken. Die Chance, nach dem Karlsruher Urteil den Umgang mit Flüchtlingen grundsätzlich neu zu ordnen, hat die Bundesregierung nicht ergriffen.«

Noch weitaus schärfer hat sich der Paritätische Wohlfahrtsverband zu Wort gemeldet: Paritätischer kritisiert Regierungspläne als inhuman und verfassungswidrig – so ist deren Pressemitteilung überschrieben.  Der Paritätische kritisiert dabei »die auf Nothilfe und Akutversorgung beschränkte medizinische Versorgung von Flüchtlingen in Deutschland. Der jetzt bekannt gewordene Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums zur Neuregelung des Asylbewerberleistungsgesetzes klammere den Bereich der medizinischen Versorgung komplett aus.« Rolf Rosenbrock vom Paritätischen wird mit diesen Worten zitiert: „Insbesondere eine angemessene medizinische Versorgung Traumatisierter oder chronisch Kranker ist nicht gewährleistet“. Der Wohlfahrtsverband fordert die ersatzlose Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und damit die Gleichbehandlung von Asylbewerbern mit Hartz IV- und Sozialhilfebeziehern.

Das nun wiederum werden viele Politiker angesichts der schon genau absehbaren Schlagzeilen z.B. in der BILD-Zeitung mit Sicherheit zu vermeiden wissen.

Lampedusa als Menetekel: Ein Meer wie ein Monster, die Qual eines unauflösbar daherkommenden Dilemmas und der Blick zurück, als die Europäer Afrikaner waren

Es ist unangenehm, verstörend, es lässt einen verzweifeln und man verspürt den Impuls, das Thema auszublenden, zu verdrängen, die eigene Ohnmacht mit Nicht-Hinschauen zu bestrafen. Die Rede ist von den Namenlosen, die sich aufmachen – oder es versuchen (werden) -, die Festung Europa zu erreichen. Die ihr Leben riskieren. Eine unzählbare Masse an einzelnen Menschen, mit ihren eigenen Geschichten, Hoffnungen und Enttäuschungen, die verdichtet werden zu Zahlen oder einer einzigen Zahl, die angesichts ihrer scheinbaren Objektivität nicht nur eine Distanz(ierung) zu den einzelnen Menschen ermöglicht, sondern die bei vielen zugleich auch eine Abwehrhaltung produziert, ein (un)bestimmtes Gefühl, das „Boot ist voll“, womit aber nicht die Seelenverkäufer auf dem Mittelmeer gemeint sind, sondern „unser“ Territorium, unsere Insel, auf die die Schiffbrüchigen zu kommen versuchen. Dabei wird zu oft vergessen, dass sich Geschichte mit anderen Vorzeichen eben doch wiederholt – und zuweilen tun wir gut daran, uns der eigenen Historie zu erinnern. Doch zuvor ein Blick an den aktuellen Rand des tausendfachen Dramas, das sich in und um „unsere“ europäische Badewanne namens Mittelmeer abspielt.

»Zwischen Januar und April hat die EU-Grenzschutzbehörde Frontex an den Außengrenzen der Union 42.000 illegale Migranten aufgegriffen –  fast viermal so viele wie im gleichen Vorjahreszeitraum. Die meisten von ihnen kamen unter Lebensgefahr über das Mittelmeer«, so die nüchtern daherkommende Meldung EU rechnet mit Rekordzahl von Flüchtlingen in der Online-Ausgabe der Berliner Zeitung. Peter Riesbeck zitiert in seinem Artikel den Frontex-Vize-Chef Gil Arias-Fernández mit den Worten: „Wir gehen davon aus, dass im Sommer sehr hohe Zahlen erreicht werden“. Früher seien die meisten illegalen Zuwanderer als Wirtschaftsflüchtlinge gekommen, so Arias-Fernández, jetzt treibe sie auch Furcht um ihr Leben – in Syrien, Libyen oder im inneren Afrikas. Und die „Chancen“ für die Verzweifelten stehen gut, denn die Sicherheitslage in Libyen habe sich „verschlechtert“ – man könnte an dieser Stelle auch drastischer formulieren, Libyen entwickelt sich zu einem „failed state“. Vor allem der EU-Außenposten Italien steht unter massiven Druck: Dort wurden vor der Küste laut Frontex in den ersten vier Monaten des Jahres rund 25.000 illegale Flüchtlinge aufgegriffen. In diesem Zusammenhang taucht dann immer wieder ein Name auf, der sich von seiner Bindung an eine real existierende Insel zu lösen beginnt und zu einer Art Menetekel transformiert: Lampedusa.

Hier nur ein gleichsam molekularer Ausschnitt aus der Berichterstattung des Schreckens: Dutzende Flüchtlinge ertrunken, wird am 12.05 gemeldet: »Vor der italienischen Insel Lampedusa ist ein Boot mit Hunderten Flüchtlingen gesunken, mindestens 14 Menschen sind ertrunken. Bereits am Vortag waren vor der Küste Libyens 40 Flüchtige auf dem Weg nach Europa gestorben. Die Zahlen der Opfer steigen möglicherweise weiter.« Andere haben „Glück“: »Im März hatte die italienische Marine in nur vier Tagen mehr als 4000 Menschen gerettet, die in überfüllten und oft kaum seetüchtigen Booten versucht hatten, nach Sizilien zu kommen« (vgl. dazu Marine greift 4000 Flüchtlinge vor Lampedusa auf). Anfang April wurde gemeldet: »Innerhalb weniger Stunden greift die italienische Marine mehrere Schiffe mit insgesamt 1049 Menschen auf – darunter 88 Kinder und drei Neugeborene« (vgl. Italiens Marine rettet mehr als 1000 Flüchtlinge). Und und und – man könnte das Mosaik von Horror-Meldungen scheinbar unbegrenzt erweitert.

Genau an dieser Stelle scheiden sich die Geister. Was tun angesichts von – angeblich, nach Angaben der italienischen Regierung – etwa 600.000 Afrikanern, die in Libyen darauf warten, einen der elenden Seelenverkäufer besteigen zu können, um das an und für sich nahe, zugleich aber so unendlich ferne Europa zu erreichen? Vor dem Hintergrund der erschütternden Zahlen gibt es die einen, für die stellvertretend hier die Grünen-Abgeordnete Ska Keller aus dem Europäischen Parlament zitiert werden soll. Sie fordert, die EU-Kommission müsse eine Kehrtwende in der europäischen Flüchtlingspolitik einleiten: „Wir brauchen eine Kommission, die legale und sichere Zugangsmöglichkeiten für Flüchtlinge schafft, statt nur immer weiter die Grenzen dicht zu machen“, so kann man ihre Position aus dem Artikel von Peter Riesbeck entnehmen. Als eine „mittlere“ Position kann man die hier verstehen: Die FDP-Europaabgeordnete Nadja Hirsch verlangt: „Menschen aus Kriegsgebieten müssen über Kontingente sicher in die EU gebracht werden und Asylanträge auch in Nordafrika stellen können, damit die gefährliche Flucht nicht mehr notwendig ist.“ Wenn man diesen Ansatz konsequent zu Ende denkt, dann landet man bei der Position der Hardcore-Vertreter, die das Problem mit den Flüchtlingswellen, die über das Mittelmeer kommen, in Form eines Outsourcing in die nordafrikanischen Staaten zu lösen gedenken. Konsequent wäre in diesem Kontext eine Assoziierung der nordafrikanischen Staaten mit der EU, so dass man über diese Struktur direkt in die Gestaltung des Flüchtlings-Vorhofs der Europäischen Union eingreifen könnte. „Natürlich“ würde man eine Assoziierung der Maghreb-Staaten nicht so offen und direkt mit der Regulierung der Flüchtlingsfrage begründen.

Stefan Ulrich hat in seinem Kommentar Ein Meer wie ein Monster das angerissene Dilemma aufgegriffen und bringt es auf den Punkt:

»Zwei radikale Konzepte werden angeboten: Festung oder freie Fahrt. Die Festungsbauer sagen, Europa könne nicht alle Not der Welt lindern und unbegrenzt Menschen aufnehmen. Andernfalls krachten die Sozialsysteme zusammen und die verschreckten Bürger wendeten sich extremistischen Parteien zu. Europa müsse höhere Mauern bauen, um sich vor Überforderung zu schützen. Nur: Das alles hat Europa schon versucht. Ein Ergebnis sind die Ertrunkenen von Lampedusa … Deswegen argumentieren die Anhänger der freien Fahrt, die EU müsse sichere Routen für alle nach Europa schaffen, damit Flüchtlinge nicht Menschenhändlern, korrupten Beamten in Chaosstaaten und den Launen des Meeres ausgeliefert sind. Das klingt sympathisch und human.
Doch wie viele Afrikaner, Araber und Zentralasiaten würden sich wohl ermuntert fühlen, nach Europa aufzubrechen, wenn sie wüssten, dass ihnen sichere Reisewege von der EU garantiert oder sogar Fähren bereitgestellt werden. Millionen? Abermillionen? Niemand kann das voraussagen … Die Gefahr ist jedoch groß, dass das Modell freie Fahrt die Verwerfungen schafft, vor der die Festungsbauer warnen.«

Auch Stefan Ulrich kann keinen überzeugenden Weg aufzeigen, dessen Beschreiten uns helfen kann, aus diesem Dilemma auszubrechen. Er formuliert aber einen Gedanken, der überleitet zu einem interessanten und wichtigen Aspekt, der bislang selten oder gar nicht in Erinnerung gerufen wird:

»Sie sollten sich an Zeiten erinnern, in denen Millionen von ihnen – Deutsche, Italiener und Iren etwa – vor Hunger und Unterdrückung in andere Länder flohen. Sie erwarteten und erhielten dort oft eine menschenwürdige Aufnahme. Genau das müssen die Europäer nun auch jenen Menschen gewähren, die auf taumelnden Booten ihren Küsten entgegenfiebern. Die Lasten, die das mit sich bringt, müssen dabei künftig gerechter unter allen EU-Staaten verteilt werden, nach Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft.«

Der von Ulrich angedeutete historische Aspekt der europäischen Migrationsgeschichte wird in dem lesenswerten Beitrag „Seelenverkäufer“ von Ronen Steinke in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 17.05.2014 (Print-Ausgabe) aufgegriffen und entfaltet. Er beginnt seinen Beitrag nicht umsonst mit einem Hinweis auf eine neue Fernsehserie in Kenia mit dem Namen „Usoni“. Über die wurde auch schon an anderer Stelle kurz berichtet:

Wie wäre es, wenn arme Europäer in Afrika Zuflucht suchten oder: Warum nicht mal die Rollen tauschen? Diese Fragen, so Frank Drieschner in seinem Artikel Weiß wird schwarz, sind das Fundament, auf dem „Usoni“ gebaut ist: »Im Jahr 2062 ist Europa eine ökologische Ruine. „Hier gibt es nichts mehr für uns“, sagt der weißhäutige Held Ulysse zu seiner schwangeren Freundin Ophelia. „Afrika ist der einzige Ort, an den wir fliehen können, um etwas aufzubauen.“ Und so machen sich Ulysse und Ophelia auf den Weg: Sie begeben sich in die Hände von Menschenhändlern, sie besteigen in Lampedusa einen löchrigen Seelenverkäufer, sie schlagen sich mit Grenzschützern und Einwanderungsbehörden, mit komplizierten Visa-Regelungen und unverständlichen Vorschriften des afrikanischen Aufenthaltsrechts herum.« Kenianische TV-Serie hält Europa den Spiegel vor, so die zutreffende Einordnung im österreichischen Standard.

Steinke greift das zum Einstieg in sein Thema auf, weil auch hier wieder Lampedusa eine Rolle spielt (nur in umgekehrter Richtung). Und die umgekehrte Perspektive zur heutigen Situation ist das, was ihn interessiert und worüber er in seinem Artikel berichtet. Denn früher waren es die Europäer selbst die Zuflucht suchten – und sie kamen oftmals in Lumpen in ferne Länder. Zugespitzt formuliert: viele Europäer waren früher die Afrikaner von heute. Er illustriert das anhand einiger Beispiele.
Am Anfang auch dieses Blog-Beitrags ging es um furchteinflößende Zahlen, was die Flüchtlingswelle, die aktuell an den Außengrenzen der Europäischen Union ankommt, betrifft. In diesem Kontext ist das folgende Zitat aus dem Artikel von Steinke besonders relevant:

»Der Flüchtlingsstrom, der einst aus Europa kam, bestand aus durchschnittlich einer halben Million Menschen – pro Jahr. Und dies ein ganzes Jahrhundert lang, zwischen 1824 und 1924. Insgesamt waren es 52 Millionen Europäer, die in diesem Zeitraum ihre Heimat verließen. Allein aus Deutschland kamen 1882 eine Viertelmillion Migranten. Im Vergleich dazu gibt es auf dem Mittelmeer heute fast ruhig zu.«

Was für (mögliche) Analogien kann man bei einem Blick auf diesen Teil der weltweiten Migrationsgeschichte entdecken. Steinke zitiert die Inschrift auf einer Bronzetafel auf dem Sockel der Freiheitsstatue im Hafen von New York: „Give me your tired, your poor/Your huddled masses yearning to breathe free“. Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure kauernden Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen. Die Zeilen stammen von Emma Lazarus, selbst Tochter von jüdischen Einwanderern. Und auch hier wieder lassen sich interessante Parallelen zur heutigen Situation herstellen: Denn gemeint waren unter anderen die Iren, die im 19. Jahrhundert vor der Kartoffelfäule flohen, die eine Million Menschen auf der Insel hatte verhungern lassen – vier Mal so viele wie bei der Hungersnot 2011 in Somalia –, oder jene Deutschen, die schon im 19. Jahrhundert und erst recht zu Beginn des 20., auf der falschen Seite der Gesellschaft lebten und die vor bitterer Armut und Perspektivlosigkeit in ihrem Heimatland dieses verlassen haben. Aber auch eine aus heutiger Sicht zynische Ironie kann man an dieser Stelle entdecken: Das Lampedusa der europäischen und damit auch der deutschen Auswanderer hieß Ellis Islands Allerdings mit einem großen Unterschied zu heute, denn „Wirtschaftsflüchtlinge“ waren damals willkommen – geht mir eure „huddled masses“, also genau die, vor denen man sich heute fürchtet und die mit dem Brandzeichen einer nicht gerechtfertigten Migration versehen werden.

In der heutigen Diskussion taucht immer wieder ein Argument auf, um die negativen Seiten der Zuwanderung beim Namen zu nennen: die Schleuser, die als „Menschenhändler“ etikettiert und reduziert werden auf die Tatsache, dass sie mit dem menschlichen Leid und dem Versuch, diesen zu entfliehen, viel Geld machen.  Dazu Steinke:

»Aber seine größte Blüte erreichte das Gewerbe der Schleuser im Europa des 19. Jahrhunderts, schon allein deshalb, weil die Zahl der potentiellen Kunden damals bedeutend größer war als heute. „Auswanderungsagenten“ nannten sich die Männer, die tolle Geschichten erzählten über das angeblich süße Leben in Amerika, und die gegen Geldsummen in der Höhe ganzer Jahreseinkommen eine Atlantiküberquerung organisierten. Von der Unternehmer bekam sie oft auch noch eine Provision pro geworbenen Passagier, was sie manchmal zu windigen Lockmethoden und falschen Versprechungen angespornte und ihm den Beinamen „Seelenverkäufer“ eintrug.«

Damals wurden die Schleuser – so wie heute auch – von Politkern als Kriminelle bezeichnet und des Menschenhandels bezichtigt. Zumindest aber die heutige geschichtswissenschaftliche Sicht auf das, was vor 150 Jahren stattfand, arbeitet mit einer anderen Charakterisierung. Herausgestellt wird die ökonomische Tatsache, dass die steigende Nachfrage nach Beratern und Institutionen verlangte, die eine Auswanderung organisieren und die Auswanderungswilligen beraten konnten. Auch wenn manche illegal gearbeitet haben – sie haben weitestgehend die massenhafte Auswanderung damals reibungslos, heute würde man wohl sagen: effizient, organisiert.

Das Gemisch, das damals zu der massenhaften Auswanderung geführt hat, also Armut und politische Spannungen, bestand aus den gleichen Zutaten, die heute in Afrika Flüchtlingsströme auslösen. Wichtig ist die Feststellung von Steinke: Die heutigen Flüchtlingsströme aus Afrika sind Rinnsale im Vergleich zu jenen aus dem alten Europa. Aber der Unterschied zwischen damals und heute ist nicht nur die quantitative Dimension, sondern mittlerweile sind Deutschland und auch andere Länder in der Festung Europa zu einem Sehnsuchtsort für Ärmere geworden. Und außerdem – während damals viele „Wirtschaftsflüchtlinge“ Aufnahme haben finden können, sind ihre heutigen Nachfahren mit einem Europa konfrontiert, das sich gegen sie mit großem Aufwand abschottet. Auch wenn es nichts an akuten Problemen löst – die Menschen, die heute auf der Sonnenseite des Lebens leben können, sollten durchaus etwas demütiger sein, wenn sie sich der europäischen Armutswanderung erinnern würden.

Die Festung Europa wächst und gedeiht im Windschatten der Unaufmerksamkeit: Von der faktischen Legalisierung des völkerrechtswidrigen „Refoulement“ bis hin zu messerscharfen Draht gegen die, die es am Boden versuchen

Es ist immer wieder das gleiche Elend: Wenn Flüchtlinge im Mare Nostrum elendig ersaufen, dann richten sich für einen Moment die Scheinwerfer der medialen Aufmerksamkeit auf die Vorgänge im Mittelmeer, um nach kurzer Zeit dann wieder das Handy der Bundeskanzlerin oder andere mehr oder weniger gewichtige Themen auszuleuchten. Immerhin hat zwischenzeitlich der Name Lampedusa eine traurige Berühmtheit erlangt und mit temporären Schaudern ertappen sich viele Menschen dabei, auf der einen Seite irgendwie ein schlechtes Gewissen haben zu müssen angesichts des Elends der Flüchtlingswellen, die an die – andererseits für viele mit so schönen Urlaubserinnerungen verbundenen – Mittelmeerstrände zu gelangen versuchen und das oftmals mit ihrem Leben zahlen. Auf der anderen Seite gibt es da dieses Gefühl, Angst haben zu müssen vor „unkontrollierbaren“ Flüchtlingsströmen aus den Tiefen Afrikas, denen unsere Gesellschaften nicht Herr werden könnte und die zu einer Überforderung und einer entsprechenden Radikalisierung vieler Menschen führen würde. Und ist es nicht auch so: Die Aufnahmefähigkeit Europas ist nun mal begrenzt? Sicher haben wir es hier mit einem letztendlich nicht auflösbaren Dilemma zu tun, aber das Pendel derjenigen, die in Europa Verantwortung tragen, hat sich längst in eine Richtung bewegt: Abschottung, Abwehr, Vermeidung weiterer Zuwanderung wo und wie es nur geht.

mehr

Eine gefährliche Gemengelage: Über Berlin-Hellersdorf und darüber hinaus. Zur Entwicklung der Asylbewerberzahlen und der damit verbundenen Herausforderungen

Bei vielen Menschen werden die aktuellen Ereignisse rund um ein Flüchtlingsheim im Berliner Stadtteil Hellersdorf schlimme Erinnerungen an das Jahr 1992 auslösen, als eine Welle fremdenfeindlicher Übergriffe Deutschland in Atem hielt. Die damaligen tagelangen Ausschreitungen in Rostock-Lichterhagen gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter im sogenannten „Sonnenblumenhaus“ habe viele ältere Semestern noch schmerzhaft vor Augen. Sowohl die Asyldebatte als auch die Zahl gewaltsamer Übergriffe auf Asylbewerber und andere Einwanderer erreichten 1991/92 ihren Höhepunkt – und im Jahr 1993 wurde dann auf der Bundesebene sogar das Grundgesetz einschneidend hinsichtlich des Grundrechts auf Asyl von einer großen Koalition der Parteien geändert.

Nun also wieder das gleiche Spiel? Die Herausforderungen, vor denen sich die Stadt Berlin gestellt sieht, sind nicht singulär, sondern hier manifestiert sich eine Entwicklung, die derzeit viele Kommunen in Deutschland erleben und vor allem organisieren müssen: Einen doppelten Anstieg der Flüchtlings- und Zuwandererzahlen, zum einen aus Ländern der Europäischen Union (man denke hier an die Debatte über die Zuwanderung aus den Armenhäusern der EU, also Rumänien und Bulgarien), aber auch eine deutliche Zunahme der Asylbewerber aus anderen Ländern.

Zuerst ein Blick auf die Berliner Situation: »Hunderte neu eintreffende Flüchtlinge muss Berlin derzeit unterbringen. Mit 5.000 Neuankömmlingen rechnet die Stadt in diesem Jahr, so viele wie lange nicht. Weil alle Asylheime belegt sind, eröffneten zuletzt Notunterkünfte. Am Montag auch in Hellersdorf, im Osten der Stadt, in einem Plattenbaugebiet. Weil der Bezirk bisher wenige Flüchtlinge aufnahm und weil er leerstehende Gebäude hat. So wie das frühere Max-Reinhardt-Gymnasium, auch ein Plattenbau. Nun soll er zur Schutzstätte für Geflohene werden«, so Konrad Litschko in seinem Artikel „Flucht ins Feindesland„. Seit Wochen macht eine „Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf“ Stimmung gegen die Unterkunft, klagt gegen die Unterbringung. Die Gruppe tritt anonym auf, der Verfassungsschutz sieht sie von Rechtsextremisten beeinflusst. Auf Facebook sind die mit einer eigenen Seite präsent – selbstverständlich ist auch die „Gegenseite“ aktiv, mit der Facebook-Seite „Hellersdorf hilft Asylbewerbern„. Die Proteste gegen das Flüchtlingsheim ziehen gerade in Berlin natürlich linke und linksradikale Kräfte an, so dass es zu konflikthaften Auseinandersetzungen gekommen ist und weitere derzeit erwartbar sind – die Überschrift des Artikels „Eingekesselt zwischen Fremdenhass und Begrüßungsplakaten“ bringt die Berliner Mischung zutreffend zum Ausdruck. Das geht sogar so weit, dass Monika Lüke (SPD), die Integrationsbeauftragte des Landes Berlin, ein Demonstrationsverbot vor dem Flüchtlingsheim fordert (vgl. hierzu das Interview mit ihr im Deutschlandfunk: „Asylbewerber unter Polizeischutz„).
Hintergrund des aktuellen Problems ist neben allen ideologisch motivierten Instrumentalisierungen des Themas auch ein grundsätzliches Dilemma: Wohnraum zu finden in einer Stadt, in der Wohnraum an sich, vor allem aber billiger Wohnraum, knapp und zunehmend umkämpft ist – zu den ganz praktischen Problemen, die damit verbunden sind, sei hier der Artikel über Stephan Djacenko empfohlen, der bei der Unterbringungsleitstelle in Berlin arbeitet und dessen Job es ist, Wohnrauzm für Flüchtlinge zu suchen – eine gleichsam herkulische Aufgabe: „Niemand will Flüchtlinge im Bezirk haben„.

Verlassen wir nun in einem zweiten Schritt die Berliner Bühne im engeren Sinne und machen das Bild weiter auf. Seit einiger Zeit wird in den Medien immer stärker über eine erhebliche Zunahme der Asylbewerberzahlen berichtet und diskutiert. Deshalb ein Blick auf die Daten, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) veröffentlicht.

Schaut man sich die lange Zeitreihe des BAMF zu den jährlichen Asylantragszahlen genau an, dann erkennt man den enormen Rückgang seit Mitte der 1990er Jahre – bis zum Jahr 2008, als nur noch 28.000 Asylanträge in Deutschland insgesamt gezählt wurden. Seitdem geht es aber wieder aufwärts. Im vergangenen Jahr waren es wieder über 77.000 Anträge. Und die Entwicklung im laufenden Jahr 2013 zeigt eine weitere erhebliche Zunahme. So berichtet das BAMF: »Im bisherigen Berichtsjahr 2013 nahm das Bundesamt 52.754 Asylerstanträge entgegen. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 27.760 Erstanträge, was einen Zuwachs von 90 Prozent bedeutet. Auch die Zahl der Folgeanträge stieg im bisherigen Jahr 2013 gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum um 24,3 Prozent auf 7.084 Folgeanträge. Damit gingen im Jahr 2013 insgesamt 59.838 Asylanträge beim Bundesamt ein.« Auch hinsichtlich der „Erfolgsquote“ der gestellten Asylanträge gibt es Daten: »Die Gesamtschutzquote für alle Herkunftsländer für das bisherige Jahr 2013 liegt bei 30,2 Prozent (11.772 positive Entscheidungen von insgesamt 39.027).« Schaut man sich die Herkunftsländer der Menschen an, die hier einen Asylantrag gestellt haben, dann werden Muster und Auffälligkeiten erkennbar: Die „Top-3-Länder“ sind die Russische Föderation, Syrien und Afghanistan. 18.000 der 43.000 Erstanträge auf Asyl und damit mehr als 40 Prozent aller Asylanträge im ersten Halbjahr 2013 entfallen auf diese drei Länder.

Während Asylanträge von Menschen aus Syrien und Afghanistan sicher gut nachzuvollziehen sind, gibt es eine besondere Auffälligkeit: Die Zahl der Asylanträge von Menschen aus der Russischen Föderation belief sich im ersten Halbjahr 2013 auf 9.957, im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es lediglich 898 – das bedeutet eine Steigerung im Vorjahresvergleich in der Größenordnung +1.009 Prozent! Ganz offensichtlich liegt hier ein von Schleuseraktivitäten gesteuerter Prozess vor. Zwischenfazit: Schaut man sich die allgemeinen Entwicklungen um uns herum an, dann ist es durchaus plausibel, davon auszugehen, dass in den kommenden Monaten die Asylbewerberzahlen weiter ansteigen werden. Dies verweist auf die abschließend anzusprechende Frage, wie man konkret damit umgehen soll – und das heißt in diesem Fall immer konkret vor Ort, denn die Menschen müssen untergebracht und versorgt werden.

Wo ein Heim, da Protest„, so die taz zum Grundproblem, dessen besonders hässliche Ausformung wir derzeit in Berlin beobachten müssen.  Seit einem Rekord-Tief 2008 hat sich die Zahl der ankommenden Asylbewerber etwa verdreifacht. Auch wenn viele direkt wieder abgeschoben werden, müssen die Kommunen mehr Unterkünfte bereit stellen als bislang. Und wo ein Flüchtlingsheim eingerichtet wird, lassen die Proteste nicht lange auf sich warten. Die taz erinnert uns an aktuelle Beispielfälle:

  • »Im mecklenburg-vorpommerschen Wolgast etwa richtete die Stadt im Herbst 2012 ein erstes Flüchtlingsheim mitten in einer renovierten Plattenbausiedlung ein. Die Gemeinde wollte die Asylsuchenden ausdrücklich nicht am Stadtrand isolieren … Das Heim wurde mit rechtsextremen Sprüchen beschmiert, die NPD kündigte einen Fackelzug an. Der NDR strahlte Szenen aus, wie Flüchtlingskinder im Hof spielten, während arbeitslose deutsche Nachbarn sie mit Liedern wie „Zick, Zack Kanackenpack, haut den Türken auf den Sack“ beschallten.«
  • »Im gutbürgerlichen Berlin-Reinickendorf wehren sich Anwohner juristisch und auf Stammtischniveau gegen die neuen Nachbarn: Als acht Kinder im Flüchtlingsheim an Windpocken erkrankten, hingen überall Flugblätter, die vor Seuchengefahr warnten. Die Hauseigentümer haben nach Einzug der Flüchtlinge ihren Spielplatz eingezäunt und „melden“ Heimbetreiber und Bezirk, wenn trotzdem Flüchtlingskinder darauf spielen. Sie wollen zudem juristisch erstreiten, dass das Heim wieder schließt.«

In der Regel wird dann protestiert, wenn Flüchtlinge zentral, also in Heimen untergebracht werden. Das Asylverfahrensgesetz sieht dies als Regelfall vor.

Aber wie heißt es so schön – keine Regel ohne Ausnahme. Die taz nennt ein Beispiel: »Leverkusen beispielsweise hat mit dezentraler Unterbringung gute Erfahrungen gemacht. Das Rezept: So früh wie möglich ziehen die Flüchtlinge in private Wohnungen ein – zu Mieten auf Hartz-IV-Niveau. Das als „Leverkusener Modell“ bekannt gewordene Prinzip habe sich bewährt und sogar Geld gespart, betont die Gemeinde. Einige Städte wollten das Modell deshalb kopieren.« Wer sich für dieses Modell genauer interessiert, dem sei beispielsweise diese Folienpräsentation der Flüchtlingshilfe Lerverkusen empfohlen.

Allerdings – auch die taz ist nicht völlig unrealistisch: »Der Wohnraum im Niedrigpreissegment ist in vielen Städten knapp.« Und das wird das größte Problem für eine weitgehend dezentrale Lösung des Unterbringungsproblems. Da soll man sich keine Illusionen machen.

Sollte das Unterbringungsproblem in welcher Form auch immer gelöst sein, dann geht es um die Beantwortung einer weiteren Frage, um die sich die meisten Politiker gerne drücken: Wie halten wir es mit dem Arbeitsverbot für die Asylbewerber? Man kann es drehen und wenden wie man will – das mehrmonatige Arbeitsverbot sowie die weiterhin dann bestehenden „Vorrangprüfungen“ schaffen Probleme, die dann im Alltag als Problem durch „die“ Asylbewerber wahrgenommen und als solche bewertet werden. Hier kann es nur eine Antwort geben – auch wenn das natürlich immer mit der Gefahr „negativer Anreizeffekte“ verbunden sein kann und wird: Schafft das Arbeitsverbot endlich ab.

Wenn Eltern zur Gefahr werden … Zahl der Inobhutnahmen der Jugendämter erreicht neuen Höchststand

Im Jahr 2012 haben die Jugendämter in Deutschland 40.200 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Das waren gut 1.700 oder 5 % mehr als 2011. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, hat die Zahl der Inobhutnahmen in den letzten Jahren stetig zugenommen, gegenüber 2007 (28.200 Inobhutnahmen) ist sie um 43 % gestiegen.

Mit diesen trockenen Worten beschreibt des Statistische Bundesamt in seiner Pressemitteilung „Zahl der Inob­hut­nah­men im Jahr 2012 auf neuem Höchst­stand“ eine höchst bedenkliche gesellschaftliche Entwicklung.

Eine Inobhutnahme ist eine kurzfristige Maßnahme der Jugendämter zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, die sich in einer akuten, sie gefährdenden Situation be­finden. Jugendämter nehmen Minderjährige auf deren eigenen Wunsch oder auf Grund von Hinweisen Anderer – beispielsweise der Polizei oder von Erzieherinnen und Erzie­hern – in Obhut und bringen sie in einer geeigneten Einrichtung unter, zum Beispiel in einem Heim, so die Beschreibung des Statistischen Bundesamtes.
Betrachtet man die Entwicklung der Inobhutnahmen – also der Herausnahme von Kindern und Jugendlichen aus ihren Familien und die zeitweise oder auch längere Unterbringung beispielsweise bei Pflegeeltern oder in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe („Heime“), dann erkennt man seit dem Jahr 2005 eine beständige Zunahme der Fälle. Von 2005 bis 2012 ist die Zahl der Inobhutnahmen um 57% angestiegen.

Schaut man sich die detaillierten Werte an (vgl. hierzu Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Vorläufige Schutzmaßnahmen 2012, Wiesbaden 2013), dann kann man anhand der Relation der Zahl der vorläufigen Schutzmaßnahmen je 10.000 Kinder und Jugendliche im Alter bis 18 Jahre erkennen, dass es eine erhebliche Zunahme der Eingriffsintensität in den vergangenen Jahren gegeben hat: Lag dieser Wert beispielsweise im Jahr 2005 noch bei 17, ist er im vergangenen Jahr bei 30. Damit belief sich dieser relative Anteilsanstieg von 2005 bis 2012 sogar auf über 76%.

Schaut man sich die Altersverteilung der von einer Inobhutnahme betroffenen Kinder und Jugendlichen im vergangenen Jahr an, dann kann man erkennen, dass zum einen sehr kleine Kinder überproportional vertreten sind, also in der Altersgruppe bis 3 Jahre sowie die Jugendlichen ab dem 14. Lebensjahr.

Mit einem Anteil von 43 % war die Überforderung der Eltern beziehungsweise eines Elternteils der häufigste Anlass für die Inobhutnahme – insgesamt waren davon 17.300 Kinder und Jugendliche betroffen. An dieser Stelle kann man vermuten, dass die seit einigen Jahren zu beobachtende Thematisierung, Problematisierung und Sensibilisierung für Fragen der Kindeswohlgefährdung in den steigenden Fallzahlen bei den Inobhutnahmen ihren Niederschlag gefunden hat, vor allem bei den unter dreijährigen Kindern.

Außerdem weist das Statistische Bundesamt auf einen Zusammenhang mit der Flüchtlingsproblematik hin, denn weiter stark zugenommen hat die Zahl der Minderjährigen, die auf Grund einer unbegleiteten Einreise aus dem Ausland in Obhut genommen wurden. Insgesamt kamen 2012 rund 4800 Kinder und Jugendliche ohne Begleitung über die Grenze nach Deutschland, gut fünfmal mehr als im Jahr 2007, wo das 900 Minderjährige waren.

39 Prozent der betroffenen Minderjährigen kehrten nach der Betreuung wieder zu den Sorgeberechtigten zurück. Für ein knappes Drittel schlossen sich ambulante oder stationäre Hilfen an, etwa in einer Pflegefamilie, einem Heim oder einer betreuten Wohngemeinschaft.
Bei 13 Prozent waren stationäre Hilfen notwendig, beispielsweise in einem Krankenhaus oder der Psychiatrie. Die anderen wurden entweder ins Ausland zurückgeschickt – oder sie kamen wieder in ihre Pflegefamilie, ihr Heim oder eine stationäre Einrichtung, aus der sie weggelaufen waren.

Wer sich für weiterführende und vertiefende Analysen interessiert, der wird fündig in der Berichterstattung der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik an der TU Dortmund, die im Forschungsverbund mit dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) arbeitet. Die Arbeitsstelle gibt als Periodikum die Zeitschrift „KOMDAT“ (Kommentierte Daten der Kinder- & Jugendhilfe) heraus. Dort findet man – mit Blick noch auf die Daten des Jahres 2011 – eine fachliche Gesamteinordnung beisppielsweise in dem Beitrag von Sandra Fendrich und Agathe Tabel: Konsolidierung oder Verschnaufpause? Aktuelle Entwicklungen bei den Hilfen zur Erziehung, in: KOMDAT, Heft 3/2012, S. 11-13. In diesem Beitrag wird parallel zum Anstieg der Inobhutnahmen – die ja erst einmal „nur“ eine kurzfristige Maßnahme der Herausnahme eines Kindes oder eines Jugendlichen aus seinem familialen Setting darstellt – herausgearbeitet, dass es insbesondere bei der Fremdunterbringung und hierbei bei der Heimunterbringung starke Zunahmen gegeben hat. Und auch in diesem Beitrag wird auf die Zunahme der unbegleitet eingereisten Minderjährigen hingewiesen: »So werden in der Heimerziehung verstärkt männliche Jugendliche aufgrund einer „unzureichenden Grundversorgung“ untergebracht. Einiges deutet hier auf unbegleitete Flüchtlinge hin, die in Heimen und betreuten Wohneinrichtungen eine Bleibe finden. Die damit verbundenen Herausforderungen mit Blick auf adäquate Unterbringungssettings sind nicht zu unterschätzen. Es zeigen sich bei vielen Jugendlichen komplexe Problemlagen, bedingt durch das Verlassen ihres Herkunftslandes, ihrer Heimat mit womöglich unter- schiedlichen kulturellen Hintergründen und vor allem dort erfahrene Traumata, etwa durch Kriegserlebnisse.«