G9 statt G8: Kehrtwende auf einem Irrweg? Ein Sieg der „Entschleuniger“ über die Hybris der „Bildungszeitoptimierer“? Wenn es denn so einfach wäre

Seien wir ehrlich – es gibt Institutionen und Begriffe, die bei vielen Menschen eine zwischen resignativer Frustration und Aggression schwankende Grundstimmung auslösen. In Deutschland gehören dazu die „Kultusministerkonferenz“ und der Terminus „Schulreformen“. Beides steht zumindest aus der Perspektive vieler Eltern für leidvolle Erfahrungen, die man in einem komplexen föderalen System mit 16 teilweise erheblich voneinander divergierenden Schulsystemen machen kann bzw. muss. Und es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen, dass man ein intensives Studium betreiben muss, um die Vielfalt der Schularten und Schulformen sowie die unterschiedlichen Wege zu unterschiedlichen Abschlüssen auch nur ansatzweise nachvollziehen zu können. Eines der Top-Themen, die zu wahren Hyperventilationen bei den Beteiligten führen konnte, war die Schulzeitverkürzung von dreizehn auf zwölf Jahre, um den heiligen Gral des deutschen Bildungssystems, also das Abitur, erreichen zu können  – von G9 auf G8, so heißen die entsprechenden Kürzel. Die haben sogar Eingang gefunden in die Wahlforschung, dort spricht man von den „G9-Mamas“ bzw. „G9-Papas“ als ziemlich wirkkräftige – und das kann bedeuten: wahlentscheidende – Kategorie für die Parteien. Doch nunmehr ist eine veritable Kehrtwendung zu beobachten: Immer mehr Bundesländer, die im vergangenen Jahrzehnt das achtjährige Gymnasium einführten, drehen diese umstrittene Reform zurück.

So kommen die aktuellen Schlagzeilen daher: „Spekulation über Kehrtwende bei G8“ wird aus Bayern gemeldet, wo Seehofers Regierung vor dem Hintergrund eines anlaufenden Volksbegehrens zur Wiedereinführung von G9 offenbar an einer Exit-Strategie arbeitet. Und aus dem Norden des Landes wird berichtet: „Niedersachsen schafft Turbo-Abi wieder ab„. Das Besondere hier: »Zum Schuljahr 2015/16 will Niedersachsen das Turbo-Abi kippen. Erstmals kehrt damit ein Bundesland flächendeckend zum neunjährigen Gymnasium zurück, das Abitur nach acht Jahren bleibt aber als Option erhalten. Andere Länder könnten dem Beispiel folgen.«

Nun könnte man zu dem Ergebnis gekommen, dass die hier erkennbare Rückentwicklung eine positive Sache ist, da die Politik endlich mal auf die offensichtliche und überwältigende Ablehnung eines ihrer Reformprojekte bei einem Teil der davon Betroffenen, hier vor allem bei den Eltern, reagiert und eine Entscheidung, die zu großem Unmut geführt hat, revidiert.  Hinzu kommen könnte eine klammheimliche Freude über die offensichtliche Niederlage der neoliberal fundierten „Bildungszeitoptimierer“ und damit letztendlich der Erfolg eines Widerstands gegen die zunehmende Ökonomisierung unserer Gesellschaft. Vielen Eltern wird es an dieser Stelle herzlich egal sein, in welche ideologische oder soziologische Schublade ihrer Abneigung bis hin zu ihrem Protest gesteckt wird. Sie werden argumentieren, dass es ihren Kindern besser gehen wird, wenn sie nicht unter schulzeitverkürzten Bedingungen den heiligen Gral der bildungsnahen Schichten erreichen müssen.  Aber an dieser Stelle soll dennoch ein genauerer Blick auf das Thema geworfen werden.

Viele gesellschaftliche Strukturen, Prozesse und vor allem Institutionen sind nur zu verstehen, wenn man sie historisch einordnet, denn auch die aktuellen Entwicklungen sind immer stark pfadabhängig. An dieser Stelle mögen einige kursorische Stichworte genügen: Die Existenz einer 13 Jahre andauernden Schulzeit bis zum Abitur ist keine alttestamentarische  Überlieferung, sondern entspringt einem typischen Kompromiss, wie wir ihn in der Bildungspolitik immer wieder  antreffen, und er datiert auf die Zeit der Weimarer Republik: »Die Sozialdemokraten der Weimarer Republik wollten Arbeiterkindern mehr Bildung ermöglichen – die Grundschulzeit wurde 1920 auf vier Jahre verlängert. Die Lehrer an den Gymnasien wollten aber ihre Wirkungszeit nicht beschnitten sehen, so verlängerte sich die Schulzeit für Abiturienten insgesamt auf 13 Jahre«, so  Jonas Leppin und Oliver Trenkamp in ihrem Artikel „Turbo-Abi in der Reifeprüfung„.

  • Man sollte gerade im Zusammenhang mit der gegenwärtig so umstrittenen Schulzeitverkürzung im letzten Jahrzehnt darauf hinweisen, dass es bereits vorher eine Abkehr von der 13 Jahre umfassenden Schulzeit bis zum Abitur gegeben hatte: Mit Erlass vom 30. November 1936 wurde die höhere Schulzeit auf zwölf Jahre verkürzt. Diese Maßnahme der Nationalsozialisten stand im damaligen Kontext der Wiederaufrüstung, da die Offiziersanwärter durch die Schulzeitverkürzung schneller zur Verfügung standen.
  • Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es dann eine geteilte Entwicklung in Deutschland. Während in Westdeutschland das G9 restauriert wurde, bildete sich in der DDR ein anderes System heraus: für relativ wenige Schüler gab es die EOS mit einer zwölf jährigen Schulzeit und Samstagsunterricht, die zum Abitur führte. Daneben wurde eine einphasig ausgestaltete Berufsausbildung mit Abitur mit einer Laufzeit von drei Jahren installiert, im Anschluss an die zehnte Klasse der POS. 
  • Nach der Wiedervereinigung sind von den neuen Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt zum G9 gewechselt, weniger aus innerer Überzeugung, sondern angesichts der Wochenstundenvorgabe der Kulturministerkonferenz (nach dieser Vorgabe muss es 265 Jahreswochenstunden geben, was bei G8 im Durchschnitt 33 statt ansonsten 30 Stunden Unterricht pro Woche bedeutet). Im Jahr 2000 sind die genannten Bundesländer dann wieder zu der 12jährigen Schulzeit zurückkehrt. In Sachsen und Thüringen übrigens wurde zu keinem Zeitpunkt die 12jährigen Schulzeit bis zum Abitur aufgegeben.

Vor diesem Hintergrund ist die Überschrift des Artikels von Barbara Kerbel „Mehr Zeit für Westschüler“ ein Volltreffer: Sie verweist darauf, dass in den ostdeutschen Bundesländern die Schüler, Eltern und die Lehrer offensichtlich gut zurechtkommen mit der zwölfjährigen Schulzeit. Streng genommen haben wir es offensichtlich mit einem „West-Problem“ zu tun. So auch die Wahrnehmung bei Barabra Kerbel, die darauf hinweist: »Vor allem die Eltern in den westdeutschen Flächenstaaten laufen Sturm gegen G8. Sie beklagen lange Schultage, ein kaum zu bewältigendes Lernpensum und immensen Leistungsdruck. Lehrer und einige Bildungsforscher kritisieren, die Reform sei überstürzt eingeführt, die Lehrpläne nicht entsprechend entrümpelt worden. Die Debatte ist aufgeheizt und emotional, von „gestohlener Kindheit“ ist bei vielen Eltern die Rede.«
Angesichts dieser massiven und weit verbreiteten Kritik an einem der Kernstücke der „Bildungsreformen“ muss diskutiert werden, wie es überhaupt zu der in Westdeutschland fast flächendeckenden Schulzeitverkürzung kommen konnte. »Das Saarland war das erste westdeutsche Land, das zum Schuljahr 2001/02 die Gymnasialzeit reformierte. Einzig Rheinland-Pfalz, wo das Gymnasium traditionell nur 12,5 Jahre dauert, ging einen Sonderweg und führte G8 nicht flächendeckend, sondern nur an einzelnen Ganztagsgymnasien ein«, so Kerbel.

Es ist an dieser Stelle nicht ohne eine gewisse Ironie, dass der Aspekt der „verlorenen Zeit“ für die jungen Menschen, der sich heute in der Formulierung von der „gestohlenen Kindheit“ Ausdruck verschafft, auch von einem der großen politischen Befürworter einer Verkürzung der Schulzeit verwendet wurde, allerdings ganz im Gegenteil von „verlorener Kindheit“ im Sinne einer „verlorenen Zeit“ im Schulsystem. In seiner „Berliner Rede“ von 1997 hatte der damalige Bundespräsident Roman Herzog mit den folgenden Worten Stellung genommen:

»Wie kommt es, daß die leistungsfähigsten Nationen in der Welt es schaffen, ihre Kinder die Schulen mit 17 und die Hochschulen mit 24 abschließen zu lassen? Es sind – wohlgemerkt – gerade diese Länder, die auf dem Weltmarkt der Bildung am attraktivsten sind. Warum soll nicht auch in Deutschland ein Abitur in zwölf Jahren zu machen sein? Für mich persönlich sind die Jahre, die unseren jungen Leuten bisher verloren gehen, gestohlene Lebenszeit.« (Berliner Rede 1997 von Bundespräsident Roman Herzog, „Aufbruch ins 21. Jahrhundert“, Hotel Adlon, Berlin, 26. April 1997)

Wir sehen in dieser Formulierung des damaligen Bundespräsidenten zum einen den Ausdruck des Zeitgeistes der Neunzigerjahre, der – wenn auch holzschnittartig – als ein neoliberaler Zeitgeist charakterisiert werden muss. Es waren die Hochjahre eines „naiven Ökonomismus“  mit seiner Verherrlichung der Beschleunigung und dem Leitbild einer Effizienzoptimierung, die auch vor den Schulen nicht Halt machen sollte. Vereinfacht gesagt stand hinter der Vorstellung des Bundespräsidenten das Modell einer permanenten Produktivitätssteigerung, von der man auch die Schüler nicht ausnehmen wollte. Auf der anderen Seite reflektierte seine damalige Kritik durchaus auch reale Abweichungen von der Situation in den meisten Bundesländern. Denn im internationalen Vergleich gab und gibt es mehrheitlich zwölfjährige Schulsysteme.

Meine kritische Anfrage an diejenigen, die mit der nun beobachtbaren Rückkehr zum alten 13 Jahre Schulzeit umfassenden System in den westdeutschen Bundesländern einen gesellschaftlichen Fortschritt im Sinne der betroffenen jungen Menschen sowie ihre Eltern sehen, lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: Ist es wirklich so, dass die Kinder und Jugendlichen mit einer längeren Schulzeit per se vor den Widrigkeiten einer immer schnelllebigeren, sich permanent beschleunigenden Gesellschaft geschützt werden, dass sie die Chance bekommen, mit der Zeit lernen zu können? Wenn man diese Frage spiegelt an der Realität in den meisten Schulen, dann muss man leider zu einer differenzierten Einschätzung kommen. Die von vielen Eltern wahrgenommene und deutlich kritisierte „Überlastung“ der Schüler resultiert zum einen aus dem Tatbestand, dass man die Schulzeit von 13 auf zwölf Jahre verkürzt hat, ohne substantielle Veränderung am Lehrplan und vor allem nicht am Volumen des Lernstoffs vorzunehmen. Zum anderen wurde die Beschleunigung und Verdichtung an vielen Schulen vollzogen, die nicht im Format einer Ganztagsschule gleichzeitig über deutlich mehr Zeitressourcen verfügen als die klassische Halbtagsschule.

Aber der aus meiner Sicht entscheidende Punkt ist ein anderer: Was wird in welcher zur Verfügung stehenden Zeit unterrichtet bzw. soll den jungen Menschen beigebracht werden?  Das ist die entscheidende Frage, die man stellen muss: hier hätte man sich gewünscht, dass vor einem einfachen zurückdrehen der Verhältnisse die Debatte nachgeholt wird, die man bei der Schulzeitverkürzung eigentlich hätte führen müssen. Um es deutlich zu sagen: Das Problem in vielen deutschen Schulen besteht doch darin, dass wir es mit einer quantitativ gesehen voluminösen Ausgestaltung des abzuarbeiten Lehrplan zu tun haben, gleichzeitig die eigentlich zur Verfügung stehenden Lernzeiten im Laufe eines Jahres aufgrund der vielen Unterbrechungen und der langen Ferienzeiten auf ein sehr überschaubares Maß zusammengeschrumpft sind, so dass die Schüler in sehr kurzer Zeit sehr viel lernen sollen/müssen und ansonsten konfrontiert sind mit durchaus sehr generös ausgestalteten Zeiten des Leerlaufs.  Dies kann und muss zu erheblichen Schwierigkeiten für diejenigen Schüler führen, die schlichtweg mehr Zeit brauchen, um bestimmte Dinge lernen und wiedergeben zu können. Gleichzeitig führt die enorme Verdichtung der eigentlichen Lernzeit in Verbindung mit vielen Inhalten, die abgearbeitet werden müssen, dazu, dass kaum etwas Substantielles gelernt wird, denn das bedeutet auch immer, dass man die Lerninhalte wiederholt und vor allem übt. Dass man sie transferiert auf Sachverhalte aus der Realität.

Insofern wäre erst dann von einem tatsächlichen Geländegewinn gegenüber der Ökonomisierung unserer Gesellschaft und damit auch unseres Bildungssystems auszugehen, wenn es uns gelingen würde, zum einen die Lerninhalte neu zu adjustieren und vor allem die Inhalte zu verdichten und neu auszurichten nach dem Motto „weniger ist mehr“. Meine Befürchtung ist, dass man mit einer reinen Schulzeitverlängerung in Umkehrung der bisherigen Entwicklung lediglich das Gefühl vermittelt, man hätte Probleme, die wir in unserem Schulsystem ganz offensichtlich haben, beseitigt. Letztendlich sind wir an dieser Stelle mit der gleichen Problematik konfrontiert, auf die Bildungsforscher hinweisen, wenn es um die Verkleinerung von Klassen geht, denn die rein quantitative Reduzierung der Klassengröße ist nach dem Stand der Bildungsforschung keine Garantie für bessere Lernleistungen, wenn die Lehrer genauso weitermachen wie vorher.  Anders formuliert – den jungen Menschen mehr Zeit in einem vielfältig ineffektivem System zu gewähren, ist unter dem Strich keine Verbesserung der Situation. Möglicherweise führt ein solcher „Pyrrhussieg“ über das G8 in Westdeutschland dazu, das man erneut einige Jahre verschenkt auf dem Weg der notwendigen Debatte über die Frage der Ausgestaltung des Unterrichts sowie der Inhalte.

Aber selbst wenn man nicht so weit gehen und Grundsatzfragen der Bildungspolitik aufrufen möchte: Jan Friedmann weist in seinem Kommentar „Den Preis zahlen nun Schüler und Lehrer“ zur neueren Entwicklung auf erwartbare „Kollateralschäden“ hin:

»Der Anspruch auf einigermaßen einheitliche, vergleichbare Gymnasialstrukturen in den Bundesländern ist auf Jahre passé. Die Schullandkarte der Bundesrepublik wird mehr denn je zum Flickenteppich … Rund 70.000 bis 80.000 Schülerinnen und Schüler wechseln jedes Jahr das Bundesland. Sie und ihre Familien müssen sich im Dschungel der föderalen Regeln zurechtfinden. Und selbst der Schulwechsel innerhalb eines Landes wird künftig aufwendiger, etwa wenn die einzelnen Schulen unterschiedliche Optionen anbieten.«

Nur müssen mit den Folgen dieser Entwicklung die einzelnen Familien irgendwie zurechtkommen. Meistens alleine.

Studierst Du endlich oder willst Du ewig darben? Bildung lohnt sich ein Leben lang, vor allem für die Akademiker. Jedenfalls war das bisher so

Quelle: A. Schmillen und H. Stüber: Bildung lohnt sich ein Leben lang.
Lebensverdienste nach Qualifikation (= IAB-Kurzbericht Nr. 1/2014)

Das ist mal ein klare Ansage: Bildung zahlt sich aus. Personen, die eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, verdienen über ihr Erwerbsleben hinweg im Schnitt knapp 250.000 Euro mehr als Personen ohne Berufsausbildung und Abitur. Das zeigt eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Für Abitur, Fachhochschul- oder Universitäts-Studium liegen die Bildungsprämien durchschnittlich bei rund 500.000 Euro, 900.000 Euro und 1.250.000 Euro. So stellt man sich ein hierarchisches Entsprechungsverhältnis von Bildungsabschluss und Einkommen vor. Und erneut wird das Auswirkungen haben auf die Entscheidungen der Eltern und der betroffenen Jugendlichen hinsichtlich der eigenen Bildungsbiografie. Ein Abitur sollte es schon sein – und ganz offensichtlich wird man dabei doch mehr als gestützt durch die Befunde der Wissenschaft. Die Daten entstammen einer Studie von Achim Schmillen und Heiko Stüber, die unter dem Titel „Bildung lohnt sich ein Leben lang. Lebensverdienste nach Qualifikation“ veröffentlicht worden ist.

Wenn man sich die Unterschiede zwischen den durchschnittlichen Lebensverdiensten anschaut, die man mit einer Berufsausbildung oder mit einem Hochschulabschluss bekommen kann, dann werden solche Werte mit Sicherheit eine Debatte befeuern, die seit einiger Zeit unter der etwas reißerisch angelegten Überschrift „Akademisierungswahn“ geführt wird. Denn bei den (potenziellen) Adressaten dieser Information, die vor der Frage stehen, welchen Bildungs- und Berufsweg sie selbst oder ihre Kinder einschlagen sollen, ist die Botschaft doch mehr als eindeutig: Ein Abitur und ein Studium sollten es schon sein. Koste es, was es wolle. Zu offensichtlich scheint der Beleg für den Tatbestand „Je (formal) höher, desto (materiell) besser“. Nun lohnt es sich, einmal genauer hinzuschauen und dabei nicht nur die Daten zu hinterfragen, sondern diese (vergangenheitsbezogenen) Werte einzuordnen in eine noch schwierigere Diskussion, also ob alles so bleiben wird, wie es war, oder ob es anders kommen kann, als man heute denkt.

Es soll und kann an dieser Stelle nicht vertiefend um die aktuelle Diskussion in Deutschland gehen, die unter dem Etikett „Akademisierungswahn“ geführt wird.  Hierzu ist neben den Wortmeldungen von Julian Nida-Rümelin (dazu das Interview „Wir sollten den Akademisierungswahn stoppen„, erschienen in der FAZ im September 2013) ) eine ganze Reihe an zustimmenden, aber natürlich auch ablehnenden Stellungnahmen erschienen. Es sei hier stellvertretend nur auf die im November 2013 vorgelegte Publikation „Wie viel akademische Bildung brauchen wir zukünftig? Ein Beitrag zur Akademisierungsdebatte“ von Hartmut Hirsch-Kreinsen oder den Sammelband „Die Akademiker-Gesellschaft. Müssen in Zukunft alle studieren?„, herausgegeben von Tanjev Schultz und Hurrelmann hingewiesen, in denen die Debatte gut abgebildet wird.

Hier soll es vor allem um den so selbstverständlich daherkommenden Begriff der „Bildungsprämie“ gehen, denn darauf basiert ja die ganze Argumentationslinie der Studie des IAB. Und die wird so dargestellt, dass es für jeden offensichtlich ist, dass sich ein Studium einfach lohnen muss. Auch umgangssprachlich ist es so, dass man bei dem Wort „Prämie“ an etwas denkt, was „on top“ kommt, oben drauf, zusätzlich. So muss man das auch hier verstehen, denn die Hochschulabsolventen bekommen nach der Studie mehr als 1,2 Mio. Euro über ihr Erwerbsleben hinweg „mehr“ als diejenigen ohne eine Berufsausbildung, also die „ganz unten“. Die sind die Bezugsgröße für alle berechneten „Prämien“ der anderen.

Wie sieht die Datengrundlage aus? Basis ist die sogenannte Stichprobe der Integrierten Arbeitsmarktbiografien (SIAB). Für zwei Prozent aller Personen auf dem deutschen Arbeitsmarkt enthält sie alle Episoden sozialversicherungspflichtiger oder geringfügiger Beschäftigung – bedeutet zugleich auch, dass Selbstständige, Beamte oder Studierende dagegen nicht im Datensatz enthalten sind. Was hat man jetzt gemacht? Für alle in der genannten Stichprobe enthaltenen (Vollzeit-) Beschäftigungsepisoden aus den Jahren 2008, 2009 und 2010 wurden die Durchschnittslöhne nach Bildung und Alter berechnet. Die Summe aller Jahresentgelte vom 19. bis zum 65. Lebensjahr ist dann das Lebensentgelt, wobei aber darauf hinzuweisen ist, dass man die Beträge z.B. der 25jährigen Personen aus den Beträgen ermittelt hat, die in den drei Jahren 2008 bis 2010 bei dieser Altersgruppe jeweils angefallen sind – und man hat dann diese Werte auf die Lebensentgelte der einzelnen Gruppen hochgerechnet. Die Studienautoren sprechen deshalb auch von einer „synthetischen Kohorte“, es handelt sich also nicht um die tatsächlichen Einkommen, sondern um hochgerechnete aus dem kleinen Zeitfenster 2008-2010. Dass das nicht ohne ist, wissen die Verfasser der Studie selbst, schreiben sie doch auf den Seiten 5/6 des IAB-Kurzberichts:

»Einschränkend muss aber betont werden, dass die hier vorgelegten konkreten Zahlen eher als Ergebnis einer Modellrechnung denn als exakte Prognose individueller Entgelte verstanden werden sollten. Unsere Befunde beziehen sich nur auf die betrachtete synthetische Kohorte. Es ist davon auszugehen, dass sich für tatsächliche Geburts- oder Arbeitsmarkteintrittskohorten mehr oder weniger große Abweichungen ergeben.«

Ein Fazit:

  • Schon der Blick zurück ist nur eine Annäherung, es handelt sich nicht um die tatsächlich gemessenen Werte bei den Betroffenen, sondern um eine Konstruktion aus den Daten einer Stichprobe und dem Zeitraum 2008-2010. 
  •  Und durchaus bedeutsam ist die Feststellung, dass auch wenn die Annäherung an die Realität in der Vergangenheit trotz aller zwangsläufigen und nicht vermeidbaren Abweichungen gelungen sein sollte: es bleibt die offene Frage, ob man die Niveauunterschiede einfach so in die Zukunft prolongieren kann. Dieser Aspekt soll an einem Beispiel verdeutlicht werden:  Möglicherweise sind die deutlich höheren Einkommen der Akademiker im Durchschnitt über alle Studiengänge in der Vergangenheit schlichtweg dadurch bedingt gewesen, dass die in der Vergangenheit vorhandenen Akademiker tatsächlich aufgrund ihrer relativ geringen Zahl ausschließlich gut bezahlte Positionen besetzt haben. Angesichts der Tatsache, dass in den 1980er Jahren, gerade aber auch in den davor liegenden Jahrzehnten lediglich 20-25 % eines Jahrgangs überhaupt die Hochschulreife erworben haben, um auf dieser Basis ein Studium absolvieren zu können, muss man zumindestens in Erwägung ziehen, dass heute, wo beispielsweise in Rheinland-Pfalz 52 % der Schulabgänger über irgendeine Form der Hochschulreife verfügen,  die dann auch fast alle über kurz oder lang irgendein Hochschulstudium absolvieren, die Situation aufgrund der völlig veränderten Angebotsrelationen auf dem Arbeitsmarkt eine andere sein muss.  Wenn also immer mehr studieren und dadurch bedingt das Angebot an Akademikern kontinuierlich ansteigt, dann muss es nach allen Gesetzen der Ökonomie zu einem Preisverfall kommen, auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Nachfrage nicht gleich geblieben ist, sondern aufgrund der Teil-Akademisierung der Beschäftigung in vielen Berufsfeldern eine Ausweitung erfahren hat.  Das könnte zu mindestens relativ plausibel bedeuten, dass Akademiker, die in der Vergangenheit aufgrund der Knappheitsrelationen eine relativ hohe Vergütung bekommen haben, nunmehr nicht in der Lage sind bzw. sein werden, in der Zukunft ihre Einkommensposition halten zu können. Das würde im Ergebnis dazu führen, dass die Betroffenen nicht mit den Vergangenheitswerten vergleichbare (dazu noch auf der beschriebenen durchaus schmalen empirischen Basis konstruierten) Lebenseinkommen werden realisieren können.

PISA prophylaktisch unter Feuer – das ist wirklich neu. Dabei gilt doch eigentlich: StEG, BiTe, BILWISS, LISA, Se- Mig, NEPS, ICILS: „Der Bedarf an Kennzahlen ist groß“

Am morgigen Dienstag werden die Ergebnisse der neuesten, fünften PISA-Studie veröffentlicht. Normalerweise läuft so ein zahlenhuberisches Großereignis nach dem Strickmuster ab, dass alle Medienvertreter gebannt auf die neuen Daten warten und dann ein beeindrucktes, vielstimmiges Raunen der Auf- und Erregung durch die elektronische bzw. Audio-TV-Welt und mit etwas Verspätung dann auch durch den Blätterwald rauscht, um kurze Zeit später wieder dem nächsten Ereignis den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie folgend Platz zu machen.

Doch diesmal ist etwas passiert, das nachdenklich stimmt – die neuen PISA-Daten sind noch gar nicht ex cathedra verkündet worden, da schwappt eine imposante Flut an Kritik, gar Ablehnung dessen, was sich hinter dem Kürzel PISA verbirgt, durch die Medien. Bereits in der vergangenen Woche konnte man in der Wochenzeitung DIE ZEIT in dem Artikel „Genauer hinschauen“ von Martin Spiewak lesen: »… die Leistungsvergleiche sagen wenig über gutes Lernen und Lehren aus. Ein Tadel.« In der heute veröffentlichten neuen Ausgabe des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL wird unter der Überschrift „Lernen nach Zahlen“ kritisch über den rasanten Aufstieg des Geschäftsmodells „empirische Bildungsforschung“ berichtet, die Süddeutsche Zeitung spricht von „Moderner Aberglaube“ und in der WirtschaftsWoche gibt es ein langes Interview mit dem Bildungsforscher Volker Ladenthin, das gar überschrieben ist mit dem Warnhinweis „PISA gefährdet unser Bildungssystem„. Das ist nun wirklich neu. Also stellt sich die Frage, ob man sich hier zu einer konzertierten Aktion verabredet hat, um einen deutschen Ausstieg aus der PISA-Testerei vorzubereiten – oder ob wir hier ein Überlaufen des Frustes über einen Imperialismus der zahlengetriebenen Sicht auf Schule erleben (dürfen).

Spiewak weist darauf hin, dass es unter der Oberfläche der inflationären Schulleistungstestverfahren mit ihren Schrankmeter füllenden, aber immergleichen Befunden eine brodelnde Unzufriedenheit breit gemacht hat: »Belegt ist mittlerweile, dass Jugendliche im Süden Deutschlands besser lesen als jene im Norden und dass im Osten der Republik besser gerechnet wird als im Westen. Man weiß auch, dass Schüler aus Zuwandererfamilien hohe Ambitionen haben, im Schnitt aber dennoch schlechter abschneiden als ihre Mitschüler. Und dass Neuntklässler in Bayern ihren Alterskameraden in Berlin um anderthalb Schuljahre voraus sind.« So weit, so bekannt. »Nur eines weiß man leider nicht: Warum ist das eigentlich so?« Man würde gerne wissen: Wer ist denn verantwortlich und mit welchem Anteil – die Lehrer, die Eltern, die sozialen Unterschiede, die Schulpolitik der Bundesländer? Manfred Prenzel, der derzeitige Pisa-Leiter, wird von Spiewak zitiert mit den Worten: „Über die Ursachen der regionalen Leistungsdifferenzen liegen keine empirisch gesicherten Erkenntnisse vor.“ Man könnte es auch so formulieren: „Empirische Wende“ erfolgreich geschafft, Deutungsdefizit stabilisiert. Der Umfang der Datensätze korreliert nicht mit dem Wissen über das Ursächliche. Für Spiewak sind die großen Vergleichsstudien wie „Satellitenbilder“, Schnappschüsse von oben – ein schönes, zutreffendes Bild. Und auch einen guten Rat hat er, leider wird dessen Umsetzung keine tollen Pressekonferenzen füllen: »Die empirische Bildungsforschung muss in Zukunft viel genauer hinschauen. Sie sollte untersuchen, wie Lehrer unterrichten und Kinder lernen; wie Eltern bei den Hausaufgaben helfen oder Rektoren ihre Schule verändern.«

Warum sind alle so auf die bekannteste aller Bildungsstudien fixiert? Schließlich ist nicht einmal gesichert, dass sie misst, was sie zu messen vorgibt, so die These von Thomas Steinfeld in seinem Artikel „Moderner Aberglaube„. Seine Zweifel beziehen sich auf die Tests, die den Studien zugrundeliegen: »Erfasst werden kann nur, was zuvor ausgewählt, standardisiert und zum Zweck der Prüfung aufbereitet wurde.« Und für jeden, der statistisch vergleichend arbeitet, ist das folgende Argument durchschlagend für Skepsis und Zweifel an den Ranking-Ergebnissen neben den inhaltlichen Fragezeichen: »Bekannt ist auch, dass die Voraussetzungen für die Teilnahme an den Tests in verschiedenen Ländern oft nicht vergleichbar sind – etwa dadurch, dass in vielen Staaten Fünfzehnjährige mit schlechter Ausbildung die Schule schon verlassen haben, während sie in Deutschland noch unterrichtet werden, weshalb der Durchschnitt dann zwangsläufig sinkt.«
Und es gibt eine ernstzunehmende Kritik daran, über die PISA-Philosophie das Verstehen konsequent durch Kompetenz zu ersetzen, Wissen durch abrufbare Fertigkeiten oder „skills“. Der vielleicht schwerwiegendste Vorwurf lautet: PISA & Co. haben sich längst von einem deskriptiven zu einem normativen Projekt gewandelt.

Wenn aber ausweislich der breiten Kritik an vielen Aspekten des Test(un)wesens die Ergebnisse der Tests so fragwürdig sind – warum gibt es sie dann noch? Gute Frage. Steinfeld resümiert dazu: »… weil im Zuge der radikalen Ökonomisierung aller Gesellschaften der Wettbewerb als solcher längst als etwas schlechthin Erstrebenswertes gilt, ganz unabhängig davon, was jeweils dabei herauskommt – weil also der verselbständigte Formalismus der Konkurrenz gar keinen anderen Gedanken mehr zulässt, als dass mehr Konkurrenz besser ist als weniger Konkurrenz. Das aber ist ein moderner Aberglaube.« Touché, Herr Steinfeld.

Schweres Geschütz fährt der Bildungsforscher Volker Ladenthin in einem Interview auf: „PISA gefährdet unser Bildungssystem„. Er kritisiert, dass PISA zum einen viele explizite Ziele in unserem Bildungssystem gar nicht misst, beispielsweise demokratische Gesinnung. Zum anderen hat PISA eigenmächtig fremde, nicht vorab demokratisch verabredete Kriterien für das, was gute Bildung sein soll, eingeführt – also PISA als „normatives Projekt“, wie wir es in diesem Beitrag schon lesen konnten. Letztendlich verdichtet sich seine Argumentation in einer Art feindlichen Übernahme des Bildungssystems durch Dritte und deren Interessen. Ladenthin beklagt, dass die Normsetzung durch internationale Organisationen wie die OECD, die hinter PISA steht, unser Bildungssystem zunehmend darauf reduziert, Menschen nur noch für kurzfristige und begrenzte Zwecke auszubilden:

»Schüler sollen nach PISA eben nicht lernen, nach dem Sinn des Lernens zu fragen, sondern sie sollen Aufgaben lösen, gleichgültig welche. Der von PISA als kompetent Geprüfte soll später einmal ebenso Babynahrung produzieren können wie Landminen. Angesichts der Kriterien von PISA und einer auf PISA ausgerichteten Schule sind beide Aufgaben gleich gültig. Und sie bedürfen der gleichen Kompetenzen.«

Bei der ersten PISA-Runde wurden die deutschen Schulen unvorbereitet getroffen. »Nach dem ersten wohlinszenierten PISA-Schock haben sich Schulverwaltungen und Schulen dann jedoch angestrengt, schnell das als Lehrstoff verbindlich zu machen, was PISA testet.«

Insofern dürfen wir uns auch nicht wundern, dass die ehrgeizigen Deutschen morgen sicher weitere tolle Fortschritte auf dem Weg nach PISA attestiert bekommen werden. Alles andere würde die konsequente Ausrichtungsstrategie in den Bundesländern schwer diskreditieren.
PISA ist für die Ausbildung der Massen da. Für die Massen-Schulen, in denen künftige Arbeitskräfte fit gemacht werden sollen. Es geht um Anpassung und Einübung. »Von der Qualifikation der Arbeitgeber ist erst gar nicht die Rede.« Da muss man ihm zustimmen. Das ist vergleichbar mit der ewigen Klage über eine angebliche oder tatsächliche mangelnde Ausbildungsreife der jungen Menschen. Die gibt es aber auch auf der anderen Seite, bei den Unternehmen. Das taucht aber kaum oder gar nicht auf in der öffentlichen Debatte. Höchstens, wenn es wieder einmal einen „bedauerlichen“ Einzelfall unhaltbarer Zustände gegeben hat, was dann aber so schnell wieder aus den Medien verschwunden ist wie die Berichte über irgendwelche unhaltbaren Zustände in Pflegeheimen.

Ladenthin stellt die These auf, dass über PISA nicht wirklich mehr „Bildungsgerechtigkeit“ angestrebt werden soll, sondern Vergleichbarkeit, Gleichförmigkeit und Standardisierung. Die Ziele von Bildung heißen inzwischen „Bildungsstandards“. Das Schlagwort „Bildungsgerechtigkeit“ dient dabei ausschließlich der „Akzeptanzbeschaffung“, so zitiert Ladenthin die Aussage eines Staatssekretärs.

Und dann weist er auf eine fundamentale Kritik hin, die hier besonders hervorgehoben zitiert werden soll: »Die Folge für das Bildungssystem ist der Verlust an Kultur, also der Verlust von bedeutsamen Inhalten: Philosophie, Politik, Kunst, Literatur, Natur oder humaner Lebenssinn werden zur Privatangelegenheit«.

Übrigens sind das alles Dinge, die bei PISA gar nicht getestet werden (können). Und was nicht gemessen werden kann, das gibt es dann irgendwann auch nicht mehr richtig. Also im falschen Leben. Dem der Datengläubigkeit. Von daher ist es gut, dass wir schon am Vorabend von PISA die Chance bekommen, unsere Zeit anders einzuteilen als nach dem üblichen Muster der Erregungsökonomie. Beispielsweise – wenn man denn die Zeit hat – mal wieder ein Buch lesen.