Was war das für eine Empörung, als man in Essen einen neuen Weg beim Umgang mit schwerstabhängigen suchtkranken Menschen ankündigte. Das geht nicht, kommt gar nicht in Frage, wie kann man denn nur alkoholkranke Menschen mit Bier „vergüten“, wenn sie arbeiten gehen. Denn – wohlgemerkt ein – Bestandteil des Projekts „Pick-Up“, bei dem es um die Förderung von Tagesstruktur durch Beschäftigung für langjährig chronisch Mehrfachabhängige geht, ist die Abgabe von Bier an die Teilnehmer des Projekts. Die schwer suchtkranken Teilnehmer können in aller Ruhe durch die Innenstadt ziehen und die Szene-Treffpunkte der Trinker, Junkies und Obdachlosen sauber machen. Und dafür bekommen sie 1,25 Euro in der Stunde, eine warme Mahlzeit und Tabak – oder eben bis zu drei Flaschen Bier über den Tag verteilt. Es handelt sich also arbeitsmarktpolitisch gesehen um eine Arbeitsgelegenheit, umgangssprachlich als „Ein-Euro-Job“ bezeichnet, die in Essen unter dem Begriff „Gemeinwohlarbeit“ laufen, mit besonderen weiteren Komponenten wie eben dem warmen Mittagessen und der Option, eine Ration Bier in Anspruch nehmen zu können. „Das Bier soll keineswegs Belohnung sein, sondern nur ein Anreiz zur Teilnahme“, so wird Projektleiter Oliver Balgar von der Essener Suchthilfe Direkt in dem Artikel Putzen für Bier – Projekt für Abhängige startet in Essen zitiert. Dieses bundesweit bislang einmalige Modell, das nach einem monatelangen Hin und Her Anfang Oktober endlich starten konnte, wurde durch entsprechende Ansätze in den Niederlanden, konkret in Amsterdam, inspiriert.
Zum Vorbild aus Amsterdam kann man einem Artikel von Pascal Beucker, der im Februar dieses Jahres veröffentlicht wurde, entnehmen:
»Seit zwei Jahren setzt die niederländische Metropole in zwei Stadtvierteln Süchtige zur Säuberung von Parks und Plätzen ein. Zu Dienstbeginn um 9 Uhr erhalten sie zwei Dosen Bier und, falls gewünscht, eine Tasse Kaffee. Mit Zangen, Müllbeuteln und Westen der lokalen Müllentsorgung ausgestattet geht es dann auf den ersten von bis zu vier einstündigen Rundgängen, an deren Ende jeweils eine weitere Büchse Grolsch spendiert wird. In der Mittagspause gibt es eine warme Mahlzeit von einer Suppenküche. Außerdem bekommen sie noch täglich ein halbes Päckchen Tabak und 10 Euro.«
Man sollte sich in einem ersten Schritt klar machen, um was für Menschen es hier geht: Es geht um »Menschen, die der Volksmund gern als „verkrachte Existenzen“ abstempelt und deren Anblick meist als störend empfunden wird. Es sind Menschen mit extremen Lebensläufen – oft kurz vorm Abgrund. Die meisten sind drogenabhängig und im Methadon-Programm, etliche waren jahrelang in Gefängnissen weggeschlossen, sie sind obdachlos, verstoßen, hoch verschuldet und in ihrer Kindheit auffällig oft missbraucht oder gar vergewaltigt worden«, so Gerd Niewerth in seinem Artikel anlässlich des Starts des umstrittenen Projekts. Und in einem zweiten Schritt sollte man auch darauf hinweisen, dass dieser von vielen mehr oder wenig differenziert kritisierte Ansatz auch aus fachpolitischer Sicht passungsfähig ist. Die Essener Suchthilfe als Trägerin des Projekts hat hierzu eine „Fachliche Einordnung“ veröffentlicht. Aus der einschlägigen Literatur sei an dieser Stelle nur auf die zwei Veröffentlichungen hingewiesen:
(1) Stöver, Heino et al. (2012): Saufen mit Sinn? Harm Reduction beim Alkoholkonsum. Frankfurt am Main
(2) Körkel, Joachim (2013): Kontrolliertes Trinken. Heidelberg und Nürnberg
Nun also läuft seit einigen Wochen das Modellprojekt in Essen. Und für den einen oder die andere mit einer echten Überraschung, die Jörg Maibaum schon in die Überschrift seines Artikels platziert hat: „Putzen für Bier“ – Teilnehmer rühren Alkohol nicht an. Was ist passiert?
»Von wegen Prost … 20 Kisten „Stern“ stehen im Lager der Suchthilfe an der Hoffnungstraße und niemand packt sie an. Und das ist in diesem Fall wirklich keine Geschmacks-, sondern reine Willenssache. Keine einzige Flasche haben die Teilnehmer des international beäugten Pick up-Modells seit dem Start im Oktober geöffnet. Die Maßnahme für Suchtkranke und mehr Sauberkeit hat eine bemerkenswerte Entwicklung genommen: Beim Freibier fürs Fegen-Projekt heißt es jetzt eher Putzen ohne Promille. Und das, sagt Oliver Balgar von der Suchthilfe, haben sich die sechs Teilnehmer, die seit nunmehr acht Wochen die Innenstadt von dem Müll ihrer eigenen Szene und anderen City-Besuchern befreien, selbst ausgedacht.«
Und warum nimmt keiner den „Anreiz“ Freibier in Anspruch? Eine bemerkenswerte Auflösung dieser Frage findet sich in diesem Passus des Artikels:
»Aus Gründen der Solidarität: Weil zwei ihrer Arbeitskollegen mit dem Drogenersatzstoff Methadon behandelt werden und deshalb auf ein Bier zum Besen verzichten müssen, hat der Rest der Gruppe kurzerhand beschlossen: Dann trinken wir eben auch nicht, solange wir zusammen sind. Das beweist Stärke.«
Deshalb spreche ich von der „eigenen Würde“ dieser Menschen, die sie zum Ausdruck bringen. Kompliment dafür. Aus dem „Fegen für Bier“ ist derzeit ein „Putzen ohne Promille“ geworden. Das hat was.