Wenn die Fundamente bröckeln: Für Berufsschulen werden händeringend Lehrkräfte gesucht. Auch vielen Grund- und Förderschulen gehen die Lehrer aus

Die älteren Semester werden sich noch an die 1980er und 1990er Jahren erinnern, als man ein Lehramtsstudium als fast sichere Eintrittskarte in die Arbeitslosigkeit bzw. in die Karriere als Taxifahrer oder Gastwirt etikettiert hat. Aber das waren eben auch Zeiten, in denen man selbst von einer „Ärzteschwemme“ gesprochen hat, weil es zu viele Mediziner gab, die wie viele andere damals auch in langen Warteschlangen auf dem Arbeitsmarkt ihr individuelles Glück suchen bzw. mit viel Ellbogeneinatz erkämpfen mussten. Die geburtenstarken Jahrgänge strömten auf den Ausbildungsmarkt, in die Hochschulen und dann als Absolventen auf den Arbeitsmarkt. Mittlerweile sind die Angehörigen der „Baby Boomer“-Generation über 50 und stellen (noch) die Mehrheit der Beschäftigten in den Betrieben.

Auf dem Arbeitsmarkt hingegen haben sich die Angebots-Nachfrage-Relationen ganz erheblich verschoben, zugunsten vieler Arbeitnehmer (von denen die meisten diesen fundamentalen Wandel der Marktbedingungen noch gar nicht realisiert haben). Auch wenn man äußerst vorsichtig sein sollte bei der Verwendung des Begriffs „Fachkräftemangel“, unter dem Arbeitgeber naturgemäß etwas anderes verstehen als Arbeitnehmer, so lässt sich doch mit Blick in einzelne Bereiche nicht wirklich leugnen, dass wir mit einem teilweise erheblichen Mangel an bestimmten Fachkräften konfrontiert sind. Für viele Menschen wird das derzeit beispielsweise mehr als offensichtlich im Bereich des Handwerks. Dort kann man immer öfter froh sein, wenn man überhaupt an einen Termin kommt – und der hat dann eine Wartezeit wie die bei Orthopäden oder Augenärzten. Bei den Handwerkern gibt es wie immer bei solchen komplexen Themen mehrere Gründe, vor allem das rückläufige Interesse an einer handwerklichen Ausbildung bei den an sich schon weniger werdenden jungen Menschen, aber wir ernten jetzt auch die Früchte des jahrelangen unterlassenen Tuns, also das zu wenig ausgebildet wurde, als es noch viele Bewerber gab. Die fehlen jetzt natürlich vorne und hinten, vor allem angesichts der vielen älteren Handwerker und Facharbeiter, die sich in den wohlverdienten Ruhestand verabschieden.

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Und ewig lockt die Statistik. Was fantastisch viele Ehrenamtliche mit möglicherweise ganz anderen PISA-Ergebnissen zu tun haben

Mit Zahlen kann man Politik machen, ach was: Mit ihnen macht man ganz handfest Politik. Die einen durchforsten unendliche Zahlenkolonnen im Ersatz für die eigentlich zu führenden Gespräche mit den Menschen selbst, die anderen leiten das, was sie sagen, aus dem ab, was ihnen die Zahlen sagen. Und Wissenschaftler lieben die Zahlen sowieso und rümpfen nicht selten die Nase, wenn jemand „empiriefrei“ zu argumentieren wagt, auch wenn er oder sie ganz nah bei den Menschen ist. Das kann man verurteilen, kritisieren und ablehnen, es ändert alles nichts. Wenn die Währungseinheit Statistik ein eigenständiger Machtfaktor geworden ist, dann muss man eben kritisch auf die präsentierten „Daten und Fakten“ schauen, ob sie halten, was sie versprechen. Oder ob durch die Herstellung entsprechender Zahlenwelten Potemkinsche Dörfer aufgebaut werden als Kulisse für eine Zufriedenheitsproduktion.

In diesen Tagen wurde man von zahlreichen Seiten mit erfreulichen Nachrichten aus der Welt des ehrenamtlichen Engagements beglückt, denn am 5. Dezember wird alljährlich der internationale Tag des Ehrenamtes begangen. Da darf es nicht an lobenden Worten fehlen, die in diesem Fall aus der Politik nur zu gerne ausgereicht werden, denn die hat in mehrfacher Hinsicht einen Gewinn vom ehrenamtlichen Tun der vielen Menschen in unserem Land. Und die Politik vermeldet Höchststände beim ehrenamtlichen Engagement in unserem Land. Endlich mal gute Nachrichten.

Dabei gibt es natürlich auch die kritischen Stimmen und Berichte, die vor einer Überhöhung und Instrumentalisierung warnen. „Das Ehrenamt muss als Lückenfüller herhalten“, so ist beispielsweise ein Interview überschrieben mit Maria Ebert, die sich im Medibüro Berlin engagiert, wo sie Menschen ohne Krankenversicherung ärztliche Versorgung vermittelt. Almuth Knigge berichtet aus Bremen, immer wieder vorgetragene Bedenken teilweise bestätigend: Ohne Ehrenamtliche geht wenig: »Viele Millionen Menschen setzen sich in Deutschland für gemeinnützige Zwecke ein. In manchen Bereichen ersetzen sie inzwischen den Staat.« Und bereits im März dieses Jahres wurde die NDR-Dokumentation Ehrenamt unter Druck ausgestrahlt, dessen redaktionelle Beschreibung durch das Zitieren der quantitativen Bedeutung des Ehrenamts gut überleitet zu dem Aspekt, der in diesem Beitrag verfolgt werden soll:

»Man mag sich nicht ausdenken, was ohne das Engagement Zehntausender ehrenamtlicher Helfer, die sich um Flüchtlinge kümmern, geschehen würde. Aber nicht nur bei der Flüchtlingshilfe sind Ehrenamtliche im Einsatz. Sie engagieren sich für Obdachlose, sind in Altenheimen aktiv, arbeiten in Bahnhofsmissionen und Tafeln, im Umweltschutz, bei der freiwilligen Feuerwehr, in Sportvereinen und vielen anderen Bereichen. Beeindruckend allein die Zahlen. In ganz Deutschland engagieren sich 23 Millionen Menschen ehrenamtlich: In Schleswig-Holstein sind 40 Prozent der über 14-Jährigen ehrenamtlich tätig, in Niedersachsen 41 Prozent und in Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern immerhin noch 29 Prozent.«

Da wird der eine oder andere Leser sicher denken, dass das a) eine ganz tolle Sache ist mit dem Engagement, dass aber b) die Engagement-Differenzen zwischen Schleswig-Holstein und  Mecklenburg-Vorpommern ganz erheblich daherkommen. 40 zu 29 Prozent, so hat man es uns mitgeteilt.

Und schon sind wir mittendrin in der Zahlenwelt. Astrid Ehrenhauser hat sich in ihrem Artikel Zu fantastisch, um wahr zu sein kritisch mit der Statistik zum ehrenamtlichen Engagement auseinandergesetzt: »Früher haben sich rund 36 Prozent der Menschen in Deutschland ehrenamtlich betätigt. Jetzt sollen es knapp 44 Prozent sein. 20 Prozent mehr freiwilliges Engagement seit 2009?«
„Science-Fiction“ nennt der Sozialwissenschaftler Roland Roth die servierten Zahlen. Ein starker Vorwurf. Und der Mann ist nicht irgendwer bei diesem Thema, denn er »war sachverständiges Mitglied der Expertengruppe des zweiten Freiwilligensurveys von 2004. Er kritisiert die zwei Millionen Euro teure Umfrage von 2014 scharf. Das Bundesfamilienministerium finanziert die Freiwilligensurveys, die nun zum ersten Mal vom Deutschen Zentrum für Altersfragen durchgeführt und im April 2016 veröffentlicht wurde. Die ersten drei Wellen des Freiwilligensurveys wurden in den Jahren 1999, 2004 und 2009 erhoben.«

Das nunmehr für 2014 ausgewiesene deutlich größere ehrenamtliche Engagement beruht, so die Roth’sche Kritik,  eher „auf veränderten Berechnungsgrundlagen“. Roth wird so zitiert: „Die Standards für Tätigkeiten, die als freiwilliges Engagement gelten sollen, wurden abgesenkt.“ So würden jetzt selbst „Kicken im Park oder das Wandern und Chorsingen im Altenverein als Beispiele für freiwilliges Engagement aufgeführt“. Und andere Studien wie etwa das Sozioökonomische Panel und die Shell-Jugendstudie, sehen diesen drastischen Anstieg nicht.

Was sagen die Kritisierten? Claudia Vogel, Mitherausgeberin der Studie, widerspricht Roth: »Höhere Lebenserwartung und ein „Engagement-Hype“ erklärten den Anstieg. Sie räumt jedoch ein, dass die Definition von Engagement erweitert wurde: So sei Singen im Chor in die Berechnung eingeflossen, „weil es einen Teamcharakter“ habe.«

In nach oben getriebenen Zahlen das Engagement betreffend liegt eine große Gefahr für das ehrenamtliche Engagement: die Politik ruht sich auf den „Erfolgen“ der eigenen Engagementpolitik aus. Roth spricht von einer »Neigung zu Hochglanz, zu postfaktischer Selbstdarstellung.«
Und die Ehrenamtsorganisationen? Sie schweigen, für Roth nicht wirklich überraschend: „Die direkte Abhängigkeit von öffentlichen Mitteln begünstigt leider eine Kultur, in der Kritik oft nur hinter vorgehaltener Hand vorgetragen wird.“

Ein anderes Beispiel: Heute überschlagen sich die Medien mit Berichten über die neuen PISA-Ergebnisse. Die Befunde aus PISA 2015 (vgl. auch diese Übersichtsseite der OECD) werden von den einen freudig, von den anderen hysterisch und von noch anderen distanziert aufgenommen. Darum soll es hier gar nicht weiter gehen, sondern um die in vielen Berichten vorgenommenen Vergleiche mit den PISA-Vorläuferstudien und der immer wieder gestellten (oft einzigen) Frage: Sind wir jetzt besser oder schlechter geworden oder gleich geblieben? Und wie stehen wir im Ranking mit den anderen Ländern? Das hat die gleiche „Gebt mir eine einzige Zahl“-Qualität wie die punktuelle Frage, wie viele Menschen in Deutschland sind denn arm.
Möglicherweise aber kann man sich die gesamte Vergleicherei mit den früheren Ergebnissen sparen. Warum? Schauen wir auf die Selbstbeschreibung von PISA 2015:

»Im April und Mai 2015 nahmen 253 Schulen mit 10.500 Schülerinnen und Schülern in ganz Deutschland am PISA-Test teil. Die Aufgaben aus den Bereichen Naturwissenschaften (Schwerpunkt), Mathematik, Lesen sowie Problemlösen im Team werden weltweit von Schülern in 73 Ländern bearbeitet.
Bei PISA 2015 werden nach 2006 zum zweiten Mal die naturwissenschaftlichen Kompetenzen der 15-jährigen Schülerinnen und Schülern als Schwerpunkt getestet. Das bedeutet, dass ein Großteil der Testaufgaben aus dem Gebiet der Naturwissenschaften stammt und jeweils ein kleinerer Teil zu den Bereichen Lesekompetenz und Mathematik gehört.«

So weit, so bekannt. Am man sollte weiterlesen:

»Neu ist, dass die Testaufgaben komplett computerbasiert bearbeitet werden. Dies gilt auch für die in dieser PISA-Runde enthaltenen übergreifenden Kompetenzen des Problemlösens im Team. Die Jugendlichen müssen hier am Computer Problemlöseaufgaben bearbeiten, in denen sie nicht auf sich allein gestellt sind, sondern virtuell Mitschüler oder Partner haben.«

Marcel Grzanna hat sich in seinem Artikel Computer statt Papier mit dieser grundlegenden Veränderung der Vorgehensweise bei PISA genauer beschäftigt. Die Ergebnisse der jüngsten internationalen Schülervergleichsstudie basieren erstmals auf einer digitalen Erhebung. Das eröffnet den Forschern ganz neue Möglichkeiten, die sie vorher nicht hatten, denn sie können Zusatzinformationen sammeln. Zum Beispiel darüber, wie lange die 15-Jährigen brauchen, um einzelne Aufgaben zu bewältigen.

»Allerdings stellt sich auch die Frage, ob die aktuelle Pisa-Studie mit den früheren überhaupt noch vergleichbar ist.« Diese Frage ist mehr als berechtigt und eben nicht nur ein methodischer Nebenaspekt. Wenn man sich die folgenden Erläuterungen von Grzanna durchliest, dann wird einem klar, dass hier massive Veränderungen am Testverfahren vorgenommen worden sind:

„Durch das neue Verfahren wird der Test authentischer und dynamischer. Wir wollen Kompetenzbereiche erfassen, die man nur sehr schwer mit handschriftlichen Verfahren erreichen kann“, sagt Andreas Schleicher, Chef der OECD-Direktion Bildung und Kompetenz in Paris. Ein Teil der Aufgaben stützt sich jetzt auf die Interaktion der Schüler mit der Software, besonders im Bereich Naturwissenschaften. Die Jugendlichen konnten bei manchen Aufgaben verschiedene Varianten ausprobieren und bekamen vom System eine Reaktion auf ihre Versuche. Daraus konnten sie neue Schlüsse ziehen, um schließlich ihre Antworten zu formulieren.
Durch die Interaktion mit der Software können die Forscher die Schüler auf ihrem Lösungsweg begleiten und besser verstehen, was in deren Köpfen vorgeht. Neu ist auch, dass Fragen nicht mehr zurückgestellt werden können. Das System fordert eine sofortige Bearbeitung und registriert, wie lange ein Schüler an einer Aufgabe tüftelt. Jeder Mausklick wird gespeichert.

Nun handelt es sich um seriöse Wissenschaftler und denen war im Vorfeld natürlich schon klar, dass das neue Vorgehen vielleicht nicht in allen der 73 teilnehmenden Ländern unter gleichen Bedingungen durchgeführt werden kann, was sie dann auch getestet haben. Mit diesem Ergebnis: »Es stellte sich heraus, dass die Kinder in manchen Ländern schneller unkonzentriert wurden, weil Computer und Bildschirme veraltet waren. Nachteile hatten auch Schüler aus Ländern, in denen Jugendliche es nicht gewohnt sind, am Computer zu arbeiten, und deshalb mehr Mühe haben, digitale Texte zu lesen und zu verstehen. Mancherorts kam es auch vor, dass die Internetleitung zusammenbrach oder der Strom ausfiel.«

Und welche Konsequenz hat man daraus gezogen?

»Um eine Verzerrung der Resultate wegen äußerer Faktoren zu vermeiden, wurden die Aufgaben nur in 58 der 73 Teilnehmerländer digital gestellt. In den anderen Staaten lösten die Schüler die Aufgaben weiterhin auf Papier.«

Da liegt dieser Hinweis mehr als nahe: »Experten warnen davor, die neue Rangliste mit der aus dem Jahr 2012 direkt zu vergleichen und aus möglichen Verbesserungen oder Verschlechterungen bei der Platzierung vorschnell Schlussfolgerungen zu ziehen … Der Anschluss an die Ergebnisse aus dem Jahr 2012 könne nicht reibungslos funktionieren, weil eine neue Form des Arbeitens hinzugefügt worden sei.«

Auch Thomas Kerstan beklagt in seinem Kommentar Modernisiert, ohne die Folgen auszutesten:

»Man weiß gar nicht genau, ob die deutschen Schüler im Vergleich zu 2012 besser oder schlechter geworden sind. Denn die Pisa-Forscher haben dieses Mal anders getestet … An insgesamt acht Schrauben wurde gedreht, um die Pisa-Studie zu modernisieren. Das widerspricht einer wissenschaftlichen Leitlinie: Wenn du Veränderung messen willst, dann verändere nicht die Messung, lautet sie.«

Leistungstrends lassen sich also erst 2018 nach der nun vorgenommenen Umstellung auf computerbasierte Testung ableiten. Aber was machen viele Medien und Kommentatoren heute? Es wird viele nicht überraschen: Sie vergleichen die neuen Werte mit den alten und leiten daraus munter Schlussfolgerungen ab für die Bildungspolitik. Wenn die Experten von der methodischen Unzulässigkeit wissen, dann handeln sie fahrlässig und getreu dem Motto: Wird schon keiner von den Lesern oder Zuhörern merken. Wenn sie das nicht wissen, dann sind sie keine Experten, sondern wollen ihr (politisches, ideologisches) Süppchen kochen auf dem kurzlebigen Medienhype um das Thema. Bis die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird.

Zur Finanzierung der Grundschulen in Deutschland und dem offensichtlich nicht wirklich geschätzten Fundament der Bildungsbiografien

Für das Bildungssystem gilt eine vergleichbare Logik wie für das gewöhnliche Bauen: Das Fundament muss stimmen, sonst ist alle filigrane Feinarbeit in den höheren Stockwerken auf eine im wahrsten Sinne des Wortes wackelige Grundlage gestellt. Und man muss nun wirklich nicht noch einmal die vielen empirischen Studien der vergangenen Jahre und Jahrzehnte aufrufen, die zeigen, dass zum einen in der frühkindlichen Phase der ersten sechs Lebensjahre und dann in der Primarstufe, also den Grundschulen, die Basis gelegt wird (oder eben auch nicht) für die weitere Entfaltung der Bildungsbiografien der jungen Menschen.

Insofern wäre es rational und konsequent, wenn in einer Welt der begrenzten Ressourcen die immer knappen Mittel hinsichtlich ihrer Verteilung so gewichtet werden, dass sie vor allem da eingesetzt werden, wo man die größten Effekte realisieren kann. Und das wäre am Anfang der Bildungsbiografien, also in den ersten zehn Jahren der Kinder. Kurzum – am Anfang müssten wir die höchsten Bildungsausgaben und die besten Bedingungen für pädagogische (und heutzutage immer mehr auch sozialarbeiterische) Arbeit vorfinden. Nun wissen die meisten Beobachter der Wirklichkeit, dass es so gerade nicht ist, sondern ganzem Gegenteil gilt die gesellschaftspolitisch hoch brisante und letztendlich nur historisch zu erklärende Formel: Je älter die Kinder und Jugendlichen, desto mehr wird ausgegeben. Und die schlechtesten Arbeitsbedingungen für das Personal findet man in den ersten Lebensjahren der Kinder.

Auf diesen beklagenswerten Tatbestand wurde diese Tage erneut mit nackten Zahlen die Finanzierung der Grundschulen betreffend hingewiesen. Dazu hat der Bildungsökonom Klaus Klemm ein Gutachten veröffentlicht, in dem er einige Daten zusammengestellt hat:

Klaus Klemm: Finanzierung und Ausstattung der deutschen Grundschulen. Gutachten im Auftrag des Grundschulverbandes e.V., Essen, Juni 2016

Geld ist für Grundschulen Glückssache, so der Titel eines der Artikel, die über das Klemm-Gutachten berichten: »Hamburg gibt am meisten für seine Grundschüler aus, NRW ist Schlusslicht, zeigt ein Gutachten. Bildungsökonomen fordern daher: Schule dürfe nicht allein Ländersache sein.« Und die mit den Zahlen aufgezeigten Unterschiede allein auf der Ebene der Bundesländer sind erheblich: Während der Stadtstaat Hamburg 8.700 Euro pro Schüler und Jahr ausgibt, sind es im Schlusslicht Nordrhein-Westfalen lediglich 4.800 Euro. Im Schnitt geben die 16 Bundesländer an den öffentlichen Grundschulen 5.600 Euro (Jahr 2013) aus, deutlich weniger als für die Sekundarstufe I (5.900) und Sekundarstufe II (7.700 Euro). Ein Grundschulkind erhält mit durchschnittlich rund 24 Wochenpflichtstunden erheblich weniger Lernzeit als Heranwachsende in den weiterführenden Schulen (31 Stunden).
Und auch innerhalb der Bundesländer gibt es ganz erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Ausstattung zwischen den einzelnen Grundschulen.

Der Grundschulverband verweist in seiner Stellungnahme zum Klemm-Gutachten am Anfang auf die positiven Aspekte der Grundschulentwicklung trotz der schwierigen Rahmenbedingungen:

»In Deutschland sind die Grundschulen in ihrer Leistungsbilanz nicht mehr die „Hinterhöfe der Nation“ … Das hatte sich schon in den Leistungsstudien „IGLU“ (2001 ff.) angedeutet. Bei diesen internationalen Leistungsvergleichen erreichten die deutschen Schüler/innen in den letzten Jahren Plätze im oberen Viertel. Bei der Finanzierung und Ausstattung der Grundschule landet Deutschland – als einer der reichsten Staaten – inzwischen zumindest im OECD-Mittelfeld … und auch im innerdeutschen Vergleich hat die Grundschule ihren Rückstand gegenüber der Sekundarstufe I und II etwas aufgeholt … Zudem sind die Klassen bis 2014 kleiner geworden …, was sich aktuell allerdings wieder zu ändern scheint.«

Nicht zu übersehen sind die Schattenseiten der Grundschulentwicklung:

»Andere international wichtige Vergleichsländer wie die USA, das Vereinigte Königreich, Schweden, die Schweiz und Österreich geben für die ersten vier Grundschuljahre erheblich mehr aus als das reiche Deutschland: Wenn man die Ausgaben – unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Kaufkraft der Währungen – in Euro angibt, so zeigt sich, dass Deutschland mit etwa 6.100 € pro Jahr und Schüler/in deutlich weniger ausgibt als viele Länder, die mehr als jährlich 6.700 Euro verausgaben … Vor allem erhalten die Kinder in den anderen OECD- Staaten während der ersten vier Schuljahre mit durchschnittlich gut 3.000 deutlich mehr Unterricht als die Kinder in Deutschland mit durchschnittlich gut 2.800 Zeitstunden.«

In Europa liegen die Niederlande mit 3.640 Stunden ganz vorne.

Und die offensichtliche Unterfinanzierung der Grundschulen muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass diese mit erheblich gewachsenen Anforderungen konfrontiert werden. Der Grundschulverband hebt drei Aspekte hervor.

1. Im Vergleich zu anderen Schulformen sind die Grundschulen am weitesten in der Entwicklung zu inklusiven Schulen. Die führt angesichts der knappen Personaldecke – insbesondere bei Ausfällen durch Krankheit – regelmäßig zur Überforderung des Personals im Alltag, zum Beispiel bei der Versorgung körperbehinderter Kinder.
2. Auch das Ganztagsangebot ist im Grundschulbereich am größten. Wenn der Nachmittag nicht zu einem bloßen Anhängsel werden soll, sind die Grundschulen in einem besonderen Maße bei der Planung, Abstimmung und Betreuung der pädagogischen Angebote gefordert. Hier fehlt Zeit und Geld.
3. In vielen Grundschulen kommen 30% oder mehr der Kinder aus Armutsfamilien. Das macht schon den Fachunterricht erheblich schwieriger, es überfordert die Lehrer/innen aber auch oft in ihrer Zusatzfunktion als Sozialpädagogin oder Sozialarbeiter.

Und vor diesem Hintergrund muss man dann auch zur Kenntnis nehmen, dass in der letztendlich nur ständestaatlich zu verstehenden Bildungshierarchie die Grundschullehrer/innen, wobei es unter diesen kaum noch Männer gibt, die am schlechtesten besoldete bzw. vergütete Lehrer-Gruppe ist. Und vor kurzem wurde darüber diskutiert: Grundschulleiter? Auf den Job haben Lehrer keine Lust, so haben Freia Peters und Marcel Pauly ihren Artikel überschrieben.

»In Deutschland gibt es etwa 10.000 Grundschulen, etwa 1.000 von ihnen haben keine Leitung. Am schlimmsten ist die Situation in Berlin und in Nordrhein-Westfalen. An Rhein und Ruhr haben von 2787 Grundschulen 345 keine Schulleiter und 670 keinen Stellvertreter … Schüler, Lehrer, Erzieher und Eltern leiden, wenn die Schulleitung über einen längeren Zeitraum nicht besetzt ist. Rektoren können einer Schule zum Aufstieg verhelfen – oder sie in den Abgrund treiben. Die Situation ist drastischer, als die Zahlen belegen. In Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz etwa werden die unbesetzten Stellen nicht vom Landesbildungsministerium erfasst – zuständig sind die einzelnen Regierungspräsidien und Schulämter. Aber auch hier ist die Tendenz klar. Laut dem Philologenverband bleiben etwa auch in Rheinland-Pfalz einige Schulleiterstellen sogar über mehrere Jahre unbesetzt.«

Bei der Frage nach dem Warum für diese Misere landet man auch wieder bei dem Geld. „Die Bezahlung für Schulleiter an Grundschulen ist völlig unattraktiv“, sagt Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung, zitiert. »Wer in einer kleinen Schule mit weniger als 180 Schülern vom Lehrer zum Schulleiter aufsteigt, bekommt 180 Euro im Monat mehr. Da lehnen die meisten verständlicherweise dankend ab. Zu enorm ist das Mehr an Aufgaben für eine winzige Summe an zusätzlichem Gehalt.«

Und neben dem mickrigen Zuschlag zum Gehalt: „Die Leitungszeit, die Schulleiter … zugesprochen bekommen, ist viel zu gering. Die vielen Aufgaben sind in der dafür gewährten Zeit schlicht nicht zu schaffen“, so Beckmann.

»Ein Lehrer in Vollzeit muss 28 Stunden wöchentlich unterrichten. Ein Schulleiter wird nur von einem Teil des Unterrichts befreit. Bei einer kleinen Schule muss der Rektor noch die Hälfte der Stunden geben, also 14 pro Woche. Zählt man pro Stunde Unterricht eine Stunde Vorbereitung, verbleiben bei einer 40-Stunden-Woche noch zwölf Stunden, in denen sich ein Schulleiter um die Leitungsaufgaben kümmern könnte.«

Man könnte jetzt noch ergänzend anführen, dass viele Schulleiter an Grundschulen „selbstverständlich“ kein voll besetztes Schulsekretariat haben, sondern eine Schulsekretärin für eine Handvoll Stunden in die Schule kommt, weil mehr nicht bewilligt wurde. Keine Klitsche in der normalen Wirtschaft würde unter solchen Bedingungen arbeiten. Bei unseren Grundschulen ist das aber ganz normale Realität und insofern kann man sich nur wundern, dass es immer noch so viele Masochisten gibt, die sich eine Leitungsstelle antun.

Und die Leitung einer Schule ist von ganz grundlegender Bedeutung. In dem Artikel  Grundschulleiter? Auf den Job haben Lehrer keine Lust wird die engagierte Brigitte Unger, Schulleiterin der Karlsgartenschule in Berlin-Neukölln, einer großen Grundschule mit 420 Kindern in einem sozialen Brennpunkt, mit diesen Worten zitiert:
„Es gibt niemanden, der einen auf diesen Job vorbereitet“. Auf einmal muss man betriebswirtschaftliche Aufgaben erfüllen, die Kollegen sind aber alle früher Lehrer gewesen und wissen nicht, wie man Stellen ausschreibt und 300.000 Euro verwaltet.“

Und dann dieser Passus, der de Bedeutung der Leitungsebene prägnant zusammenfasst:

„Ohne Schulleitung geht es nicht“, sagt Unger. „Dann hat niemand einen Überblick über die Lehrer, die kommen nicht zu den Konferenzen, es gibt keine klare Haltung, keinen Respekt.“ Es müsse jemanden geben, der sagt, wo es langgeht, der Ideen entwickelt, mit dem Schulamt auf Augenhöhe kommuniziert. „Denen muss man auf den Füßen stehen“.

Ach ja: Brigitte Unger geht in diesem Sommer in Rente, vier Wochen ist sie noch im Dienst. Dann wird wieder eine Stelle frei.

Die soziale Spaltung schon ganz am Anfang der Schullaufbahn verschärft sich. Wenn die Grundschule frei gewählt werden kann

Die Debatten über die Schulstrukturen in Deutschland sind wohl nicht mehr zu zählen. Gesamtschule, Gemeinschaftsschule, Werkrealschulen, Stadtteilschule, Realschule plus (oder minus?) – die Liste ließe sich beliebig erweitern und zum Gegenstand eines eigenen Studiengangs machen.
Aber eine Schulform sollte doch immer wieder hervorgehoben werden – gleichsam die einzige „wirkliche“ Gemeinschaftsschule, die wir in unserem Land haben (also dem Grunde nach): die Grundschule. Das hängt mal wieder mit einem relativ einfachen Ordnungsprinzip zusammen: Fast überall in Deutschland gilt bei Grundschulen das Sprengelprinzip (auch als „Kurze Beine, kurze Wege“ umschrieben). Die Kinder müssen die nächstgelegene Schule besuchen. Egal, ob sie aus „guten“ oder „schlechten“ Elternhäusern kommen, ob sie der deutschen Sprache mächtig sind oder nicht. Alle kommen sie in die gleiche Schule, die dann im Regelfall der Bundesländer vier Jahre Zeit hat, sie gemeinsam für die weitere Schulkarriere zu prägen. Wobei – das sei den folgenden Ausführungen vorangestellt – genau dieses Sprengelprinzip natürlich den Keim der sozialen Spaltung in sich trägt, wenn man realistischerweise eine weitere Dimension der Einschulung in die (vermeintliche) Gemeinschaftsschule bedenkt: die soziale Segregation in den Städten. Denn die nächstgelegene Grundschule wird eine andere sein hinsichtlich der Zusammensetzung der Schülerschaft, wenn sie sich in einem Viertel befindet, das man als „sozialen Brennpunkt bezeichnen muss, oder aber in einer gut situierten Mittelschichtsgegend angesiedelt ist. Bereits durch die teilweise erhebliche sozialräumliche Segregation haben wir enorme Unterschiede bei der Zusammensetzung der Grundschüler.

Das sind einige Befunde aus einer neuen Studie von großem Interesse: Freie Grundschulwahl verschärft die soziale Trennung von Schülern, berichtet die Bertelsmann-Stiftung, die eine entsprechende Untersuchung in Auftrag gegeben hat. Die Studie wurde vom Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (ZEFIR) an der Ruhr-Universität Bochum und der Stadt Mülheim an der Ruhr erstellt:

Thomas Groos: Gleich und gleich gesellt sich gern. Zu den sozialen Folgen freier Grundschulwahl, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2016

Untersucht wurde das Wahlverhalten von Eltern in Mülheim an der Ruhr über einen Zeitraum von vier Jahren: 2008 bis 2011. Knapp 4000 Kinder wurden in diesen Jahren eingeschult. Warum hat man diesen Zeitraum gewählt? In Nordrhein-Westfalen hatte die Regierung aus CDU und FDP im Schuljahr 2008/2009 das Sprengelprinzip abgeschafft und die freie Schulwahl erlaubt – mithin ergab sich damit in der Realität die Möglichkeit, die Auswirkungen dieser Maßnahme zu untersuchen. Eine Wahlfreiheit bei Grundschulen gibt es in Deutschland nach Angaben der Stiftung auf Länderebene außer in NRW bislang nur in Hamburg. Es wird aber in anderen Bundesländern darüber diskutiert, diesen Weg einzuschlagen (vgl. dazu  „Gleich und gleich gesellt sich gern“).

Das zentrale und nicht wirklich überraschende Ergebnis der Untersuchung wird bereits im Titel der veröffentlichten Studie auf den Punkt gebracht: „Gleich und gleich gesellt sich gern“. Die Bertelsmann-Stiftung schreibt in ihrer Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse:

»Der Anteil an Kindern, die eine andere als die ehemals zuständige Grundschule besuchen, stieg seit Aufhebung der Grundschulbezirksbindung in Nordrhein-Westfalen im Schuljahr 2008/09 deutlich. Der Grund: Ein sozial stark selektives Wahlverhalten der Eltern. Mittlerweile suchen rund 25 Prozent von ihnen für ihre Kinder eine andere als die eigentlich zugeordnete Grundschule aus – ein Anstieg um 15 Prozent. Die Folgen: Die Kinder der einzelnen sozialen Schichten bleiben bereits während der Grundschulzeit zunehmend unter sich und in manchen benachteiligten Wohnquartieren kommt es zu einer starken Schülerabwanderung.«

Und auch in dieser Untersuchung wird die vorgängig vorhandene soziale Spaltung auf der räumlichen Ebene erkennbar: »Eltern mit niedrigem Bildungsstatus und solche mit Migrationshintergrund wählen für ihre Kinder meistens die nahegelegene Grundschule. Weniger als 19 Prozent von ihnen suchen eine andere als die zuständige Schule aus. Sie sind in der Regel nur eingeschränkt mobil und bewegen sich überwiegend im eigenen Wohnbezirk. Auch Eltern mit hohem Sozialstatus machen von der freien Schulwahl eher seltener Gebrauch, da sie meist in sozial homogenen Einzugsbereichen wohnen.«

Die festgestellte Zunahme der sozialen Spaltung ist der Ergebnis von Wahlentscheidungen in der Mitte: »Es sind vor allem Eltern aus der Mittelschicht, die die freie Grundschulwahl nutzen. Ist die zuständige Grundschule der Kinder sozial benachteiligt, wird diese von Eltern mit hoher oder mittlerer Bildung gemieden. Lediglich jede dritte Familie mit hoher oder mittlerer Bildung schickt ihr Kind auf eine sozial benachteiligte Schule.«

Der Studie zufolge führt die freie Schulwahl an einigen Schulen zu einem massiven Schülerschwund.

Was tun? Der Verfasser der Studie, Thomas Groos, schlägt »die Einführung eines sogenannten Sozialindex vor. Der solle die soziale Struktur der Schulen transparent machen. Benachteiligte Schulen in sozialen Brennpunkten könnten dann besser ausgestattet werden, etwa mit mehr Lehrern. Damit könnten diese Schulen so gut werden, „dass ihre Qualität auch bildungsaffine Eltern überzeugt“«, so der Hinweis in dem Artikel Studie: Schultourismus führt zu sozialer Spaltung.
Dazu gibt es eine eigene Veröffentlichung:

Thomas Groos: Schulsegregation messen. Sozialindex für Grundschulen, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2016

Dieser Ansatz ist auch und gerade vor dem Hintergrund der bereits angesprochenen vorgängigen sozialen Segregation in vielen Städten von Bedeutung, die auch ohne freie Schulwahl dazu führen muss, dass sich die Zusammensetzung der Grundschulen hinsichtlich des familialen Hintergrunds der Schüler teilweise erheblich unterscheidet. Vor diesem Hintergrund wäre dann eine unterschiedliche Zuteilung der Ressourcen an die Schulen nach dem Grundsatz „Ungleiches ungleich behandeln“ durchaus ein diskussionswürdiger Ansatz. Es muss an dieser Stelle der Hinweis darauf genügen, dass das Grundproblem einer die vorhandene soziale Spaltung verschärfenden Entmischung der Bildungseinrichtungen bereits vor dem Eintritt in die Grundschule, also hinsichtlich der Wahl und Inanspruchnahme der Kindertageseinrichtungen relevant ist – und auch hier gibt es immer wieder die Forderung, unterschiedliche Herausforderungen auch unterschiedlich zu berücksichtigen bei der Mittelausstattung, um auf diesen Weg die beobachtbare Polarisierung zwischen den Kindern vom einen und vom anderen Ende der Skala wenigstens abzumildern.

Man muss sich aber mit Blick auf die verantwortlichen Politiker und einer möglichen Umsetzung der Forderung das Dilemma klar vor Augen führen, das mit einem Beschreiten dieses Weges verbunden wäre: Sie müssten dafür eintreten, die immer begrenzten Haushaltsmittel differenziert einzusetzen, im Klartext: Eine Kita und eine Grundschule mit vielen Herausforderungen, beispielsweise durch einen hohen Anteil nicht-deutschsprachiger Kinder oder in einem sozial hoch belasteten Stadtviertel, müssten deutlich höhere Zuweisungen bekommen als solche Einrichtungen in einem gut situierten Stadtteil. Und man kann sich vorstellen, dass es nicht einfach wird, diese Umverteilung (und natürlich faktische Schlechterbehandlung der Kinder aus den besser aufgestellten Räumen) denjenigen verständlich zu machen, die sich zugleich durch die höchste Wahlbeteiligung ausreichen, während gerade in den von so einem Ansatz profitierenden Stadtteilen die Wahlbeteiligung in aller Regel deutlich niedriger ausfällt.

Bourdieu lebt! Die zunehmende „sozialen Schließung“ im Wissenschaftssystem in Zeiten einer Durchlässigkeit für alle verheißenden Bildungsexpansion

Unsere Gesellschaft ist ja so durchlässig geworden. Alle sind ihres Glückes Schmied, wird uns fortwährend mitgeteilt. Und noch nie seien die Chancen für einen sozialen Aufstieg so groß gewesen und außerdem – wer in Bildung investiert, der kann alles erreichen. Aber wie so oft im Leben klafft eine große Lücke zwischen den Versprechungen und dem, was man tatsächlich vorfindet. Anders und gleich härter formuliert: Das Gegenteil scheint der Fall zu sein, wenn man ein Blick wirft auf das Wissenschaftssystem. Nicht weniger, sondern im Vergleich zu früher sogar noch mehr soziale Schließung ist zu beobachten.

Nach Leistung geht es in der Wissenschaft, und nochmals nach Leistung! Wer hier vorankommt, gehört zu den Besten. So stellt sich die deutsche Wissenschaft selbst gerne dar. Aber aus jedem Marketingansatz wissen wir – Übertreibung ist das eine, Realität nicht selten das andere. Eine neue Studie legt wieder einmal den Finger auf den Tatbestand, dass nicht nur immer schon die soziale Herkunft einen erheblichen Einfluss auf die Karriereentwicklung hatte, sondern entgegen der landläufigen Wahrnehmung dieser Einfluss auf die Elitebildung in den vergangenen Jahren gestiegen ist.

Damit beschäftigt sich Anja Kühne in ihrem Artikel Die Ultra-Elite stammt aus bestem Hause. Und auch die Auseinandersetzung mit den neuen Forschungsbefunden verdeutlicht – die Klassengesellschaft ist nicht tot zu kriegen, ganz im Gegenteil. Untersucht wurde eine ganz spezielle Gruppe unter den Akademikern – die, die es auf die höchsten Stufen des Systems geschafft haben:

»Wie sieht es nun in der Gruppe derjenigen Professoren aus, die von ihren peers in eine Führungsposition gewählt wurden – als Wissenschaftsmanager, Nobelpreisträger oder Preisträger des in Deutschland hoch angesehenen Leibniz-Preises? Mit diesen „Besten der Besten“, also der wissenschaftlichen Ultra-Elite, hat sich die Darmstädter Soziologin Angela Graf in ihrer Dissertation befasst. Betreuer war wie bei Möller der Darmstädter Elitenforscher Michael Hartmann. Grafs Ergebnis: Seit siebzig Jahren stammt die Wissenschaftselite zu fast zwei Dritteln aus den höheren Schichten.«

Graf wertete für ihre Studie die Werdegänge von 407 Mitgliedern der Wissenschaftselite im Zeitraum zwischen 1945 und 2013 aus. Sie stellt „eine enorme soziale Exklusivität der Wissenschaftselite“ fest.
Und dann kommt ein Befund, der alle Optimisten, dass die alte Stände- und Klassengesellschaft ein Auslaufmodell darstellt, frustrieren muss:

»Auch die Bildungsexpansion, die seit den siebziger Jahren für eine gemischtere Studierendenschaft gesorgt hat, hat an der sozialen Exklusivität nichts geändert: Von 1985 bis heute werden 65 Prozent der Ultra-Elite aus einer hauchdünnen Bevölkerungsschicht rekrutiert: aus dem gehobenen Bürgertum und dem Großbürgertum, denen nur 3,5 Prozent der Bevölkerung angehören.«

Die Arbeit von Graf bleibt keineswegs stehen bei der Darstellung der Daten. Sie setzt sich auch auseinander mit den Ursachen.

»Graf will keineswegs in Abrede stellen, dass die Voraussetzung für den Aufstieg auf eine Spitzenposition in der deutschen Wissenschaft Leistung ist. Doch wissenschaftliche Leistung sei ein soziales Konstrukt. Was als Leistung gilt, bestimmen andere Personen, insbesondere solche, die für ihre Leistung in der Wissenschaft anerkannt sind („legitime Feldmitglieder“). Ob jemandem eine hohe Leistungsfähigkeit zugeschrieben wird, hänge dabei nicht zuletzt von seinem sozialen Habitus ab – von der Art, wie er seine „wissenschaftlichen Produkte“, etwa Schriftstücke oder Vorträge, „vermarktet“, in dem er etwa die „richtige“ Sprache und das „richtige“ Publikationsorgan wählt und „souverän“ auftritt.«

Die Kombination von „faktischer Leistung“ und „persönlichem Vermarkten“ erweist sich laut Graf als „ein Einfallstor für nichtmeritokratische Faktoren“, also für den Einfluss der sozialen Herkunft.

Vorteile der Sozialisation in einem Akademikerhaushalt verbinden sich mit der Bedeutung der materiell besseren Ausstattung:

»Die Nachkommen aus dem Großbürgertum, besonders die Kinder von Professoren, würden davon profitieren, dass sie die Regeln in der Wissenschaft besser kennen. Und weil sie meist durch ihre Herkunftsfamilie finanziell gut abgesichert seien, könnten sie beruflich auch „risikoreichere Strategien gefahrlos wählen“. So würden sie über „deutlich größere Handlungsspielräume“ verfügen als Abkommen aus anderen Schichten.«

Eine interessante Differenzierung liefert der folgende Passus:

»Unterschiede zwischen den Preisträgern („Prestigeelite“) und den Wissenschaftsmanagern („Positionselite“) gibt es auch bei der Herkunft. Viele Wissenschaftsmanager stammen aus dem Wirtschaftsbürgertum. Aber nur jeder zehnte hat einen Vater, der Professor war. Hingegen kommt jeder vierte deutsche Nobelpreisträger – wie Thomas Südhof – aus einer Professorenfamilie. Für besonderen wissenschaftlichen Erfolg sei die familiäre Nähe zur Wissenschaft bedeutsam.«

Angela Graf sieht das alles kritisch – selbst aus der Perspektive „des Systems“:

»Die Selektion aus nur einem kleinen Pool von Menschen wirke sich auch auf die Leistungskraft des Wissenschaftssystems aus. Potenzielle Spitzenkräfte gingen verloren – darunter auch jene, die sich die zunehmend prekären Arbeitsbedingungen auf dem Weg zur Professur wegen ihrer sozialen Herkunft nicht leisten könnten.«

Die neuen Befunde sind leider passungsfähig zu den vorliegenden empirischen Ergebnissen hinsichtlich der allgemeinen Rekrutierung der Professorenschaft. Dazu wurde anlässlich einer Studie von Christina Möller (Wie offen ist die Universitätsprofessur für soziale Aufsteigerinnen und Aufsteiger?) berichtet, die ihre Doktorarbeit ebenfalls bei dem Elitenforscher Michael Hartmann von der TU Darmstadt verfasst hat. Wer aus der gehobenen sozialen Schicht kommt, hat demnach erheblich höhere Chancen auf eine Professur als potenzielle Mitbewerber aus anderen Schichten. So haben unter den Jura-Professoren 80 Prozent Eltern, die zur gehobenen oder hohen Schicht gehören, unter den Medizinprofessoren 72 Prozent. Und noch nie in 40 Jahren war der Anteil von Professoren aus der höchsten Schicht so hoch wie heute.

Im März 2014 berichtete Anja Kühne darüber in ihrem Artikel Die feinen Unterschiede machen den Professor – und sie berichtete nicht über vielleicht kleine Verbesserungen, sondern über das Gegenteil:

»… die Bedeutung der „feinen Unterschiede“ (Pierre Bourdieu) für die akademische Karriere hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Noch nie in 40 Jahren war der Anteil von Professoren aus der höchsten Schicht so hoch.«

Die Soziologin Christina Möller, auf deren Studie sich Kühne in ihrem Beitrag bezieht, macht einen Trend zur „sozialen Schließung der Universitätsprofessur“ aus.
Ein damals überraschendes Ergebnis übrigens:

»Und ausgerechnet die Juniorprofessur, von einer sozialdemokratischen Regierung eingeführt, um verkrustete Strukturen aufzubrechen, verschärft die soziale Exklusivität dramatisch.«

Möller hat sich den Zeitraum von 1971 bis zum Jahr 2010 angeschaut. Das bemerkenswerte Ergebnis:

»Deutlich zu erkennen ist, dass die Chancen auf eine Professur für Angehörige der obersten sozialen Schicht sich im Laufe der Jahrzehnte immer weiter verbessern – während die Chancen für die Angehörigen der untersten Schicht immer schlechter werden.«

Die klar erkennbare Öffnung der Hochschulen durch die Bildungsexpansion zeigt sich nicht bei der Berufung der Professoren, ganz im Gegenteil: Die Selektion zugunsten der höheren sozialen Schichten ist so scharf wie nie zuvor.

Einen kritischen Seitenhieb gab es damals schon im Lichte der Erkenntnisse hinsichtlich einer undifferenzierten Forderung nach einer „Frauenquote“ – angesichts des immer noch verheerend niedrigen Anteils an Frauen bei den Spitzenpositionen im Wissenschaftsbetrieb, also den Professuren, erst einmal eine durchaus nachvollziehbare Forderung. Aber:

»Der erst am Anfang stehende Aufstieg von Frauen auf Professuren kann darum zu Zielkonflikten führen, wie der Soziologe Michael Hartmann erläutert. Natürlich seien Frauen auf Professuren deutlich unterrepräsentiert. Aber: „Wenn man nur die Frauenquote im Auge hat, dann kann und wird das dazu führen, dass Bürgertöchter in größerer Anzahl höhere Positionen erreichen. Aber nicht auf Kosten der Bürgersöhne, sondern auf Kosten der Arbeitersöhne.“«

Man muss nicht immer nach möglichen Erklärungen suchen, wenn sie schon vorliegen. Auch Möller bezieht sich dabei auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002), der schon frühzeitig auf die Mechanismen, die hier eine Rolle spielen, hingewiesen hat, so beispielsweise 1971 in dem Buch „Die Illusion der Chancengleichheit“, das er gemeinsam mit Jean-Claude Passeron verfasst hat. In einer 1972 veröffentlichten Rezension des Buches schrieb Christian Graf von Krockow:

»Zugespitzt lautet die These von Bourdieu und Passeron: Das Bildungswesen, zumal das höhere, hilft nicht etwa die sozialen Ungleichheiten und Klassenprivilegien abzubauen, sondern im Gegenteil, es trägt entscheidend dazu bei, sie zu erhalten, indem es die Ungleichheit der Chancen in die dem modernen Bewußtsein einzig erträgliche Form kleidet – in die Illusion von Chancengleichheit und in den Schein einer Auslese auf Grund allgemeiner Leistungskriterien. Das vorgegebene Schicksal, entweder privilegiert oder diskriminiert zu sein, wird auf diese Weise maskiert, und zwar um so wirksamer, je perfekter formell die Chancengleichheit hergestellt wird.«

Wenn man das liest, dann wird verständlich, warum Krockow gerade damals, Anfang der 1970er Jahre und damit in den Aufbruchszeiten einer gewaltigen Bildungsexpansion in Deutschland, von einem unbequemen, provokativen Buch aus Frankreich sprach.
1982 wurde dann einer der Klassiker von Pierre Bourdieu in der deutschen Übersetzung vorgelegt: „Die feinen Unterschiede“ (im Original zuerst 1979 als La distinction. Critique sociale du jugement). Hierzu wieder Anja Kühne in ihrem Artikel Die feinen Unterschiede machen den Professor:

»Selbst wenn jemand aus einer unteren Schicht die gleiche „Begabung“ mitbringt, verhindern verdeckte soziale Mechanismen einen echten Bildungswettbewerb. Die Anforderungen des Bildungswesens sind so formuliert, dass sie den kulturellen Gewohnheiten (Habitus) der oberen Schichten entgegenkommen, während die Abkömmlinge unterer Schichten kulturelle Anpassungsleistungen zu erbringen haben und ob dieser Anstrengungen nun als „von Natur aus weniger begabt“ gelten als die scheinbar mühelos voranschreitenden Kinder aus höheren Schichten.«

Man kann es drehen und wenden wie man will, der Befund bleibt offensichtlich: Nach »einer Phase der „Verkleinbürgerung“ (Michael Hartmann) bei den Professoren in den sechziger und siebziger Jahren, werde nun wieder stärker aus bürgerlichen und großbürgerlichen Schichten rekrutiert.« Back to the roots, könnte man etwas zynisch formulieren.

Noch ein Hinweis zu den „Juniorprofessuren“, die gerade von denen, die eine Öffnung der Hochschulen und der Karrierewege im Hochschulsystem anstreben, als große Hoffnung eingeführt wurden, die soziale Selektivität durch diesen neuen, schnelleren Karriereschritt zurückzudrängen – nach den Befunden aus der Forschung ist genau das Gegenteil passiert, ein weiteres Beispiel für den bekannten Mechanismus: Mit guter Absicht starten und ganz woanders landen:

»Ausgerechnet bei den Juniorprofessoren geht es sozial am exklusivsten zu. Nur sieben Prozent stammen aus der niedrigsten, aber 62 Prozent aus der höchsten Herkunftsgruppe. Das überrascht, denn als neuer Weg auf eine Professur jenseits der Habilitation genoss die Juniorprofessur, die in NRW 2004 eingeführt wurde, an den Universitäten zunächst wenig Prestige. Deshalb wäre zu erwarten gewesen, dass sie für soziale Aufsteiger offener ist.
Möller zufolge kommt das Karriereformat der Juniorprofessur Wissenschaftlern aus der höchsten Gruppe aber besonders entgegen: Wer auf eine Juniorprofessur berufen wird, wird schon kurz nach der Promotion entschieden. Da Personen mit guter „kultureller Passung“, also dem richtigen Auftreten, an der Uni schneller Erfolge haben, wird die Juniorprofessur zuerst von ihnen besetzt. Die Wissenschaftler mit weniger privilegierter Herkunft können nicht schon über ihren Habitus beglaubigen, dass sie „dazu“gehören. Sie brauchen mehr Zeit, um den Nachweis über ihr Können zu führen – und werden folglich auch erst später berufen. Sollte die Juniorprofessur sich weiter verbreiten, ohne dass sich an der einseitigen sozialen Auswahl etwas ändert, rechnet Möller mit einer noch schärferen sozialen „Schließung der Universitätsprofessur“.«

Bourdieu lebt! Das ist dann wohl die Quintessenz, bis das Gegenteil bewiesen wird.

Literaturhinweise:

Angela Graf: Die Wissenschaftselite Deutschlands. Sozialprofil und Werdegänge zwischen 1945 und 2013. Campus 2015, 326 Seiten

Christina Möller: Wie offen ist die Universitätsprofessur für soziale Aufsteigerinnen und Aufsteiger? In: Soziale Welt, Heft 4/2013.