Zur Finanzierung der Grundschulen in Deutschland und dem offensichtlich nicht wirklich geschätzten Fundament der Bildungsbiografien

Für das Bildungssystem gilt eine vergleichbare Logik wie für das gewöhnliche Bauen: Das Fundament muss stimmen, sonst ist alle filigrane Feinarbeit in den höheren Stockwerken auf eine im wahrsten Sinne des Wortes wackelige Grundlage gestellt. Und man muss nun wirklich nicht noch einmal die vielen empirischen Studien der vergangenen Jahre und Jahrzehnte aufrufen, die zeigen, dass zum einen in der frühkindlichen Phase der ersten sechs Lebensjahre und dann in der Primarstufe, also den Grundschulen, die Basis gelegt wird (oder eben auch nicht) für die weitere Entfaltung der Bildungsbiografien der jungen Menschen.

Insofern wäre es rational und konsequent, wenn in einer Welt der begrenzten Ressourcen die immer knappen Mittel hinsichtlich ihrer Verteilung so gewichtet werden, dass sie vor allem da eingesetzt werden, wo man die größten Effekte realisieren kann. Und das wäre am Anfang der Bildungsbiografien, also in den ersten zehn Jahren der Kinder. Kurzum – am Anfang müssten wir die höchsten Bildungsausgaben und die besten Bedingungen für pädagogische (und heutzutage immer mehr auch sozialarbeiterische) Arbeit vorfinden. Nun wissen die meisten Beobachter der Wirklichkeit, dass es so gerade nicht ist, sondern ganzem Gegenteil gilt die gesellschaftspolitisch hoch brisante und letztendlich nur historisch zu erklärende Formel: Je älter die Kinder und Jugendlichen, desto mehr wird ausgegeben. Und die schlechtesten Arbeitsbedingungen für das Personal findet man in den ersten Lebensjahren der Kinder.

Auf diesen beklagenswerten Tatbestand wurde diese Tage erneut mit nackten Zahlen die Finanzierung der Grundschulen betreffend hingewiesen. Dazu hat der Bildungsökonom Klaus Klemm ein Gutachten veröffentlicht, in dem er einige Daten zusammengestellt hat:

Klaus Klemm: Finanzierung und Ausstattung der deutschen Grundschulen. Gutachten im Auftrag des Grundschulverbandes e.V., Essen, Juni 2016

Geld ist für Grundschulen Glückssache, so der Titel eines der Artikel, die über das Klemm-Gutachten berichten: »Hamburg gibt am meisten für seine Grundschüler aus, NRW ist Schlusslicht, zeigt ein Gutachten. Bildungsökonomen fordern daher: Schule dürfe nicht allein Ländersache sein.« Und die mit den Zahlen aufgezeigten Unterschiede allein auf der Ebene der Bundesländer sind erheblich: Während der Stadtstaat Hamburg 8.700 Euro pro Schüler und Jahr ausgibt, sind es im Schlusslicht Nordrhein-Westfalen lediglich 4.800 Euro. Im Schnitt geben die 16 Bundesländer an den öffentlichen Grundschulen 5.600 Euro (Jahr 2013) aus, deutlich weniger als für die Sekundarstufe I (5.900) und Sekundarstufe II (7.700 Euro). Ein Grundschulkind erhält mit durchschnittlich rund 24 Wochenpflichtstunden erheblich weniger Lernzeit als Heranwachsende in den weiterführenden Schulen (31 Stunden).
Und auch innerhalb der Bundesländer gibt es ganz erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Ausstattung zwischen den einzelnen Grundschulen.

Der Grundschulverband verweist in seiner Stellungnahme zum Klemm-Gutachten am Anfang auf die positiven Aspekte der Grundschulentwicklung trotz der schwierigen Rahmenbedingungen:

»In Deutschland sind die Grundschulen in ihrer Leistungsbilanz nicht mehr die „Hinterhöfe der Nation“ … Das hatte sich schon in den Leistungsstudien „IGLU“ (2001 ff.) angedeutet. Bei diesen internationalen Leistungsvergleichen erreichten die deutschen Schüler/innen in den letzten Jahren Plätze im oberen Viertel. Bei der Finanzierung und Ausstattung der Grundschule landet Deutschland – als einer der reichsten Staaten – inzwischen zumindest im OECD-Mittelfeld … und auch im innerdeutschen Vergleich hat die Grundschule ihren Rückstand gegenüber der Sekundarstufe I und II etwas aufgeholt … Zudem sind die Klassen bis 2014 kleiner geworden …, was sich aktuell allerdings wieder zu ändern scheint.«

Nicht zu übersehen sind die Schattenseiten der Grundschulentwicklung:

»Andere international wichtige Vergleichsländer wie die USA, das Vereinigte Königreich, Schweden, die Schweiz und Österreich geben für die ersten vier Grundschuljahre erheblich mehr aus als das reiche Deutschland: Wenn man die Ausgaben – unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Kaufkraft der Währungen – in Euro angibt, so zeigt sich, dass Deutschland mit etwa 6.100 € pro Jahr und Schüler/in deutlich weniger ausgibt als viele Länder, die mehr als jährlich 6.700 Euro verausgaben … Vor allem erhalten die Kinder in den anderen OECD- Staaten während der ersten vier Schuljahre mit durchschnittlich gut 3.000 deutlich mehr Unterricht als die Kinder in Deutschland mit durchschnittlich gut 2.800 Zeitstunden.«

In Europa liegen die Niederlande mit 3.640 Stunden ganz vorne.

Und die offensichtliche Unterfinanzierung der Grundschulen muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass diese mit erheblich gewachsenen Anforderungen konfrontiert werden. Der Grundschulverband hebt drei Aspekte hervor.

1. Im Vergleich zu anderen Schulformen sind die Grundschulen am weitesten in der Entwicklung zu inklusiven Schulen. Die führt angesichts der knappen Personaldecke – insbesondere bei Ausfällen durch Krankheit – regelmäßig zur Überforderung des Personals im Alltag, zum Beispiel bei der Versorgung körperbehinderter Kinder.
2. Auch das Ganztagsangebot ist im Grundschulbereich am größten. Wenn der Nachmittag nicht zu einem bloßen Anhängsel werden soll, sind die Grundschulen in einem besonderen Maße bei der Planung, Abstimmung und Betreuung der pädagogischen Angebote gefordert. Hier fehlt Zeit und Geld.
3. In vielen Grundschulen kommen 30% oder mehr der Kinder aus Armutsfamilien. Das macht schon den Fachunterricht erheblich schwieriger, es überfordert die Lehrer/innen aber auch oft in ihrer Zusatzfunktion als Sozialpädagogin oder Sozialarbeiter.

Und vor diesem Hintergrund muss man dann auch zur Kenntnis nehmen, dass in der letztendlich nur ständestaatlich zu verstehenden Bildungshierarchie die Grundschullehrer/innen, wobei es unter diesen kaum noch Männer gibt, die am schlechtesten besoldete bzw. vergütete Lehrer-Gruppe ist. Und vor kurzem wurde darüber diskutiert: Grundschulleiter? Auf den Job haben Lehrer keine Lust, so haben Freia Peters und Marcel Pauly ihren Artikel überschrieben.

»In Deutschland gibt es etwa 10.000 Grundschulen, etwa 1.000 von ihnen haben keine Leitung. Am schlimmsten ist die Situation in Berlin und in Nordrhein-Westfalen. An Rhein und Ruhr haben von 2787 Grundschulen 345 keine Schulleiter und 670 keinen Stellvertreter … Schüler, Lehrer, Erzieher und Eltern leiden, wenn die Schulleitung über einen längeren Zeitraum nicht besetzt ist. Rektoren können einer Schule zum Aufstieg verhelfen – oder sie in den Abgrund treiben. Die Situation ist drastischer, als die Zahlen belegen. In Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz etwa werden die unbesetzten Stellen nicht vom Landesbildungsministerium erfasst – zuständig sind die einzelnen Regierungspräsidien und Schulämter. Aber auch hier ist die Tendenz klar. Laut dem Philologenverband bleiben etwa auch in Rheinland-Pfalz einige Schulleiterstellen sogar über mehrere Jahre unbesetzt.«

Bei der Frage nach dem Warum für diese Misere landet man auch wieder bei dem Geld. „Die Bezahlung für Schulleiter an Grundschulen ist völlig unattraktiv“, sagt Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung, zitiert. »Wer in einer kleinen Schule mit weniger als 180 Schülern vom Lehrer zum Schulleiter aufsteigt, bekommt 180 Euro im Monat mehr. Da lehnen die meisten verständlicherweise dankend ab. Zu enorm ist das Mehr an Aufgaben für eine winzige Summe an zusätzlichem Gehalt.«

Und neben dem mickrigen Zuschlag zum Gehalt: „Die Leitungszeit, die Schulleiter … zugesprochen bekommen, ist viel zu gering. Die vielen Aufgaben sind in der dafür gewährten Zeit schlicht nicht zu schaffen“, so Beckmann.

»Ein Lehrer in Vollzeit muss 28 Stunden wöchentlich unterrichten. Ein Schulleiter wird nur von einem Teil des Unterrichts befreit. Bei einer kleinen Schule muss der Rektor noch die Hälfte der Stunden geben, also 14 pro Woche. Zählt man pro Stunde Unterricht eine Stunde Vorbereitung, verbleiben bei einer 40-Stunden-Woche noch zwölf Stunden, in denen sich ein Schulleiter um die Leitungsaufgaben kümmern könnte.«

Man könnte jetzt noch ergänzend anführen, dass viele Schulleiter an Grundschulen „selbstverständlich“ kein voll besetztes Schulsekretariat haben, sondern eine Schulsekretärin für eine Handvoll Stunden in die Schule kommt, weil mehr nicht bewilligt wurde. Keine Klitsche in der normalen Wirtschaft würde unter solchen Bedingungen arbeiten. Bei unseren Grundschulen ist das aber ganz normale Realität und insofern kann man sich nur wundern, dass es immer noch so viele Masochisten gibt, die sich eine Leitungsstelle antun.

Und die Leitung einer Schule ist von ganz grundlegender Bedeutung. In dem Artikel  Grundschulleiter? Auf den Job haben Lehrer keine Lust wird die engagierte Brigitte Unger, Schulleiterin der Karlsgartenschule in Berlin-Neukölln, einer großen Grundschule mit 420 Kindern in einem sozialen Brennpunkt, mit diesen Worten zitiert:
„Es gibt niemanden, der einen auf diesen Job vorbereitet“. Auf einmal muss man betriebswirtschaftliche Aufgaben erfüllen, die Kollegen sind aber alle früher Lehrer gewesen und wissen nicht, wie man Stellen ausschreibt und 300.000 Euro verwaltet.“

Und dann dieser Passus, der de Bedeutung der Leitungsebene prägnant zusammenfasst:

„Ohne Schulleitung geht es nicht“, sagt Unger. „Dann hat niemand einen Überblick über die Lehrer, die kommen nicht zu den Konferenzen, es gibt keine klare Haltung, keinen Respekt.“ Es müsse jemanden geben, der sagt, wo es langgeht, der Ideen entwickelt, mit dem Schulamt auf Augenhöhe kommuniziert. „Denen muss man auf den Füßen stehen“.

Ach ja: Brigitte Unger geht in diesem Sommer in Rente, vier Wochen ist sie noch im Dienst. Dann wird wieder eine Stelle frei.

Die soziale Spaltung schon ganz am Anfang der Schullaufbahn verschärft sich. Wenn die Grundschule frei gewählt werden kann

Die Debatten über die Schulstrukturen in Deutschland sind wohl nicht mehr zu zählen. Gesamtschule, Gemeinschaftsschule, Werkrealschulen, Stadtteilschule, Realschule plus (oder minus?) – die Liste ließe sich beliebig erweitern und zum Gegenstand eines eigenen Studiengangs machen.
Aber eine Schulform sollte doch immer wieder hervorgehoben werden – gleichsam die einzige „wirkliche“ Gemeinschaftsschule, die wir in unserem Land haben (also dem Grunde nach): die Grundschule. Das hängt mal wieder mit einem relativ einfachen Ordnungsprinzip zusammen: Fast überall in Deutschland gilt bei Grundschulen das Sprengelprinzip (auch als „Kurze Beine, kurze Wege“ umschrieben). Die Kinder müssen die nächstgelegene Schule besuchen. Egal, ob sie aus „guten“ oder „schlechten“ Elternhäusern kommen, ob sie der deutschen Sprache mächtig sind oder nicht. Alle kommen sie in die gleiche Schule, die dann im Regelfall der Bundesländer vier Jahre Zeit hat, sie gemeinsam für die weitere Schulkarriere zu prägen. Wobei – das sei den folgenden Ausführungen vorangestellt – genau dieses Sprengelprinzip natürlich den Keim der sozialen Spaltung in sich trägt, wenn man realistischerweise eine weitere Dimension der Einschulung in die (vermeintliche) Gemeinschaftsschule bedenkt: die soziale Segregation in den Städten. Denn die nächstgelegene Grundschule wird eine andere sein hinsichtlich der Zusammensetzung der Schülerschaft, wenn sie sich in einem Viertel befindet, das man als „sozialen Brennpunkt bezeichnen muss, oder aber in einer gut situierten Mittelschichtsgegend angesiedelt ist. Bereits durch die teilweise erhebliche sozialräumliche Segregation haben wir enorme Unterschiede bei der Zusammensetzung der Grundschüler.

Das sind einige Befunde aus einer neuen Studie von großem Interesse: Freie Grundschulwahl verschärft die soziale Trennung von Schülern, berichtet die Bertelsmann-Stiftung, die eine entsprechende Untersuchung in Auftrag gegeben hat. Die Studie wurde vom Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (ZEFIR) an der Ruhr-Universität Bochum und der Stadt Mülheim an der Ruhr erstellt:

Thomas Groos: Gleich und gleich gesellt sich gern. Zu den sozialen Folgen freier Grundschulwahl, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2016

Untersucht wurde das Wahlverhalten von Eltern in Mülheim an der Ruhr über einen Zeitraum von vier Jahren: 2008 bis 2011. Knapp 4000 Kinder wurden in diesen Jahren eingeschult. Warum hat man diesen Zeitraum gewählt? In Nordrhein-Westfalen hatte die Regierung aus CDU und FDP im Schuljahr 2008/2009 das Sprengelprinzip abgeschafft und die freie Schulwahl erlaubt – mithin ergab sich damit in der Realität die Möglichkeit, die Auswirkungen dieser Maßnahme zu untersuchen. Eine Wahlfreiheit bei Grundschulen gibt es in Deutschland nach Angaben der Stiftung auf Länderebene außer in NRW bislang nur in Hamburg. Es wird aber in anderen Bundesländern darüber diskutiert, diesen Weg einzuschlagen (vgl. dazu  „Gleich und gleich gesellt sich gern“).

Das zentrale und nicht wirklich überraschende Ergebnis der Untersuchung wird bereits im Titel der veröffentlichten Studie auf den Punkt gebracht: „Gleich und gleich gesellt sich gern“. Die Bertelsmann-Stiftung schreibt in ihrer Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse:

»Der Anteil an Kindern, die eine andere als die ehemals zuständige Grundschule besuchen, stieg seit Aufhebung der Grundschulbezirksbindung in Nordrhein-Westfalen im Schuljahr 2008/09 deutlich. Der Grund: Ein sozial stark selektives Wahlverhalten der Eltern. Mittlerweile suchen rund 25 Prozent von ihnen für ihre Kinder eine andere als die eigentlich zugeordnete Grundschule aus – ein Anstieg um 15 Prozent. Die Folgen: Die Kinder der einzelnen sozialen Schichten bleiben bereits während der Grundschulzeit zunehmend unter sich und in manchen benachteiligten Wohnquartieren kommt es zu einer starken Schülerabwanderung.«

Und auch in dieser Untersuchung wird die vorgängig vorhandene soziale Spaltung auf der räumlichen Ebene erkennbar: »Eltern mit niedrigem Bildungsstatus und solche mit Migrationshintergrund wählen für ihre Kinder meistens die nahegelegene Grundschule. Weniger als 19 Prozent von ihnen suchen eine andere als die zuständige Schule aus. Sie sind in der Regel nur eingeschränkt mobil und bewegen sich überwiegend im eigenen Wohnbezirk. Auch Eltern mit hohem Sozialstatus machen von der freien Schulwahl eher seltener Gebrauch, da sie meist in sozial homogenen Einzugsbereichen wohnen.«

Die festgestellte Zunahme der sozialen Spaltung ist der Ergebnis von Wahlentscheidungen in der Mitte: »Es sind vor allem Eltern aus der Mittelschicht, die die freie Grundschulwahl nutzen. Ist die zuständige Grundschule der Kinder sozial benachteiligt, wird diese von Eltern mit hoher oder mittlerer Bildung gemieden. Lediglich jede dritte Familie mit hoher oder mittlerer Bildung schickt ihr Kind auf eine sozial benachteiligte Schule.«

Der Studie zufolge führt die freie Schulwahl an einigen Schulen zu einem massiven Schülerschwund.

Was tun? Der Verfasser der Studie, Thomas Groos, schlägt »die Einführung eines sogenannten Sozialindex vor. Der solle die soziale Struktur der Schulen transparent machen. Benachteiligte Schulen in sozialen Brennpunkten könnten dann besser ausgestattet werden, etwa mit mehr Lehrern. Damit könnten diese Schulen so gut werden, „dass ihre Qualität auch bildungsaffine Eltern überzeugt“«, so der Hinweis in dem Artikel Studie: Schultourismus führt zu sozialer Spaltung.
Dazu gibt es eine eigene Veröffentlichung:

Thomas Groos: Schulsegregation messen. Sozialindex für Grundschulen, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2016

Dieser Ansatz ist auch und gerade vor dem Hintergrund der bereits angesprochenen vorgängigen sozialen Segregation in vielen Städten von Bedeutung, die auch ohne freie Schulwahl dazu führen muss, dass sich die Zusammensetzung der Grundschulen hinsichtlich des familialen Hintergrunds der Schüler teilweise erheblich unterscheidet. Vor diesem Hintergrund wäre dann eine unterschiedliche Zuteilung der Ressourcen an die Schulen nach dem Grundsatz „Ungleiches ungleich behandeln“ durchaus ein diskussionswürdiger Ansatz. Es muss an dieser Stelle der Hinweis darauf genügen, dass das Grundproblem einer die vorhandene soziale Spaltung verschärfenden Entmischung der Bildungseinrichtungen bereits vor dem Eintritt in die Grundschule, also hinsichtlich der Wahl und Inanspruchnahme der Kindertageseinrichtungen relevant ist – und auch hier gibt es immer wieder die Forderung, unterschiedliche Herausforderungen auch unterschiedlich zu berücksichtigen bei der Mittelausstattung, um auf diesen Weg die beobachtbare Polarisierung zwischen den Kindern vom einen und vom anderen Ende der Skala wenigstens abzumildern.

Man muss sich aber mit Blick auf die verantwortlichen Politiker und einer möglichen Umsetzung der Forderung das Dilemma klar vor Augen führen, das mit einem Beschreiten dieses Weges verbunden wäre: Sie müssten dafür eintreten, die immer begrenzten Haushaltsmittel differenziert einzusetzen, im Klartext: Eine Kita und eine Grundschule mit vielen Herausforderungen, beispielsweise durch einen hohen Anteil nicht-deutschsprachiger Kinder oder in einem sozial hoch belasteten Stadtviertel, müssten deutlich höhere Zuweisungen bekommen als solche Einrichtungen in einem gut situierten Stadtteil. Und man kann sich vorstellen, dass es nicht einfach wird, diese Umverteilung (und natürlich faktische Schlechterbehandlung der Kinder aus den besser aufgestellten Räumen) denjenigen verständlich zu machen, die sich zugleich durch die höchste Wahlbeteiligung ausreichen, während gerade in den von so einem Ansatz profitierenden Stadtteilen die Wahlbeteiligung in aller Regel deutlich niedriger ausfällt.

Bourdieu lebt! Die zunehmende „sozialen Schließung“ im Wissenschaftssystem in Zeiten einer Durchlässigkeit für alle verheißenden Bildungsexpansion

Unsere Gesellschaft ist ja so durchlässig geworden. Alle sind ihres Glückes Schmied, wird uns fortwährend mitgeteilt. Und noch nie seien die Chancen für einen sozialen Aufstieg so groß gewesen und außerdem – wer in Bildung investiert, der kann alles erreichen. Aber wie so oft im Leben klafft eine große Lücke zwischen den Versprechungen und dem, was man tatsächlich vorfindet. Anders und gleich härter formuliert: Das Gegenteil scheint der Fall zu sein, wenn man ein Blick wirft auf das Wissenschaftssystem. Nicht weniger, sondern im Vergleich zu früher sogar noch mehr soziale Schließung ist zu beobachten.

Nach Leistung geht es in der Wissenschaft, und nochmals nach Leistung! Wer hier vorankommt, gehört zu den Besten. So stellt sich die deutsche Wissenschaft selbst gerne dar. Aber aus jedem Marketingansatz wissen wir – Übertreibung ist das eine, Realität nicht selten das andere. Eine neue Studie legt wieder einmal den Finger auf den Tatbestand, dass nicht nur immer schon die soziale Herkunft einen erheblichen Einfluss auf die Karriereentwicklung hatte, sondern entgegen der landläufigen Wahrnehmung dieser Einfluss auf die Elitebildung in den vergangenen Jahren gestiegen ist.

Damit beschäftigt sich Anja Kühne in ihrem Artikel Die Ultra-Elite stammt aus bestem Hause. Und auch die Auseinandersetzung mit den neuen Forschungsbefunden verdeutlicht – die Klassengesellschaft ist nicht tot zu kriegen, ganz im Gegenteil. Untersucht wurde eine ganz spezielle Gruppe unter den Akademikern – die, die es auf die höchsten Stufen des Systems geschafft haben:

»Wie sieht es nun in der Gruppe derjenigen Professoren aus, die von ihren peers in eine Führungsposition gewählt wurden – als Wissenschaftsmanager, Nobelpreisträger oder Preisträger des in Deutschland hoch angesehenen Leibniz-Preises? Mit diesen „Besten der Besten“, also der wissenschaftlichen Ultra-Elite, hat sich die Darmstädter Soziologin Angela Graf in ihrer Dissertation befasst. Betreuer war wie bei Möller der Darmstädter Elitenforscher Michael Hartmann. Grafs Ergebnis: Seit siebzig Jahren stammt die Wissenschaftselite zu fast zwei Dritteln aus den höheren Schichten.«

Graf wertete für ihre Studie die Werdegänge von 407 Mitgliedern der Wissenschaftselite im Zeitraum zwischen 1945 und 2013 aus. Sie stellt „eine enorme soziale Exklusivität der Wissenschaftselite“ fest.
Und dann kommt ein Befund, der alle Optimisten, dass die alte Stände- und Klassengesellschaft ein Auslaufmodell darstellt, frustrieren muss:

»Auch die Bildungsexpansion, die seit den siebziger Jahren für eine gemischtere Studierendenschaft gesorgt hat, hat an der sozialen Exklusivität nichts geändert: Von 1985 bis heute werden 65 Prozent der Ultra-Elite aus einer hauchdünnen Bevölkerungsschicht rekrutiert: aus dem gehobenen Bürgertum und dem Großbürgertum, denen nur 3,5 Prozent der Bevölkerung angehören.«

Die Arbeit von Graf bleibt keineswegs stehen bei der Darstellung der Daten. Sie setzt sich auch auseinander mit den Ursachen.

»Graf will keineswegs in Abrede stellen, dass die Voraussetzung für den Aufstieg auf eine Spitzenposition in der deutschen Wissenschaft Leistung ist. Doch wissenschaftliche Leistung sei ein soziales Konstrukt. Was als Leistung gilt, bestimmen andere Personen, insbesondere solche, die für ihre Leistung in der Wissenschaft anerkannt sind („legitime Feldmitglieder“). Ob jemandem eine hohe Leistungsfähigkeit zugeschrieben wird, hänge dabei nicht zuletzt von seinem sozialen Habitus ab – von der Art, wie er seine „wissenschaftlichen Produkte“, etwa Schriftstücke oder Vorträge, „vermarktet“, in dem er etwa die „richtige“ Sprache und das „richtige“ Publikationsorgan wählt und „souverän“ auftritt.«

Die Kombination von „faktischer Leistung“ und „persönlichem Vermarkten“ erweist sich laut Graf als „ein Einfallstor für nichtmeritokratische Faktoren“, also für den Einfluss der sozialen Herkunft.

Vorteile der Sozialisation in einem Akademikerhaushalt verbinden sich mit der Bedeutung der materiell besseren Ausstattung:

»Die Nachkommen aus dem Großbürgertum, besonders die Kinder von Professoren, würden davon profitieren, dass sie die Regeln in der Wissenschaft besser kennen. Und weil sie meist durch ihre Herkunftsfamilie finanziell gut abgesichert seien, könnten sie beruflich auch „risikoreichere Strategien gefahrlos wählen“. So würden sie über „deutlich größere Handlungsspielräume“ verfügen als Abkommen aus anderen Schichten.«

Eine interessante Differenzierung liefert der folgende Passus:

»Unterschiede zwischen den Preisträgern („Prestigeelite“) und den Wissenschaftsmanagern („Positionselite“) gibt es auch bei der Herkunft. Viele Wissenschaftsmanager stammen aus dem Wirtschaftsbürgertum. Aber nur jeder zehnte hat einen Vater, der Professor war. Hingegen kommt jeder vierte deutsche Nobelpreisträger – wie Thomas Südhof – aus einer Professorenfamilie. Für besonderen wissenschaftlichen Erfolg sei die familiäre Nähe zur Wissenschaft bedeutsam.«

Angela Graf sieht das alles kritisch – selbst aus der Perspektive „des Systems“:

»Die Selektion aus nur einem kleinen Pool von Menschen wirke sich auch auf die Leistungskraft des Wissenschaftssystems aus. Potenzielle Spitzenkräfte gingen verloren – darunter auch jene, die sich die zunehmend prekären Arbeitsbedingungen auf dem Weg zur Professur wegen ihrer sozialen Herkunft nicht leisten könnten.«

Die neuen Befunde sind leider passungsfähig zu den vorliegenden empirischen Ergebnissen hinsichtlich der allgemeinen Rekrutierung der Professorenschaft. Dazu wurde anlässlich einer Studie von Christina Möller (Wie offen ist die Universitätsprofessur für soziale Aufsteigerinnen und Aufsteiger?) berichtet, die ihre Doktorarbeit ebenfalls bei dem Elitenforscher Michael Hartmann von der TU Darmstadt verfasst hat. Wer aus der gehobenen sozialen Schicht kommt, hat demnach erheblich höhere Chancen auf eine Professur als potenzielle Mitbewerber aus anderen Schichten. So haben unter den Jura-Professoren 80 Prozent Eltern, die zur gehobenen oder hohen Schicht gehören, unter den Medizinprofessoren 72 Prozent. Und noch nie in 40 Jahren war der Anteil von Professoren aus der höchsten Schicht so hoch wie heute.

Im März 2014 berichtete Anja Kühne darüber in ihrem Artikel Die feinen Unterschiede machen den Professor – und sie berichtete nicht über vielleicht kleine Verbesserungen, sondern über das Gegenteil:

»… die Bedeutung der „feinen Unterschiede“ (Pierre Bourdieu) für die akademische Karriere hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Noch nie in 40 Jahren war der Anteil von Professoren aus der höchsten Schicht so hoch.«

Die Soziologin Christina Möller, auf deren Studie sich Kühne in ihrem Beitrag bezieht, macht einen Trend zur „sozialen Schließung der Universitätsprofessur“ aus.
Ein damals überraschendes Ergebnis übrigens:

»Und ausgerechnet die Juniorprofessur, von einer sozialdemokratischen Regierung eingeführt, um verkrustete Strukturen aufzubrechen, verschärft die soziale Exklusivität dramatisch.«

Möller hat sich den Zeitraum von 1971 bis zum Jahr 2010 angeschaut. Das bemerkenswerte Ergebnis:

»Deutlich zu erkennen ist, dass die Chancen auf eine Professur für Angehörige der obersten sozialen Schicht sich im Laufe der Jahrzehnte immer weiter verbessern – während die Chancen für die Angehörigen der untersten Schicht immer schlechter werden.«

Die klar erkennbare Öffnung der Hochschulen durch die Bildungsexpansion zeigt sich nicht bei der Berufung der Professoren, ganz im Gegenteil: Die Selektion zugunsten der höheren sozialen Schichten ist so scharf wie nie zuvor.

Einen kritischen Seitenhieb gab es damals schon im Lichte der Erkenntnisse hinsichtlich einer undifferenzierten Forderung nach einer „Frauenquote“ – angesichts des immer noch verheerend niedrigen Anteils an Frauen bei den Spitzenpositionen im Wissenschaftsbetrieb, also den Professuren, erst einmal eine durchaus nachvollziehbare Forderung. Aber:

»Der erst am Anfang stehende Aufstieg von Frauen auf Professuren kann darum zu Zielkonflikten führen, wie der Soziologe Michael Hartmann erläutert. Natürlich seien Frauen auf Professuren deutlich unterrepräsentiert. Aber: „Wenn man nur die Frauenquote im Auge hat, dann kann und wird das dazu führen, dass Bürgertöchter in größerer Anzahl höhere Positionen erreichen. Aber nicht auf Kosten der Bürgersöhne, sondern auf Kosten der Arbeitersöhne.“«

Man muss nicht immer nach möglichen Erklärungen suchen, wenn sie schon vorliegen. Auch Möller bezieht sich dabei auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002), der schon frühzeitig auf die Mechanismen, die hier eine Rolle spielen, hingewiesen hat, so beispielsweise 1971 in dem Buch „Die Illusion der Chancengleichheit“, das er gemeinsam mit Jean-Claude Passeron verfasst hat. In einer 1972 veröffentlichten Rezension des Buches schrieb Christian Graf von Krockow:

»Zugespitzt lautet die These von Bourdieu und Passeron: Das Bildungswesen, zumal das höhere, hilft nicht etwa die sozialen Ungleichheiten und Klassenprivilegien abzubauen, sondern im Gegenteil, es trägt entscheidend dazu bei, sie zu erhalten, indem es die Ungleichheit der Chancen in die dem modernen Bewußtsein einzig erträgliche Form kleidet – in die Illusion von Chancengleichheit und in den Schein einer Auslese auf Grund allgemeiner Leistungskriterien. Das vorgegebene Schicksal, entweder privilegiert oder diskriminiert zu sein, wird auf diese Weise maskiert, und zwar um so wirksamer, je perfekter formell die Chancengleichheit hergestellt wird.«

Wenn man das liest, dann wird verständlich, warum Krockow gerade damals, Anfang der 1970er Jahre und damit in den Aufbruchszeiten einer gewaltigen Bildungsexpansion in Deutschland, von einem unbequemen, provokativen Buch aus Frankreich sprach.
1982 wurde dann einer der Klassiker von Pierre Bourdieu in der deutschen Übersetzung vorgelegt: „Die feinen Unterschiede“ (im Original zuerst 1979 als La distinction. Critique sociale du jugement). Hierzu wieder Anja Kühne in ihrem Artikel Die feinen Unterschiede machen den Professor:

»Selbst wenn jemand aus einer unteren Schicht die gleiche „Begabung“ mitbringt, verhindern verdeckte soziale Mechanismen einen echten Bildungswettbewerb. Die Anforderungen des Bildungswesens sind so formuliert, dass sie den kulturellen Gewohnheiten (Habitus) der oberen Schichten entgegenkommen, während die Abkömmlinge unterer Schichten kulturelle Anpassungsleistungen zu erbringen haben und ob dieser Anstrengungen nun als „von Natur aus weniger begabt“ gelten als die scheinbar mühelos voranschreitenden Kinder aus höheren Schichten.«

Man kann es drehen und wenden wie man will, der Befund bleibt offensichtlich: Nach »einer Phase der „Verkleinbürgerung“ (Michael Hartmann) bei den Professoren in den sechziger und siebziger Jahren, werde nun wieder stärker aus bürgerlichen und großbürgerlichen Schichten rekrutiert.« Back to the roots, könnte man etwas zynisch formulieren.

Noch ein Hinweis zu den „Juniorprofessuren“, die gerade von denen, die eine Öffnung der Hochschulen und der Karrierewege im Hochschulsystem anstreben, als große Hoffnung eingeführt wurden, die soziale Selektivität durch diesen neuen, schnelleren Karriereschritt zurückzudrängen – nach den Befunden aus der Forschung ist genau das Gegenteil passiert, ein weiteres Beispiel für den bekannten Mechanismus: Mit guter Absicht starten und ganz woanders landen:

»Ausgerechnet bei den Juniorprofessoren geht es sozial am exklusivsten zu. Nur sieben Prozent stammen aus der niedrigsten, aber 62 Prozent aus der höchsten Herkunftsgruppe. Das überrascht, denn als neuer Weg auf eine Professur jenseits der Habilitation genoss die Juniorprofessur, die in NRW 2004 eingeführt wurde, an den Universitäten zunächst wenig Prestige. Deshalb wäre zu erwarten gewesen, dass sie für soziale Aufsteiger offener ist.
Möller zufolge kommt das Karriereformat der Juniorprofessur Wissenschaftlern aus der höchsten Gruppe aber besonders entgegen: Wer auf eine Juniorprofessur berufen wird, wird schon kurz nach der Promotion entschieden. Da Personen mit guter „kultureller Passung“, also dem richtigen Auftreten, an der Uni schneller Erfolge haben, wird die Juniorprofessur zuerst von ihnen besetzt. Die Wissenschaftler mit weniger privilegierter Herkunft können nicht schon über ihren Habitus beglaubigen, dass sie „dazu“gehören. Sie brauchen mehr Zeit, um den Nachweis über ihr Können zu führen – und werden folglich auch erst später berufen. Sollte die Juniorprofessur sich weiter verbreiten, ohne dass sich an der einseitigen sozialen Auswahl etwas ändert, rechnet Möller mit einer noch schärferen sozialen „Schließung der Universitätsprofessur“.«

Bourdieu lebt! Das ist dann wohl die Quintessenz, bis das Gegenteil bewiesen wird.

Literaturhinweise:

Angela Graf: Die Wissenschaftselite Deutschlands. Sozialprofil und Werdegänge zwischen 1945 und 2013. Campus 2015, 326 Seiten

Christina Möller: Wie offen ist die Universitätsprofessur für soziale Aufsteigerinnen und Aufsteiger? In: Soziale Welt, Heft 4/2013.

Was ist noch normal und was ist schon krank, was ist nicht zu vermeiden und wo muss man was tun? Die gesundheitliche Lage der Studierenden und der höchst ambivalente Lockruf des Geldes. Zugleich eine Frage nach dem (Un)Sinn des Scheiterns

2,7 Millionen Studie­rende im Winter­semester 2014/2015 – noch nie waren so viele Studierende an den deutschen Hochschulen eingeschrieben, meldete bereits im November des vergangenen Jahres das Statistische Bundesamt. Und für viele Bildungspolitiker markiert das Jahr 2013 eine historische Zäsur in unserem Bildungssystem, denn in diesem Jahr haben erstmals mehr zumeist junge Menschen ein Hochschulstudium aufgenommen als eine duale Berufsausbildung angefangen. Der eine oder die andere wird sich an dieser Stelle zu Recht erinnert fühlen an die seit einigen Jahren laufende Debatte über einen (angeblichen) „Akademisierungswahn“ in unserer Gesellschaft und dem schrittweisen Absinken des doch ebenfalls angeblich weltweit so einmaligen deutschen Berufsausbildungssystems in eine Risikozone mit wenig Sauerstoff für die Akteure und einem möglicherweise anstehenden Tod auf Raten. Darum aber soll es an dieser Stelle gar nicht gehen. Auch nicht um die Tatsache, dass die steigenden Studierendenzahlen auf ein System treffen, das nicht nur höchst komplex angelegt und seit Jahren an den Auswirkungen eines „Systemwechsels“ (gemeint ist hier die Umstellung auf die Bachelor-/Master-Studiengänge im Gefolge der deutschen Umsetzung der „Bologna-Reformen“) laboriert, verbunden mit der Tatsache, dass es sich bei den Hochschulen um die pädagogischen Einrichtungen handelt, die zum einen die schlechtesten Relationen zwischen Lehrpersonal und Lernenden aufweisen, zum anderen treffen die Studierenden hier auf die ansonsten im Bildungssystem recht einmalige Konstellation, dass der Großteil der Lehrenden per Akklamation zu „Pädagogen“ erklärt worden ist, die sie aber gar nicht sind und bei denen man dann hoffen kann und muss, dass sie sich pädagogisch „richtig“ verhalten, wobei das „Richtige“ in der Pädagogik bekanntlich eine eigene Dimension darstellt.

In diesem Kontext muss man dann folgende Meldungen zur Kenntnis nehmen: »Der Trend steigender Fehlzeiten setzt sich fort. 2014 waren Erwerbspersonen durchschnittlich 14,8 Tage krankgeschrieben. Das entspricht einem Krankenstand von 4,06 Prozent, der damit um 1,0 Prozent höher liegt als im Jahr zuvor. Dabei sind insbesondere Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen erneut gestiegen. Besonders besorgniserregend sind die gesundheitlichen Belastungen unter Studierenden. Bei dieser Gruppe zeigen die Auswertungen eine deutliche Zunahme an Verordnungen von Psychopharmaka«, berichtet die Techniker Krankenkasse (TKK) unter der Überschrift Mehr als jeder 5. Studierende bekommt eine psychische Diagnose. Die gesundheitliche Lage der Studierenden ist der Themenschwerpunkt des neuen Gesundheitsreport der TKK (Gesundheitsreport 2015. Gesundheit von Studierenden).

Die beunruhigend daherkommende Botschaft wurde sogleich aufgegriffen von den Medien: Mit Alkohol gegen Prüfungsstress, so hat die FAZ ihren Artikel überschrieben, die Ärzte Zeitung behauptet gar Viele Studenten sind depressiv, womit man schon sehr weit geht, denn das kommt wie eine Tatsache daher, wobei man anmerken sollte, dass eine Diagnose gerade in diesem Bereich durchaus erst einmal eine Vermutung oder vielleicht sogar nicht zutreffend sein kann.

Zuerst einmal einige Erkenntnisse aus dem Gesundheitsreport 2015 der TKK. Zur Datenbasis sei angemerkt: Die TKK hatte für die Erhebung Arzneimittel- und Diagnosedaten von rund 190.000 Studierenden ausgewertet und diese mit den Daten von gleichaltrigen Berufstätigen verglichen. Ergänzend dazu war auch ein repräsentativer Querschnitt von 1000 Studentinnen und Studenten zu ihrem Lebensstil befragt worden.

Bei 21,4 Prozent der Studierenden in Deutschland wurde 2013 eine psychische Erkrankung diagnostiziert. Die Betroffenen litten am häufigsten unter einer Depression. Der Anteil der Studierenden mit einer psychischen Diagnose ist somit seit 2009 um 4,3 Prozent gestiegen. 4,3 Prozent der Studenten haben 2013 eine Psychotherapie begonnen, rund sechs Prozent ließen sich stationär behandeln. Knapp vier Prozent der Studierenden erhielten Antidepressiva. Mit rund 257 Tagesdosen im Jahr wurden sie somit über zwei Drittel des Jahres mit Medikamenten versorgt.
Hinzu kommt ein „Geschlechter-Bias“, denn betroffen sind vor allem die Studentinnen. Bei rund 30 Prozent von ihnen wurde 2013 eine psychische Störung diagnostiziert, doppelt so häufig wie bei ihren männlichen Kollegen (15 Prozent).

Susanne Werner berichtet in ihrem Artikel Viele Studierenden sind depressiv auch über eine Interpretation der Befunde, die scheinbar fassungsfähig daherkommt zu den Erwartungen, die viele mit solchen Daten verbinden werden:

»Der Grund für die zunehmenden Diagnosen psychischer Störungen ist offenbar im „Stresslevel auf dem Campus“ zu finden. Rund die Hälfte der Studierenden gaben in der Befragung an, regelmäßig unter Stress zu stehen, etwa ein Viertel fühlte sich sogar „unter Dauerdruck“.
Zu den zentralen Belastungsfaktoren zählten die Befragten Prüfungsstress, Doppelbelastung durch Studium und Jobben, finanzielle Sorgen, die Angst vor schlechten Noten sowie das Bangen, später keinen Job zu finden.«

Das wird sicher auch die erste Vermutung vieler Leser gewesen sein und mithin deshalb „passungsfähig“, weil es sich einordnen lässt in einen allgemeinen Diskurs über die „krankmachenden“ Strukturen unserer Leistungsgesellschaft und dem „zunehmenden“ Druck, dem die Beschäftigten ausgesetzt seien. Insofern rundet das ein Bild ab, in dem beispielsweise auch auf die (angeblich) stark steigende Zahl an Jugendlichen und selbst Kindergartenkindern mit psychischen  Problemen hingewiesen wird.

Ein genauerer Blick lohnt wie so oft. Wenn von „Studenten“ die Rede ist, denken die meisten ob bewusst oder unbewusst sicher sofort und nur an junge Menschen, die nach der Schule eine Studium beginnen. Vor diesem Hintergrund ist der folgende altersdifferenzierte Befund aus dem Gesundheitsreport 2015 der TKK interessant, auf den Weber hinweist:

»Im Vergleich zeigt sich, dass die psychischen Erkrankungen stark ab dem 27. Lebensjahr ansteigen. Die Raten der psychischen Diagnosen der Studierenden übersteigen dann deutlich entsprechende Erkrankungen bei jungen Erwerbstätigen.
„Ab 32 Jahren bekommen Studierende beider Geschlechter etwa doppelt so viele Antidepressiva verschrieben wie Erwerbspersonen im gleichen Alter“, sagte Dr. Thomas Grobe vom AQUA-Institut, das die Zahlen für die TK ausgewertet hatte.«

Insofern trifft die herausgestellte und von vielen Medien rezipierte überdurchschnittliche Betroffenheit eben erst einmal nicht den „Normalfall“ der Studierenden, also diejenigen, die Anfang 20 sind. Ein differenzierter Blick ist vor allem deshalb bedeutsam, weil man ansonsten die falschen Schlussfolgerungen zieht. Offensichtlich ist es so, dass ab 30 die Bewältigung des mit einem Studium verbundenen Drucks deutlich schwerer fällt als in den jüngeren Jahrgängen. Dann spielten entscheidende Prüfungen, Fragen der Studienfinanzierung und womöglich auch Kinder eine treibende Rolle als Stressfaktoren. Das würde aber in der Konsequenz bedeuten, dass eine Hilfestellung für diese kleine Gruppe an Studierenden eher ansetzen müsste an Rahmenbedingungen wie der finanziellen Unterstützung oder des Angebots an einer entlastenden und zugleich die Ausbildung ermöglichenden Betreuungsinfrastruktur.

Aber grundsätzlich sollte man sich vor einer durchaus naheliegenden Schlussfolgerung hüten, die scheinbar so gut passt in eine Fundamentalkritik an den (tatsächlich oder angeblich) pathologischen Strukturen unserer Leistungsgesellschaft. Also die doch offensichtliche Überforderung eines Teils der Studierenden dadurch zu verringern, dass man den Druck auf sie reduziert, die Anforderungen absenkt, sie dann doch noch ans Ziel kommen lässt, in dem man schlichtweg beide Augen zudrückt. Man muss sehen, dass es sich bei einem Studium eben auch um einen offiziellen Ausbildungsweg handelt, der mit einem staatlich lizenzierten Abschluss endet, der Zugang eröffnet zu bestimmten Tätigkeiten und Positionen (und damit auch Vergütungen), die andere nicht bekommen (können).

Man kann das kritisieren, aber Fakt ist: Ein Hochschulstudium bildet in der Gesamtschau auf die bestehenden Ausbildungsstrukturen (immer noch) das „obere“ Ende der Bildungshierarchie ab und insofern muss es notwendigerweise selektiv sein und auch einen Teil der Teilnehmer am Ende aussondern. Unabhängig von der Einstellung gegenüber Prüfungen – die als Selektionsfallbeil wirken können – und damit letztendlich dem exkulpierenden Gesicht des Bildungssystems – so lange wir uns in diesem System bewegen, kann es keinen Sinn machen, den Erfolg gerade des Systems am oberen Ende der Bildungshierarchie daran zu messen, dass alle, die reingehen, auch erfolgreich, also mit Abschluss, wieder rauskommen und das dann auch noch unbeschadet.

Aber vielleicht erledigt „das System“ diese Aufgabe selbst. Und wieder einmal spielt Geld und seine Anreizwirkung hierbei eine Rolle. Als Beispiel dafür sei auf den Artikel 4000 Euro für jeden Absolventen hingewiesen. Man sollte über die (möglicherweise und wie so oft sicher nicht geplanten, sich aber einstellenden) Nebenwirkungen einer als „gut“ daherkommenden Idee einmal genauer nachdenken. Ausgangspunkt ist das diagnostizierte Problem der Studienabbrüche. Denn wenn ein Teil der Studierenden unterwegs verloren geht und nicht zum Abschluss gelangt, dann ist das eine Ressourcenverschwendung, die eingesetzten Mittel haben ja nicht zu dem anvisierten Ergebnis geführt.

Nun wird der eine oder die andere einwerfen an dieser Stelle: Es gibt doch viele und höchst unterschiedlich zu gewichene Gründe für einen Studienabbruch. Die Information, dass beispielsweise 25 Prozent und mehr der Studierenden „abbrechen“, vernebelt eigentlich mehr als es uns weiterhilft. Denn darunter fallen beispielsweise Studierende, die – Gott sein Dank für sich selbst und für die Gesellschaft – am Anfang des aufgenommenen Studiums merken, dass das nichts für sie ist. Und wenn die das Studium abbrechen, heißt das noch lange nicht, dass sie deswegen auf eine akademische Ausbildung verzichten, wenn sie schlichtweg das Studienfach und/oder den Hochschulort wechseln und einen neuen Versuch starten. Zu den Studienabbrechern zählen auf der einen Seite die, die an den problematischen Rahmenbedingungen scheitern (beispielsweise Probleme bei der Vereinbarkeit von Studium und Familie), die es ansonsten vielleicht gut geschafft hätten. Aber eben auch diejenigen, die schlichtweg nicht in der Lage sind, den Anforderungen eines Studiums gerecht zu werden – und wenn die abbrechen, dann ist das zwar ein Scheitern, heißt aber noch lange nicht, dass das per se schlecht ist, denn möglicherweise erweisen sie sich in anderen Ausbildungsstrukturen als überaus erfolgreich (man schaue nur auf die durchaus positiven Erfahrungen, die gemacht worden sind mit Studienabbrechern, denen man eine „klassische“, also duale Berufsausbildung vermittelt hat). Aber um es ganz deutlich und ohne politisch korrekte semantische Verkleisterungen zu sagen: Das Scheitern muss zu einem Hochschulstudium dazu gehören, man muss auch auflaufen und das bescheinigt bekommen können, dass man den Anforderungen nicht gewachsenen ist.

Diese sicherlich kontrovers diskutierbaren Hinweise zeigen eines auf alle Fälle: Wir haben es hier mit einer hochkomplexen Gemengelage zu tun, die man tunlichst nicht über einen Kamm scheren sollte. Aber der Reiz für Bildungspolitiker scheint groß zu sein, genau das zu tun:
»Mehr als jeder vierte Student schmeißt sein Studium hin, Nordrhein-Westfalen will das jetzt ändern: Das Land zahlt seinen Hochschulen künftig einen Erfolgsbonus für jeden Absolventen – 4.000 Euro pro Abschluss.« Die Hochschulen sollen also angereizt werden, mehr dafür zu tun, einem Teil der Studierenden die Scheiternserfahrung zu ersparen. Auch hierfür sind die angesprochenen „rohen“ Zahlen zu den Studienabbrechern Ausgangspunkt dafür, „etwas“ tun zu müssen:»Nach Berechnungen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) schließt bundesweit etwa ein Drittel der Studenten an Universitäten und knapp ein Viertel an Fachhochschulen das Studium nicht ab. Vor allem Fächer wie Mathematik, Physik, Chemie und Ingenieurwissenschaften sind betroffen«, kann man auch dem Artikel 4000 Euro für jeden Absolventen entnehmen.

Allein schon der differenzierende Hinweis auf die besonders betroffenen Fächer eröffnet zugleich, wenn man denn will, eine realistische, also nicht einfache Sicht auf das Phänomen Studienabbruch, denn die Anforderungen, beispielsweise hinsichtlich der erforderlichen Mathematik, sind in diesen Studiengängen sehr hoch. Nun kann man zugespitzt formuliert zwei Schlussfolgerungen ziehen: Zum einen wäre die Frage der Studienbedingungen bis hin zur (Nicht-)Pädagogik des Lehrpersonals ein Ansatzpunkt. Vielleicht also gelingt es über bessere Bedingungen, mehr Studierenden die Untiefen der Mathematik verstehbar zu machen und sie dann auch noch zu einem Abschluss zu führen. Das wäre der unbedingte Auftrag, die eigene Institution zu überprüfen und auch Konsequenzen zu ziehen, wenn die Ausbildungsqualität zu niedrig ist. Aber auf der anderen Seite könnte man auch durchaus zeitgeistig sagen, wir senken die Anforderungen, die zu immer auch beschämenden Scheiternserfahrungen führen können, einfach ab, weil nun mal bei vielen jungen Menschen die Kenntnisse in der Mathematik schlecht sind. Aber wir alle als Nutzer einer Brücke, eines Freizeitparks oder was auch immer werden unbedingt erwarten dürfen und müssen, dass die Ingenieure rechnen können, ob das nun angenehm ist oder nicht.

Zurück zu dem Vorstoß aus Nordrhein-Westfalen: »Nach Angaben des Ministeriums ist NRW das erste Bundesland, das ein stark auf den Studienerfolg ausgerichtetes Prämienmodell einführt. Die rot-grüne Landesregierung in Düsseldorf hatte bereits in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, die Abbrecherquote senken zu wollen. Anfang vergangenen Jahres hatte Wissenschaftsministerin Schulze mit den Fachhochschulen verabredet, dass dort künftig 20 Prozent weniger Studenten abbrechen sollen.«

Man könnte jetzt etwas pikiert einwenden, dass sich das irgendwie anhört wie die Planvorgaben des ZK für Bildungsabschlussoutput der Hochschul-Kombinate. Aber ernsthafter: Was kann es bedeuten, wenn man lesen muss, die Wissenschaftsministerin habe mit den Fachhochschulen verabredet, »dass dort künftig 20 Prozent weniger Studenten abbrechen sollen«? Die optimistische Variante geht so: Alle strengen sich jetzt in den NRW-FHs ganz doll an, um die potenziellen Studienabbrecher zu identifizieren und vor dem fatalen Schritt eines Studienabbruchs zu bewahren. Die einen bekommen einen Krippenplatz für die Kinder, die anderen so lange Mathe-Nachhilfe, bis sie aufgeben. Es gibt allerdings auch eine zweite Variante, die leider weitaus realistischer erscheint für jeden, der in diesem System gearbeitet hat oder gar arbeitet: Die Anforderungen werden Schritt für Schritt abgesenkt. Wenn man Durchfallquoten hatte von 30 oder 40 Prozent, dann kann man eine Reduzierung der damit verbundenen Abbrecherquoten um 20 Prozent schnell und wirksam erreichen, in dem man die Durchfallquoten abgesenkt. Wenn das nicht von den Studierenden selbst geleistet werden kann, dann muss man eben nachhelfen. Und wenn der Fachbereich, in dem die Studierenden eingeschrieben sind, ein unmittelbares und erhebliches finanzielles Interesse hat bzw. gemacht bekommt, wie durch die neue Prämie in NRW, dann muss man doch keine ökonomische Studie in Auftrag geben, um sich vorzustellen, in welche Richtung sich die Systeme begeben werden.

Die Mittel für diese neue Prämie holt sich NRW aus dem „Hochschulpakt“, ein milliardenschweres Bund-Länder-Programm, mit dem zusätzliche Studienplätze finanziert werden. Die Hochschulen im bevölkerungsreichsten Bundesland erhalten künftig 18.000 Euro für jeden zusätzlichen Studienanfänger, zudem die Erfolgsprämie für Absolventen. Die Anreizwirkung wird eintreten, das kann man prognostizieren.

Aber man kann und muss zugleich ein Riesen-Fragezeichen hinsichtlich der Sinnhaftigkeit solcher letztendlich nur vulgärökonomisch fundierter Anreizmodelle setzen. Und man sollte eines nie vergessen: Man kann Anforderungen und Hürden immer recht einfach absenken – sollte sich das aber als Irrweg erweisen, dann wird es kaum möglich sein, wieder zurück zu gehen auf Start. Das ist wie eine Rutschbahn nach unten. Das kann sich zu einem echten Problem auswachsen für das Bildungssystem an sich, aber auch für die Abnehmer, also beispielsweise die Arbeitgeber und die Anforderungen auf vielen Arbeitsplätzen. Darüber hinaus werden aber auch den jungen Menschen möglicherweise fatale Hinweise gegeben, dass man sich nicht zusätzlich anstrengen muss, dass man auch so irgendwie durchkommen wird, dass immer das System oder andere verantwortlich sind, immer weniger bis gar nicht aber man selbst.

Der K(r)ampf mit der Schule. Impressionen aus der „Bildungsrepublik“ Deutschland

Über „die“ Schule zu schreiben, das ist eine heikle Angelegenheit. Es handelt sich um ein hoch emotionales Thema, bei dem jeder mitreden kann und meint zu müssen, alleine schon vor dem Hintergrund, dass wir alle durch dieses „System“ mit mehr oder weniger Beschädigungen gegangen sind. Auf der anderen Seite – und das ist nicht selten ein Grund für die höchst politische Aufladung des Themas Schule – ist gerade in Deutschland die so genannte Schullaufbahn oftmals entscheidend für den weiteren Lebensweg. Und leben wir nicht in einer so genannten Wissensgesellschaft? Werden hier nicht die Grundlagen gelegt für unsere Zukunft? In Sonntagsreden ist das alles unumstritten. Aber in kaum einem anderen Feld klaffen Theorie und Praxis oftmals so weit auseinander. In den aktuellen bildungspolitischen Diskussionen, wenn man die überhaupt so nennen darf, finden sich erneut Belege für diese These. Einige wenige Beispiele sollen das verdeutlichen.

Deutsche Bildungsministerin will neues Schulfach „Alltagswissen“, so berichtet es die österreichische Zeitung Der Standard. Folgt man den Ausführungen in diesem Artikel, müssen einem erhebliche Zweifel am Stand der bildungspolitischen Diskussion kommen:

»Die deutsche Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) will an den Schulen ein Unterrichtsfach zur Vorbereitung auf die Herausforderungen des Alltags einführen. „Das Fach ‚Alltagswissen‘ fände ich gut. Dort könnten die Schüler Dinge lernen, die für ihr praktisches Leben wichtig sind“, sagte Wanka der Zeitung „Bild am Sonntag.“
Sie denke etwa an Fallen in Handyverträgen, handwerkliche Fähigkeiten, aber auch an Grundkenntnisse in richtiger Ernährung und Kochen. „Viele Jugendliche schauen mit Begeisterung Kochsendungen, können aber ohne Mikrowelle keine Lebensmittel mehr zubereiten.“«

Immerhin: »Die Einführung des Fachs „Benehmen“, für die sich in einer Umfrage 75 Prozent der Deutschen ausgesprochen haben, hält Wanka nicht für nötig«. Da atmet man ja schon fast auf. Aber damit nicht genug, sie hat, wenn sie schon mal dabei ist, auch noch andere brennend heiße Themen der Schuldiskussion in unserem Land eingeordnet, wie die Bild-Zeitung in ihrer Meldung Bildungsministerin Wanka spricht sich gegen Schuluniformen aus berichtet:

»Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) hat sich gegen Schuluniformen ausgesprochen. Wanka sagte BILD am SONNTAG: „Kleidung ist ein Ausdruck von Individualität. In der DDR waren zum Beispiel Niethosen, also Jeans, und sogenannte NatoPlanen, gelbe Regenjacken, verboten. Sie galten als Symbol des Imperialismus. Wer sie anhatte, musste nach Hause gehen und sich umziehen. Abgesehen davon stehen Schuluniformen auch nicht jedem.“«

Das Thema Schuluniformen bewegt Deutschland, muss man den Eindruck bekommen.  Das tut es natürlich nicht, auch wenn – um den Ansatz nicht völlig abzuwerten – hinter der Kulisse ein reales Problem steht, zumindestens für die Eltern, die nicht über die finanziellen Ressourcen verfügen, um ihre Kinder so auszustatten, wie es die eine oder andere Modewelle unter den jungen Menschen heute erfordert.

Tatsächlich sind wir im Schulbereich mit ganz anderen Herausforderungen konfrontiert, für die es (noch) viel zu wenige Antworten gibt.

Nehmen wir als Beispiel die große Stadt Berlin. Nutzlose Hochleistungsserver statt funktionierender Toiletten, so hat Susanne Vieth-Entus ihren Artikel überschrieben. Zugleich ein Lehrstück über die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis in der „Bildungsrepublik“ Deutschland:

»Der Begriff klang irgendwie gut: „eGovernment@school“ sollte Berlins Schulen und die Schulverwaltung in das 21. Jahrhundert hineinführen. So wollte es die Bildungsverwaltung …  „Zentrale Schülerdatei“ und „elektronisches Klassenbuch“ lauteten die neuen Zauberwörter. Sechs Jahre ist das her. Inzwischen ist der Begriff verbrannt. Er steht für verlorene Millioneninvestitionen und für überflüssige Hochleistungsserver in Schulen, die sich ansonsten nicht einmal saubere Toiletten leisten können. Er steht für sechs verlorene Jahre, in denen auf eine längst veraltete technische Lösung gesetzt wurde. Er steht für einen weiteren Vertrauensverlust in die Zurechnungsfähigkeit der Verwaltung.«

Vor acht Jahren geplant, vor sechs Jahren beschlossen und nun einkassiert: Das IT-Konzept für Berlins Schulen landet auf dem Müll. So kann man das zusammenfassen, wie in dem Artikel Supergau@school. »Seit Mitte 2015 steht hingegen fest: Das Konzept steht wieder am Anfang. Über 38 Millionen Euro sind bereits verbraucht. Mindestens.«

Der seit Jahren betriebene Einbau von Serverräumen an den Schulen und die damit zusammenhängende Verkabelung war ebenso überflüssig wie der Einkauf der großen teuren Server, die zum Großteil schon an die Schulen ausgeliefert wurden. Susanne Vieth-Entus berichtet, dass »viele Schulleiter mit dem Thema abgeschlossen (haben). Die verwaisten Serverräume werden inzwischen ignoriert bestenfalls nur noch mit Schulterzucken quittiert. Angesichts der baulichen Mängel und der allseits fehlenden Gelder ärgern sich die Schulen aber massiv darüber, dass für rund 10 000 Euro die anspruchsvollen Server angeschafft wurden, die bereits veraltet waren, bevor sie ans Netz gingen.«

Die möglicherweise folgenreichste Hypothek deutet Susanne Vieth-Entus in diesem Kommentar an:

»Auch andere Behörden wurschteln vor sich hin, als hätte es die technischen Fortschritte der vergangenen 20 Jahre nicht gegeben. Den Schulbereich allerdings trifft es besonders hart. Immerhin geht es hier um 400 000 Schüler und 30 000 Lehrkräfte, für die die Verwaltung zuständig ist: Jeder weitere Tag in der technologischen Steinzeit bedeutet hier einen ungeheuren Verlust. Die veralteten Strukturen stehlen den Pädagogen die Zeit, die sich eigentlich für ihre Schüler brauchen.«

 Schaut man sich in den meisten Schulen um, dann kann man nur resignierend den Kopf schütteln. Die Kinderzimmer von drei Vierteln der Schüler/innen sind heute moderner und besser ausgestattet als die Schulen. Wie soll dieser Investitionsstau aufgehoben werden? Aber soll er das überhaupt?

Eine ganz andere, noch weitaus größere Baustelle ist das Thema Inklusion. »Ein kleiner Junge mit Downsyndrom löste vergangenes Jahr einen heftigen Streit über die Inklusion aus. Henri wurde zur Symbolfigur für den Umgang mit behinderten Kindern im deutschen Schulsystem, zum Gradmesser für den Fortschritt bei der Inklusion. Sperren wir Behinderte aus? Sind sie ein Tabu?« Ein aufschlussreiches Interview mit seiner Mutter, Kirsten Ehrhardt, gibt es unter der Überschrift „Werden tausend Schüler dümmer, weil Henri da sitzt?“.

Auf der anderen Seite werden zahlreiche Widerstände, aber auch Frustrationen aus den Schulen berichtet. Überforderungen, Ängste, Ressourcenknappheit. Beispielhaft dafür der Bericht Lehrer fühlen sich laut Studie mit der Inklusion überfordert: »Immer mehr Lehrer in NRW fühlen sich durch die überstürzte Einführung des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nicht behinderten Schülern überfordert. Nach einer Forsa-Umfrage kritisieren Pädagogen vor allem zu große Klassen, fehlende Sonderpädagogen und eine mangelnde Fortbildung … 98 Prozent sprachen sich für eine Doppelbesetzung aus Lehrer und Sonderpädagoge im Unterricht aus. Selbst an der inklusiven Grundschule nimmt der Sonderpädagoge aber im Schnitt nur an drei bis vier Wochenstunden am Unterricht teil … Aufgrund der schlechten Vorbereitung fordern 58 Prozent der Lehrer den Erhalt der Förderschulen.«

Versuchen wir es anders: Was sind die zentralen Herausforderungen des Schulsystems?  Diese bewegen sich in einem Spannungsdreieck von Inhalten, Zeit und Personen.

Zu den Inhalten soll an dieser Stelle nur angemerkt werden: Vielleicht gilt gerade hier die Lebensweisheit: weniger ist mehr. Auch wenn das nicht besonders modern herüberkommt: Um die Grundfertigkeiten sollte es gehen. Lesen, schreiben und rechnen, kritisch mit den Sachverhalten der Welt umgehen können. Dann wäre schon viel gewonnen. Hinzu kommen müsste ein ordentlicher Schuss widergelagerter Funktionalität  durch Fächer wie Sport, Musik, Kunst, die sich der scheinbaren Rationalität unserer verwertungsorientierter Erwartungen an das, was Schule zu leisten hat, entziehen bzw. diese stören.

Zur Zeit: Man muss doch wirklich keine Studien machen, sondern einfach mit den Eltern sprechen, die Kinder in unserem Schulsystem bzw. korrekter in unserem Schulsystemen haben.  Auf der einen Seite sind die Eltern konfrontiert mit der Tatsache, dass das Schuljahr permanent unterbrochen wird nicht nur von Ferien, sondern auch von Feiertagen, die kombiniert werden mit beweglichen Ausfalltagen oder so genannten Studientagen der Lehrer. Wenn man ehrlich ist, dann muss man konstatieren, dass die Schüler und Schülerinnen konfrontiert werden mit einer Anhebung der Erwartungen an das, was in der Schule zu passieren hat, bei einer parallelen Konzentration, einer unglaublichen Verdichtung der dafür zur Verfügung stehenden wirklichen Zeit. Dies führt zu einer gesellschaftspolitisch höchst brisanten Konstellation: Die aus der Zeitverknappung resultierenden Probleme zahlreicher Schüler können nur dann gelöst bzw. abgemildert werden, wenn die Eltern bzw. im Regelfall die Mütter, sich als unbezahlte Nachhilfelehrer ihrer Kinder annehmen. Tun sie das nicht oder können sie das nicht tun, weil sie nicht über die kognitiven Voraussetzungen verfügen, dann fallen die Kinder in der Schule ab. Hier liegt eine der größten Quellen für die beobachtbare soziale Selektivität unseres Schulsystems.

Auch die vielbeschworene Ganztägigkeit würde hier nur wirklich dann weiterhelfen, wenn sie nicht nur entsprechend mit den dafür notwendigen Ressourcen unterlegt, sondern auch für alle Schüler verbindlich wäre. Und auch dann nur, wenn sich ein weiterer zentraler Faktor in den Schulen darauf einstellen würde – gemeint sind hier die Lehrer. Beziehungsweise, um mit Blick auf die Zukunft genauer zu sein, das Kollegium an unterschiedlichen Fachkräften, die in einer Schule arbeiten sollten. Also eben nicht nur Lehrer. Das Aufbrechen der Homogenität der Lehrer in den Schulen wäre eine der wichtigsten Schlussfolgerungen, die man aus vielen Untersuchungen über die Defizite in den bestehenden Schulsystemen ziehen kann. Natürlich ist es so, dass die Haltung der Lehrpersonen an den Schulen ganz maßgeblich darüber mitbestimmt, was den jungen Menschen auf den Weg mitgegeben wird. Man betrachte in diesem Zusammenhang nur einmal den Umgang mit ausfallenden Unterrichtsstunden in vielen Schulen. Was für Vorbilder werden da den jungen Menschen mit auf den Weg gegeben?

Für die Gesellschaft insgesamt ist es ein oftmals völlig unterschätztes Problem, das auch derjenige, der sich mit der Materie beschäftigt, kaum noch einen Überblick über die unterschiedlichen Schulformen und die Schulstrukturen in ihren Verästelungen hat. Ein einfaches und für jeden normalen Bürger verständliches Schulsystem wäre eine absolut notwendige und hilfreiche Voraussetzung. Wenn man sich an dieser Stelle einfach einmal vorstellen würde, wir hätten in allen Bundesländern die gleiche Struktur nach der Grundschule (übrigens der einzigen echten Gemeinschaftsschule in Deutschland), also ein klassisches Gymnasium und eine wie dann auch immer genannte zweite Säule neben dem Gymnasium, in der man allerdings auch, wenn man dafür die notwendigen Voraussetzungen mitbringt, die Hochschulreife erwerben kann, dann würde das eine Menge erleichtern. Gleichzeitig sollte eine der gesellschaftspolitischen Hauptbotschaften sein: Wenn nicht heute, dann kannst du morgen sehr wohl einen höheren Schulabschluss erreichen. Wenn du dich anstrengst und dazu bereit bist. Weil die Gesellschaft dir entsprechende Wiedereinstiegspunkte anbietet. Das wäre eine Botschaft.

Und auch wenn du einen anderen Weg gehst, mit einem Schulabschluss das Schulsystem verlässt, der nicht der Hochschulreife entspricht, dann hält man dir dennoch immer wieder die Möglichkeit offen, aus dem Ausbildungsberuf, der sich nach der Schule ergeben hat, auszubrechen bzw. aufzusteigen, ein Studium aufzunehmen, wenn man das denn wirklich will. Das hat die Gesellschaft zu organisieren. Das wäre Durchlässigkeit im wahrsten Sinne des Wortes. Aber an diesem Punkt sind wir noch lange nicht. Wie man insgesamt den Eindruck gewinnen kann und muss, dass kaum ein Thema so emotional und derart aufgeladen diskutiert wird wie die Bildungspolitik, vor allem mit Blick auf die Schule, ohne dass sich hier wirklich fundamentale Veränderung in der vergangenen Zeit ergeben haben.

Es ist ein wirklich schwieriges, klebriges und mit vielen Meinungen versetztes Thema.

Übrigens: Wir sind nicht allein mit dieser schwierigen Debatte: Man vergleiche dazu nur die aktuelle Diskussion in Frankreich über eine Reform des Schulsystems dort und die empörten Reaktionen auf die Ansätze der Regierung. Vgl. dazu beispielhaft das launische Interview mit mit dem Philosophen Alain Finkielkraut: „Welche Unverschämtheit!“ Die geplante Schulreform in Frankreich bedroht die republikanische Bildungstradition des Landes: Ein Gespräch mit dem Philosophen Alain Finkielkraut.