Wenn Geldsorgen den IQ auffressen und Arme im Labor und in der freien Wildbahn von Armutsforschern unter die Lupe genommen werden

Es ist sicher allgemein bekannt, dass es so etwas wie einen „Teufelskreis der Armut“ gibt, aus dem viele Menschen dann nicht mehr herausfinden (können). Nun haben US-amerikanische Forscher einen neuen Zugang zu diesem grundsätzlichen Problem ausprobiert, über den Jürgen Langenbach in seinem Artikel „Geldsorgen monopolisieren das Gehirn und senken den IQ“ berichtet. Er bezieht sich dabei auf den folgenden Beitrag:

Anandi Mani, Sendhil Mullainathan, Eldar Shafir, Jiaying Zhao: Poverty Impedes Cognitive Function, Science 30, August 2013, Vol. 341 no. 6149 pp. 976-980

Ökonomen um Sendhil Mullainathan vom Department of Economics der Harvard-University arbeiten an einem neuen Zugang, sie haben zunächst gezeigt, dass Armut in Abwärtsspiralen führen kann – Überziehungszinsen am Konto sind hoch, Jobs gehen wegen Unpünktlichkeit verloren etc. Sie gehen in ihrem Ansatz der Frage nach dem „Wie“ nach, also wie kann es zu diesen Abwärtsspiralen kommen? In den bisherigen Debatten stehen sich of zwei Lager gegenüber, die einen vertreten dabei den Ansatz, die Umwelt sei schuld, die anderen führen die beobachtbaren Abwärtsspiralen zurück auf individuelle Faktoren, die in der Person des Betroffenen angelegt sind. Mullainathan wird zitiert mit den Worten: „Wir argumentieren, dass der Mangel an finanziellen Ressourcen selbst zu einer Schädigung der Denkfähigkeit führen kann. So kann der schlichte Umstand, dass man nicht genug hat, ein Grund für Armut werden.“

Und wie sich das in der heutigen verhaltensökonomisch ausgerichteten empirischen Forschung gehört, geht man die Fragen mit Experimenten an. So auch bei Mullainathan et al., die ein erstes Experiment im Labor durchgeführt haben:

»Sie rekrutierten Testpersonen in einem Supermarkt und ließen sie dann zwei Aufgaben ausführen, die oft in IQ-Tests eingehen, bei der einen geht es um Logik, bei der anderen um Selbstkontrolle. Aber vorher kam noch eine lebenspraktische Frage: „Wenn Ihr Auto kaputt wäre und Sie für die Reparatur x Dollar bräuchten, wie würden Sie dieses Geld auftreiben?“ Das x war einmal hoch angesetzt (1500), einmal moderat (150). Diese Differenz wirkte auf den IQ, aber nur bei Armen (Jahreseinkommen im Durchschnitt: 20.000 Dollar): Wenn sie den Kopf voll hatten mit dem Problem, 1500 Dollar auftreiben zu müssen, schnitten sie im IQ-Test um 16 Punkte schlechter ab – das ist sehr viel –, als wenn es nur um 150 ging. Bei denen stand ihre Intelligenz der der Reichen (Jahreseinkommen 70.000) um nichts nach, und bei den Reichen hatte die fiktive Reparatur auch keinerlei Einfluss, ganz gleich, was sie kosten sollte.«

Nun lautet ein immer wieder vorgetragener Einwand, dass diese Laborexperimente in den Versuchsräumen der Hochschulen etwas sehr Künstliches haben und durch diese Umgebung die Ergebnisse möglicherweise erheblich verzerrt werden.

Also haben die Wissenschaftler um Mullainathan einen weiteren expertimentellen Ansatz gewählt, sie gingen ins Feld, im wahrsten Sinne des Wortes ins Feld, zu Zuckerrohrbauern nach Indien. Bei denen lag folgende Ausgangskonstellation vor: Diese Zuckerrohrbauern haben einmal im Jahr Geld, dann, wenn sie die Ernte verkaufen. „Im Monat danach sind sie ziemlich reich, im Monat davor sind sie ziemlich arm“, berichtet Mullainathan. Eine „wunderbare“ Konstellation für den experimentellen Ansatz, den man bereits unter Laborbedingungen getestet hatte:
„Wir haben sie zu diesen Zeitpunkten getestet, und gesehen, dass im Monat nach der Ernte der IQ steigt, die Fehlerquote sinkt und die Reaktionszeit auch.“ Der IQ stieg um zehn Punkte, jeweils bei ein und denselben Personen, so einer der Befunde.

„Wenn man arm ist, ist nicht nur das Geld knapp, die kognitive Fähigkeit ist es auch“, interpretiert Mullainathan, „das heißt nicht, dass Arme weniger intelligent sind, sie haben nur den Kopf voll mit den Geldsorgen und deshalb weniger Kapazitäten für anderes frei.“ Es sei wie bei einem Computer, der langsamer läuft, wenn er im Hintergrund beschäftigt ist, vergleicht der Forscher.

Die Wissenschaftler raten vor dem Hintergrund dieser Befunde der Politik nicht nur zu einer finanziellen Entlastung der Armen, damit die den Kopf frei bekommen, was ja für die Begründung von Sozialleistungen herangezogen werden kann. Sie erweitern die Ratschläge auch noch auf andere, im wahrsten Sinne des Wortes existenzielle Anliegen und ziehel aus ihren Erkenntnisse einleuchtende Schlussfolgerungen. Um das am Beispiel der indischen Zuckerrohrbauern zu illsutrieren: „Anti-Aids-Kampagnen etwa sollten kurz nach der Ernte stattfinden.“

Von Äquivalenzeinkommen, Armutsgefährdungsschwellen und -quoten. Neue Befunde aus dem Mikrozensus

Das Statistische Bundesamt hat neue Daten zur Größenordnung der „Armutsgefährdung“ in Deutschland veröffentlicht: „Armuts­ge­fähr­dung in Ost­deutsch­land nach wie vor höher„, so ist die Pressemitteilung des Statistiker überschrieben und adressiert damit sicher ein seit langem bekanntes Phänomen, aber weitaus interessanter sind andere Erkenntnisse, die man auch aus den Daten ziehen kann.
Die Abbildung der Entwicklung der Armutsgefährdungsquote von 2005 bis 2012 verdeutlicht auf der einen Seite die weiterhin bestehende große Differenz zwischen West- und Ostdeutschland ( so lag die Armutsgefährdungsquote in Deutschland im vergangenen Jahr bei 15,2%), in Westdeutschland hingegen bei 14,0% und in Ostdeutschland bei 19,7%).
Man kann aber auch erkennen, dass es insgesamt gesehen keinen Rückgang der Quote in den letzten Jahren gegeben hat, ganz im Gegenteil steigt die Quote, vor allem in Ostdeutschland.

Nun gibt es an dieser Stelle immer wieder den Einwand, dass diese „Armutsgefährdungsquote“ kein Wert darstellen würde, mit dem man „Armut“ abbilden könne, sondern dass es sich wenn überhaupt um ein Maß des Einkommensungleichheit handeln würde. Schauen wir uns deshalb diesen Indikator etwas genauer an.

An erster Stelle muss man sich vergegenwärtigen, dass es sich hier um die hochgerechneten Ergebnisse aus einer Stichprobe handelt – dem so genannten „Mikrozensus“. Der Mikrozensus ist die größte jährliche Haushaltsbefragung in Europa; er bietet aufgrund seiner Stichprobengröße die Möglichkeit, für alle Bundesländer verlässliche Indikatoren zu ermitteln und zu vergleichen, so das Statistische Bundesamt. Aus dieser Stichprobe – die auch Einkommensdaten liefert – werden dann die Armutsgefährdungsquoten berechnet. Aber was ist das genau? Auch hierzu gibt es eine ordentliche Definition:

»Gemäß der Definition der Europäischen Union gelten Menschen als armutsgefährdet, die mit weniger als 60 % des Medians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung in Privathaushalten auskommen müssen.«

Wichtig an dieser Stelle: Der Median, nicht das arithmetische Mittel, wird hier zugrunde gelegt, denn der Median (also die eine Hälfte der Werte befindet sch unter und die andere über diesem Wert) ist wesentlich unempfindlicher gegen einzelne Ausreißer-Werte als der „normale“ Durchschnittswert.
Was nun ist das „Äquivalenzeinkommen“?

Die Statistiker geben auf ihrer Website zur Amtlichen Sozialberichterstattung eine Definition von „Äquivalenzeinkommen“: »Das Äquivalenzeinkommen ist ein bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied, das ermittelt wird, indem das Haushaltsnettoeinkommen durch die Summe der Bedarfsgewichte der im Haushalt lebenden Personen geteilt wird. Nach EU-Standard wird zur Bedarfsgewichtung die neue OECD-Skala verwendet. Danach wird der ersten erwachsenen Person im Haushalt das Bedarfsgewicht 1 zugeordnet, für die weiteren Haushaltsmitglieder werden Gewichte von < 1 eingesetzt (0,5 für weitere Personen im Alter von 14 und mehr Jahren und 0,3 für jedes Kind im Alter von unter 14 Jahren), weil angenommen wird, dass sich durch gemeinsames Wirtschaften Einsparungen erreichen lassen.«

Die Abbildung verdeutlicht am Beispiel der Armutsgefährdungsschwellen für zwei Haushaltstypen – zum einen der Einpersonenhaushalt eines Erwachsenen, zum anderen eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahre -, welche konkrete Einkommenshöhen erreicht werden müssen, damit man nicht als von Einkommensarmut betroffen angesehen wird (Quelle: Daten aus der Amtlichen Sozialberichterstattung).

2012 lagen diese Beträge bei einem Einpersonenhaushalt im Westen bei 899 Euro und im Osten bei 768 Euro im Monat, während sich diese Beträge bei der vierköpfige Familie größenbedingt erhöhen auf 1.888 Euro bzw. 1.612 Euro.

Die neuen Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen bekannte Phänomene – dazu gehört nicht nur die fortbestehende Differenz der Armutsgefährdungsquoten zwischen Ost und West, sondern auch die in den Tabellen dargestellten erheblichen Unterschiede zwischen Bundesländern, auch zwischen westdeutschen Bundesländern: »Am geringsten ist die Armutsgefährdung seit 2005 durchgängig in Baden-Württemberg und Bayern, am höchsten seit 2010 in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern. 2012 lag das Armutsrisiko in Baden-Württemberg bei 11,1 % und in Bayern bei 11,2 %. In Bremen und in Mecklenburg-Vorpommern war es rund doppelt so hoch (Bremen 23,1 %; Mecklenburg-Vorpommern 22,9 %).« Das sind schon erhebliche Streuweiten.

Noch interessanter ist aber die erkennbare Dynamik zwischen den Bundesländern und dann auch mit Blick auf die 15 bevölkerungsreichsten Großstädte in Deutschland. Hierzu nur zwei Auffälligkeiten:

  • Im Vergleich der Jahre 2012 und 2005 ist das Armutsrisiko am stärksten in Thüringen und Sachsen-Anhalt gesunken. Am stärksten gestiegen ist es in Nordrhein-Westfalen und Berlin.
  • Von den 15 bevölkerungsreichsten Großstädten der Bundesrepublik Deutschland war das Armutsrisiko im Jahr 2012 in München (11,4 %) und Stuttgart (13,4 %) am geringsten. Am höchsten war die Armutsgefährdung in Dortmund (26,4 %), Leipzig (25,9 %) und Duisburg (25,1 %).

An dieser Stelle soll auf eine wirklich beunruhigende Entwicklung hingewiesen werden, wenn man sich das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen anschaut – denn dort müssen wir eine ausgeprägte Einkommensarmutsdynamik im Sinne einer erheblichen Zunahmen der Armutsgefährdungsquoten feststellen. Wir sehen in der Abbildung eine deutliche Zunahme in den hier dargestellten Großstädten Dortmund, Duisburg und Köln – und das sind gleichzeitig auch Städte, die beispielsweise besonders hart getroffen sind von der Problematik der Armutszuwanderung aus Südosteuropa (vgl. hierzu nur beispielhaft das Interview mit dem Duisburger Stadtdirektor Reinhold Spaniel „Wir sind völlig überfordert„).

Was man auf der Ebene der Bundesländer sehen kann – eine weitere Polarisierung im Sinne einer Auseinanderentwicklung zwischen den eher prosperierenden und den zurückfallenden Regionen – spielt sich auf der Ebene der Großstädte genau so ab. Grundsätzlich gibt es viele Antreiber für eine solche auseinanderfallende Entwicklung, die sich oft nur mit erheblichen Mittelverteilungskorrekturen, zuweilen aber selbst damit nicht aufhalten oder gar korrigieren lassen. Zugleich aber sind die Regionen und Großstädte, die sich verschlechtert haben, besonders von Arbeitslosigkeit betroffen – ja, die gibt es immer noch in Deutschland, auch wenn man zuweilen den Eindruck vermittelt bekommt, wir haben Vollbeschäftigung – und insbesondere von der Problematik einer sich weiter verhärtenden Langzeitarbeitslosigkeit mit hunderttausenden Hartz IV-Empfänger, die bereits seit Jahren abgetrennt sind vom Arbeitsmarkt und bei denen man seit 2010 auch noch mehrere Milliarden an Eingliederungsmitteln gekürzt hat. Kein Wunder, dass die eh schon im unteren Bereich angesiedelten Großstädte, in denen überdurchschnittlich viele dieser Menschen leben, dann noch weiter zurückfallen müssen, während die prosperierenden Städte dann eher die zusätzlichen Beschäftigungsverhältnisse und damit auch die gut qualifizierten Zuwanderer anziehen können.
Sowohl mit dem Problem der sich weiter erheblich verfestigenden Langzeitarbeitslosigkeit wie auch mit den Folgeproblemen der Armutszuwanderung sowie der steigenden Asylbewerberzahlen werden die Städte weitgehend alleine gelassen.

Mit den Millionen kann man schon mal durcheinander kommen: Von Leistungsberechtigten, An-sich-Leistungsberechtigten und der Restgruppe der Arbeitslosen. Und was das alles mit dem Regelsatz für Hartz IV-Empfänger zu tun hat

Es ist ja auch ein Kreuz mit den Zahlen. Man kann das jeden Monat beobachten, wenn seit gefühlt 200 Jahren die Zahl der Arbeitslosen in Nürnberg der versammelten Presse bekannt gegeben wird, so wie vor kurzem für den Monat Juni des Jahres 2013. Und man kann sicher sein, dass dann überall darüber berichtet wird, dass die Zahl der Arbeitslosen – oder sagen wir es lieber an dieser Stelle bereits richtig – die Zahl der registrierten Arbeitslosen im Juni bei 2,865 Mio. Menschen und damit weiter unter der 3-Millionen-Schwelle liegt. Nun weist die Bundesagentur für Arbeit selbst in ihren monatlichen Arbeitsmarktberichten eine etwas andere Zahl aus, die weitaus sinnvoller für eine Zitation in den Medien wäre: 3,843 Millionen Menschen, die so genannten „Unterbeschäftigten“. Die sind auch alle arbeitslos, aber die fast genau eine Million Menschen, die bei der Zahl fehlt, die es dann auf die Titelseiten der Zeitungen und in die Schlagzeilen der Nachrichten in Funk und Fernsehen schafft, sind derzeit beispielsweise in „Aktivierungsmaßnahmen“ oder waren schlichtweg am Tag der Zählung der Arbeitslosen krank geschrieben, aber grundsätzlich natürlich weiterhin arbeitslos waren (weiterführend und regelmäßig die aktuellen Arbeitsmarktzahlen der BA kritisch begleitend die Berichterstattung auf der Website O-Ton Arbeitsmarkt).

Wie dem auch sei – in den Köpfen der meisten Menschen bleibt dann irgendwie immer diese niedrigste Zahl, derzeit also die 2,865 Millionen Arbeitslosen, hängen. Das mag dann auch erklären, warum so viele mehr als irritiert reagieren, wenn man gleichzeitig darauf hinweist, dass wir gegenwärtig 6,168 Millionen Menschen im Grundsicherungssystem (SGB II) haben, die also „Hartz IV“-Empfänger sind. Das bekommen dann viele nicht mehr übereinander, weil zwischen 2,9 Mio. und 6,2 Mio. ist an sich schon eine riesige Diskrepanz und dann kommen doch auch noch die Arbeitslosen dazu, die gerade erst seit kurzem arbeitslos geworden sind und die die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I (Alg I) beziehen und gerade nicht Hartz IV (also Alg II) und die doch auch arbeitslos sind, sonst würden sie ja auch keine Leistungen beziehen können. Die Abbildung zeigt die zahlenmäßigen Zusammenhänge.

Während wir also „nur“ 1,967 Millionen arbeitslos registrierte „Hartz IV“-Empfänger haben, beziehen tatsächlich aber 4,46 Millionen Menschen Arbeitslosengeld II und dann kommen auch noch weitere 1,71 Millionen Menschen dazu, die auch „Hartz IV“-Empfänger, aber nicht erwerbsfähig sind und damit natürlich auch nicht arbeitslos sein können. Diese Gruppe versteht man noch, wenn man die Erläuterung liest, dass es sich zu 95% um Kinder unter 15 Jahren handelt. Die sind natürlich noch nicht erwerbsfähig. Aber die Differenz zwischen den 1,967 Millionen arbeitslosen und den 4,46 Millionen erwerbsfähigen „Hartz IV“-Empfänger? Auch die kann man natürlich erklären, weil der Unterschied besteht aus an sich erwerbsfähigen, aber nicht als arbeitslos registrierbaren Menschen, weil viele von denen haben beispielsweise eine Arbeit, verdienen aber so wenig, dass sie aufstockend SGB II-Leistungen beziehen oder sie sind an sich erwerbsfähig, dürfen aber nicht arbeitslos sein, weil sie Kinder unter drei Jahren zu betreuen haben oder weil sie einen pflegebedürftigen Angehörigen versorgen.

Jetzt wird es aber noch komplizierter, folgt man dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. Denn die haben berechnet, dass es viele Menschen gibt, die eigentlich Hartz IV-Leistungen beziehen könnten, es aber aus welchen Gründen auch immer nicht tun. So hat Cordula Eubel ihren Artikel im „Tagesspiegel“ überschrieben mit: „Mehr als jeder Dritte verzichtet auf Hartz IV. Nach Berechnungen für das Arbeitsministerium leben bis zu 4,9 Millionen in verdeckter Armut„. Genauer: »In Deutschland leben 3,1 bis 4,9 Millionen Menschen in verdeckter Armut. Das heißt, dass sie kein Hartz IV beantragen, obwohl sie wegen geringen Einkommens oder Vermögens Anspruch darauf hätten.« Zu diesem Befund ist das IAB auf der Basis von Simulationsrechnungen für das Bundesarbeitsministerium gekommen, die allerdings derzeit noch nicht veröffentlicht worden sind, so dass wir uns an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt auf die zitierte Berichterstattung verlassen müssen, die von einer 247 Seiten umfassenden Studie spricht.
Wenn man das umrechnet unter Berücksichtigung der eingangs zitierten Werte, dann bedeutet das, dass zwischen 34 und 44 Prozent der Berechtigten auf staatliche Unterstützung verzichten, also mehr als jeder dritte Berechtigte.

Natürlich kommt an dieser Stelle sofort die Frage, warum so viele Menschen auf die Inanspruchnahme der ihnen ja zustehenden Leistungen verzichten. Die IAB-Forscher nennen hier „Unwissenheit, Scham oder eine nur sehr geringe zu erwartende Leistungshöhe oder -dauer“ als Erklärungsfaktoren.

Allein die Größenordnung an Menschen, die eine ihnen zustehende Grundsicherungsleistung nicht in Anspruch nehmen, ist natürlich schon sozialpolitisch hoch brisant. Aber darüber hinaus ist diese Information von einer weiteren grundsätzlichen Bedeutung mit höchst pikanten Auswirkungen auf die Praxis der Bemessung der Leistungen im SGB II-System. Hier geht es um die Frage der Berechnung der Höhe der Regelsätze innerhalb des Grundsicherungssystems.

Hierzu hatte es im Jahr 2010 eine wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegeben,  in der die bis dahin praktizierte Art und Weise der Berechnung als verfassungswidrig erkannt wurde – unter anderem, weil dem früheren Betrag nach den Worten der Richter Schätzungen „ins Blaue hinein“ zugrunde lagen. Es handelt sich um die Entscheidung vom 9. Februar 2010: BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010.

In den Leitsätzen der Entscheidung findet man die folgende Formulierung:

»Zur Ermittlung des Anspruchumfangs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen.«

Die Verfassungsrichter hatten u.a. moniert, dass man die Regelsätze ableitet aus den untersten 20% der Haushaltseinkommensverteilung ohne Berücksichtigung der Hartz IV-Empfänger, was als Methode zulässig sei, aber dass man es versäumt habe, die „verdeckt Armen“ aus dieser Gruppe herauszurechnen, also die Menschen, die eigentlich zu der Gruppe der Hartz IV-Empfänger gezählt und damit ausgeschlossen werden müssten, es aber nicht tun, weil sie aus welchen Gründen auf die ihnen eigentlich zustehenden Leistungen verzichten. Der Gesetzgeber solle, so das BVerfG, bei der Auswertung künftiger Einkommens- und Verbrauchsstichproben darauf achten, die verdeckt armen Haushalte zu entfernen, da sie in der Referenzgruppe „die Datenbasis verfälschen“ würden.

Eigentlich müsste man also im Lichte der neuen Daten die dort ermittelten verdeckt armen Haushalte aus der Bezugsgruppe für die Bestimmung des Regelsatzes herausnehmen. »Dann müssten aber auch die Regelsätze steigen. Rechnet man die verdeckt Armen heraus, so steigen die Konsumausgaben bei Alleinstehenden laut IAB im Schnitt um bis zu 2,4 Prozent, bei Paaren mit einem Kind um bis zu 5,5 Prozent«, so Cordula Eubel in ihrem Artikel.

Man muss das auch sehen vor dem Hintergrund einer massiven Kritik vieler Fachleute an der 2011 dann vorgenommenen Neuberechnung des Regelsatzes im SGB II. Die Ministerialbeamten hatten damals gerechnet »und bekamen 2011 einen Eckregelsatz heraus, der den alten um 2,81 Euro übertraf«. Warum der Anstieg nur so marginal ausgefallen ist, untersuchen die beiden Wissenschaftler Irene Becker und Reinhard Schüssler in dem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsprojekt „Das Grundsicherungsniveau: Ergebnis der Verteilungsentwicklung und normativer Setzungen„, aus dem jetzt erste Zwischenergebnisse bekannt wurden: „Regelsatz-Berechnung weiter fragwürdig„. »Die Regierung hat zwar die verfassungsrechtlich notwendigen Revisionen vorgenommen, das Rechenverfahren aber an anderen Stellen in einer Weise verändert, die den Korrekturen „systematisch entgegengewirkt haben“, so Becker. Nach ihrer Rechnung hätte der Eckregelsatz um etwa 27 Euro steigen müssen – wenn das ursprüngliche Verfahren nur in den vom obersten Gericht beanstandeten Punkten modifiziert und ansonsten unverändert geblieben wäre.« So musste man 2011 beobachten, dass eine Reihe von Einzelbeträgen abgezogen wurden, die der Gesetzgeber für „nicht regelsatzrelevant“ hält, etwa Ausgaben für Tabakwaren, Benzin, Reisen oder Gastronomiebesuche.

»Auch die Bezugsgruppe hat der Gesetzgeber verändert. Bei den Alleinstehenden zählten 2011 nicht mehr die unteren 20 Prozent, sondern nur noch die unteren 15 Prozent der Haushalte dazu. Real liegt die obere Einkommensgrenze der Referenzgruppe nun um neun Prozent oder rund 82 Euro niedriger.«

Zurück zu den neuesten Daten über den Umfang der Gruppe der verdeckt Armen. Das Bundesarbeitsministerium nennt die Größenordnung „beträchtlich“ – und wie gesagt, hier müsste man eigentlich so schnell wie möglich handeln und eine Anpassung vornehmen. Wer jetzt auf ein „aber“ wartet, den kann ich leider nicht enttäuschen, denn das Bundesarbeitsministerium »will … die Berechnung nicht ändern. Würde diese Personengruppe herausgerechnet, „käme es durch die an deren Stelle nachrückenden Haushalte mit höherem Einkommen tendenziell zu einer Verlagerung der Referenzgruppe in den mittleren Einkommensbereich“, heißt es dazu im aktuellen Regelbedarfsbericht«.

Anders ausgedrückt: Alles spricht für eine Korrektur der Regelsätze, aber das zuständige Ministerium verweigert das einfach. Nach dem Motto: Ihr könnt ja (wieder) Klage erheben, aber bis das beim Bundesverfassungsgericht landen wird, kann der Rhein noch eine Menge Wasser transportieren.