Aus den untersten Etagen des deutschen Arbeitsmarktes: Lohnprellerei, Subunternehmer-Ketten und Generalunternehmer, die eigentlich haften müssen. Und ein echtes Staatsversagen

Und wieder erreichen uns Berichte aus den untersten Etagen des deutschen Arbeitsmarktes, wo Ausbeutung grassiert und Hilfe nötig ist: »Das Frankfurter Europaviertel wächst und gedeiht. Bauherrn wie Immobilienfirmen haben Grund zur Freude. Nicht so die rumänischen Arbeiter, die dort protestierten. Sie sind seit Wochen nicht entlohnt worden.« So beginnt der Artikel Abermals rumänische Arbeiter geprellt von Jochen Remmert.

Über 50 rumänische Bauarbeiter, die in Frankfurt am Europaviertel mitbauen (vgl. dazu den Artikel Wo die Wohntürme wachsen) haben seit Wochen keinen Lohn mehr bekommen. Da ist z.B. Adrian Trandafir, ein verheirateter Vater zweier Kinder (11 und 16 Jahre), die mit der Mutter in Rumänien geblieben sind – und auf das Geld aus Deutschland dringend warten.

»Mit dem Bus dauert die Reise nach Frankfurt eineinhalb Tage, sie kostet 150 Euro. Schon dieses Geld müssen sich die Arbeiter oft erst einmal leihen und darauf hoffen, dass sie es dann in Deutschland schnell wieder verdienen. Versprochen werden gut 14 Euro Stundenlohn. Tatsächlich aber liegt das Entgelt nicht selten darunter, berichten die Arbeiter. Die wirkliche Arbeitszeit ist kaum zu prüfen, und wenn noch Kosten für Unterkünfte abgezogen werden, sind Manipulationen Tür und Tor geöffnet.«

Und wenn man sich den Sachverhalt genauer anschaut, dann versteht man in Umrissen, warum es so wichtig ist, sich mit den hoch problematischen Subunternehmer-Ketten in der Bauwirtschaft zu beschäftigen, mit einem Instrument namens Generalunternehmerhaftung und auch, warum es spezieller Hilfsangebote seitens der Gewerkschaften – die aber nur fehlendes und eigentlich dringend erforderliches staatliches Handeln zu kompensieren versuchen, braucht, um denjenigen, denen hier Unrecht angetan wird, helfen zu können.

Zum Sachverhalt aus Frankfurt:

»Generalunternehmer der Baustelle an der Hattersheimer Straße am Rande des Europaviertels in Frankfurt ist die D & B Bau GmbH aus Neustadt an der Weinstraße. Sie wiederum gehört zur Demathieu-&-Bard-Gruppe in Frankreich.«

Jetzt kommt das Subunternehmer-Thema ins Spiel:

»Die Ausführung des Baus hat D & B Bau allerdings einem Offenbacher Unternehmen übertragen. Sie hat die Lohnsumme zwar von der D & B Bau nach deren Angabe in voller Höhe kassiert, das Geld aber nicht oder nur zu einem Bruchteil an die rumänischen Bauarbeiter ausgezahlt. Alles in allem stehen rund 200.000 Euro an Löhnen aus, hat die IG Bau errechnet. Zudem hat das Offenbacher Subunternehmen die Miete für Unterkünfte der Wanderarbeiter nach Angaben der Gewerkschaft nicht bezahlt – mit der Folge, dass mehr als 20 von ihnen zunächst keine Bleibe mehr hatten.«

Offensichtlich geht es hier um die Offenbacher Kaczor Bauunternehmen GmbH, wie man einem anderen Artikel zu den Vorgängen in Frankfurt entnehmen kann.

Und wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass der Fall an die Öffentlichkeit gebracht wurde?
»Dass deren heikle Lage überhaupt publik wurde, ist nicht zuletzt Letitia Türk vom DGB-Projekt „Faire Mobilität“ zu danken. Die in Rumänien geborene Gewerkschafterin hilft den Männern, die in der Regel kein Deutsch sprechen können, ihre Rechte einzufordern.«

»Ganz leicht dürfte es erst einmal nicht werden, die ausstehenden Löhne rasch zu bekommen. Denn der Subunternehmer aus Offenbach scheint verschwunden.«

Nun könnte der eine oder andere Rechtskundige einwerfen, genau für solche Fälle gilt doch nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz die Generalunternehmerhaftung mit den daraus resultierenden Verpflichtungen. Im Prinzip ja und der Generalunternehmer erklärt auch öffentlich, er wolle diese Verpflichtungen selbstverständlich erfüllen. Also grundsätzlich, aber:

»Man müsse aber erst einmal prüfen, wer von den Arbeitern, die der flüchtige Offenbacher Bauunternehmer angeheuert habe, tatsächlich auf der Baustelle an der Hattersheimer Straße tätig gewesen sei. Das waren nach Auskunft der IG Bau 54 Männer. Allerdings hat die Offenbacher Firma offenbar weitere 250 ebenfalls um Löhne geprellt. Sie waren aber nicht auf Baustellen der D & B Bau tätig. Ihnen könne man nicht helfen … Für das Unternehmen ist die Lage nicht nur heikel, weil es nun zweimal für dieselbe Leistung zahlen muss, sondern auch deshalb, weil der Zeitplan für das 180 Wohnungen umfassende Projekt an der Hattersheimer Straße in Gefahr gerät. Nach wie vor geltende Fristen sind womöglich nicht mehr oder nur mit erheblichem zusätzlichem Kostenaufwand einzuhalten.«

Nun könnte der eine oder andere auf die Idee kommen, dann soll doch das Unternehmen einfach die rumänischen Bauarbeiter direkt einstellen, um die Baustelle schnell wieder ans Laufen zu bekommen. Das sei „zu kompliziert“, wird einer der Verantwortlichen aus dem Unternehmen zitiert. »Man sei aber auf der Suche nach einem neuen Subunternehmer, der die Arbeiter von der Hattersheimer Straße übernehme.«

Von der Subunternehmer-Kette will man also nicht lassen.

Wenn man das schon meint machen zu müssen, dann hat man aber auch die Konsequenzen zu tragen – und übrigens ist es auch nicht so, dass man sich immer herausreden kann mit dem Hinweis, man habe ja leider nicht wissen können, was da unter der Subunternehmer-Decke alles passiert. Nur ein ganz handfester Vorschlag, der in dem Artikel von Jochen Remmert zitiert wird:

»Rainer von Borstel, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Baugewerblichen Unternehmer Hessen, glaubt zwar nicht, dass sich ein solcher Missbrauch ganz verhindern lässt. Es gebe aber für Generalunternehmer durchaus Möglichkeiten, die Seriosität von Subunternehmern zu prüfen. So lasse sich bei den Sozialkassen der Branche erfragen, wie viele Mitarbeiter ein Unternehmen überhaupt angemeldet habe.«

Und damit keine Missverständnisse aufkommen – das ist eben kein bedauerlicher Einzelfall. Bleiben wir in Frankfurt:

»Vor ziemlich genau einem Jahr zahlte die Bögl-Gruppe nach rund einer Woche des Protests – ebenfalls vor einer Baustelle im Frankfurter Europaviertel – 175.000 Euro vorenthaltenen Lohn an 50 Rumänen, nachdem ein dubioser Subunternehmer zwar von Bögl Geld kassiert, den Lohn aber anschließend nicht an die Arbeiter ausgezahlt hatte. In diesem Jahr hat es allein in der Rhein-Main-Region schon vier größere Fälle von Lohnprellerei gegeben, sagte gestern Hans-Joachim Rosenbaum, Regionalleiter der IG Bau Hessen.«

Und man kann und muss davon ausgehen, dass das alles nur die Spitze eines Eisbergs ist, denn viele der rumänischen Wanderarbeiter, vor allem, wenn nur wenige und keine größeren Gruppen betroffen sind, trauen sich nicht, sich zu wehren oder wissen schlichtweg nicht, ob und was sie machen können. Die Dunkelziffer wird sehr hoch sein.

Zugleich sind wir hier mit einem veritablen – und man muss es so nennen – Staatsversagen konfrontiert, denn gerade hier hätte der Staat eine elementare Schutzfunktion gegen Ausbeutung und so lobenswert Projekte wie die „Faire Mobilität“ des DGB auch sein mögen – hier muss man flächendeckende staatlich organisierte und finanzierte Hilfsangebote in einer verlässlichen Form erwarten dürfen. Hier – aber auch in anderen Bereichen, man denke an die Mindestlohnthematik – zeigt sich wieder einmal die offensichtliche Schwäche in Deutschland, dass es keine ganzheitlich ausgerichtete Arbeitsinspektion gibt, sondern entweder gar nichts da ist oder aber das Motto „Viele Köche verderben den Brei“ seinen Niederschlag findet.

Gute Bettler, schlechte Bettler? Was ein „sektorales Bettelverbot“ in Salzburg und eine Obdachlosenzeitschrift in Berlin miteinander zu tun haben

Wenn in den Medien über „Armut“ berichtet wird, dann findet man ganz oft eine Illustration mit Fotos, die Obdachlose oder bettelnde Menschen zeigen, auch wenn es sich eigentlich um eine Diskussion über „Armut“ handelt, die sich am gesellschaftlichen Durchschnitt festmacht und von der – folgt man der gängigen Abgrenzung von Einkommensarmut – Millionen Menschen betroffen sind, von denen sich die wenigsten als Bettler betätigen oder auf der Straße leben (müssen). Aber die Bilder wirken, sie sind bewusst oder unbewusst in unseren Köpfen verankert – zugleich markieren Obdachlose und Bettler die unterste Stufe der „Armutshierarchie“ und sie sind verstörend für uns aus der Mehrheitsgesellschaft, denn sie stören unsere geschäftigen oder aber auf Erholung gerichteten Kreise, sie drängen sich körperlich und unausweichlich in unser Blickfeld, in unsere Nähe. Und das ertragen viele nicht.

Und selbst in der Konfrontation mit dem „ganz unten“ gibt es nicht nur Schattierungen, sondern letztendlich eine erkennbare Hierarchisierung, die zu einer Differenzierung in „gute Bettler, schlechte Bettler“ führt. „Gut“ im Sinne von in Ordnung und wenn es denn sein muss halbwegs akzeptabel sind viele Formen der „stillen“ Bettelei, lässt diese uns doch die Option des Vorbeigehens und des Nicht-Beachtens, wir bleiben Entscheidungsträger, wenn wir (nicht) wollen, geben wir (nicht) was. Und die, die faktisch um ein Almosen bitten, aber irgendeine Gegenleistung anbieten, stehen auf einem der oberen Ränge in der Hierarchie der Armut ganz unten. Dazu gehören neben denjenigen, die sich in Musik versuchen, vor allem die Verkäufer von Obdachlosenzeitschriften, bei denen man das – für die Mehrheitsgesellschaft gute – Gefühl hat, dass die auch irgendwie arbeiten. Auf der anderen Seite gibt es die „schlechten“ Bettler, dass sind vor allem die, bei denen man mit aggressiver Bettelei rechnen muss, die einen aktiv angehen, die einen zuweilen im wahrsten Sinne des Wortes bedrängen, die fordern und einen direkt anschauen und ansprechen. Da wird man unter einen unangenehmen Druck gesetzt. Ganz besonders schlimm wird dann der Einsatz von Kindern und von Behinderten empfunden, gleichsam als eine Art Überdosis an mitleidshaschenden Effekten. Und gerade bei diesen Bettlertypen hat man doch immer wieder gehört von der Existenz regelrechter „Bettler-Banden“, deren Hintermänner sich die Taschen vollstopfen und in Saus und Braus leben können von der Bettel-Industrie, die sie da aufgezogen haben.

Es ist naheliegend und nicht wirklich überraschend, dass schon frühzeitig immer wieder versucht wurde, die Bettelei von Seiten der Obrigkeit zu regulieren. Man kann sogar die hier nicht weiter begründbare These aufstellen, dass die Erfahrungen damit wichtige, wenn nicht zentrale Vorarbeiten für die sich später durchsetzende Unterteilung in „gute Arme, schlechte Arme“ gleistet hat. Bereits das Mittelalter war von einer Dualität der obrigkeitsstaatlichen Bekämpfungsversuche „unberechtigter Bettelei“ auf der einen Seite und auf der anderen Seite der durchaus formalen Gewährung von Bettelrechten für bestimmte Personengruppen, beispielsweise durch die Ausstellung behördlicher Bettelbriefe, gekennzeichnet. Als älteste Bettlerordnung im deutschsprachigen Raum in diesem differenzierenden Sinne gilt die von Nürnberg aus dem Jahr 1478. Und immer wieder stößt man auf die Folgewirkungen der protestantischen Arbeitsethik: Die Stadt Zürich erließ z.B. im Jahr 1520 auf Empfehlung von Ulrich Zwingli »eine eigene Verordnung, die sich mit der Versorgung bedürftiger Personen befasste. Ausdrückliches Ziel dieser Regelung war es, die öffentliche Bettelei zu unterbinden und stadtfremde Bettler von der Stadt fernzuhalten. Es wurden zwei Pfleger gewählt, denen die Bedürftigkeitsprüfung und die Verteilung der durch den Rat bzw. durch Stifter zur Verfügung gestellten Mittel oblag. Um die Armen „ab der gasse“ zu bringen, erfolgte eine regelmäßige Armenspeisung. Der Zugang hierzu war davon abhängig, dass der jeweils Bedürftige vorher nicht öffentlich gebettelt hatte«, so die Hinweise in einem Artikel über Bettler.

Mit diesem folglich sehr alten Unterscheidungsansatz werden wir auch heute immer wieder konfrontiert. Im August 2014 verhängte die Stadt München eine Allgemeinverfügung gegen aggressives so wie organisiertes bandenmäßiges Betteln in der Innenstadt. Grund für diese Maßnahme war ein Zuwachs von Bettlern, die die Passanten direkt ansprachen oder verbal und körperlich bedrängten: Dazu den Radio-Beitrag  München – Keine Almosen für Banden, der am 17.12.2014 vom Deutschlandfunk ausgestrahlt worden ist.

Oder wir werfen einen ganz aktuellen Blick in das Nachbarland Österreich, konkret in die Stadt Salzburg. Thomas Neuhold hat seinen Artikel über die Vorgänge dort unter die Überschrift Salzburg: Bettler werden aus Altstadt vertrieben gestellt. Der Gemeinderat hat dort »ein zeitlich und räumlich beschränktes Bettelverbot für weite Teile der Altstadt verhängt. Dieses sektorale Bettelverbot soll Anfang Juni in Kraft treten.« Dieser Beschluss ist auch maßgeblich Folge einer monatelangen Kampagne der Kronen Zeitung gegen das „Bettelunwesen“. Besondere Aufmerksamkeit bekommt der Vorgang auch deshalb, weil die Ausrufung eines Bettelverbots in Salzburg mit den Stimmen der Sozialdemokraten erfolgte, obgleich die SPÖ noch vor gar nicht so langer Zeit gegen ein solches Verbot gewettert hatte. Da ist Widerspruch und Protest zu erwarten:

»Für viel Empörung sorgt die neue Linie der SPÖ auch bei sozialdemokratischer Prominenz: Wolfgang Radlegger, ehemals Landesparteichef und Landeshauptmannstellvertreter und heute Chef der Wüstenrot-Holding, verteilte an die 40 Gemeinderatsmitglieder eine persönlich gehaltene Denkschrift: „Barmherzigkeit kennt keinen Sperrbezirk“, sagt Radlegger. Er wirft den Betreibern des Verbotes vor, dieses vor allem mit Rücksicht auf die Geschäftemacherei „mit Kitsch und Kommerz“ durchzusetzen.«

Womit wir bei einem Kernmotiv für die Verdrängungsversuche des überaus vielgestaltigen Bettlerwesens sind: Es geht um die Absicherung geschäftlicher Interessen zumeist in den Innenstadtlagen, die sich hier entfalten, denn natürlich stören die Bettler das Einkaufsvergnügen in der City – und insofern ist man in Salzburg konsequent, denn das Bettelverbot dort ist ein sektorales, also auf bestimmte Gegenden bzw. Straßen bezogen.

Aber gegen solche Entwicklungen gibt es immer auch Widerstände, die in Österreich beispielsweise von der Bettellobby, einer Initiative gegen Bettelverbote und selbst ernannte Interessenvertretung der Bettler in Österreich, vorgetragen werden:

„Wir werden das sicher beeinspruchen“, sagt Ferdinand Koller von der Bettellobby Wien. Betteln sei ein Menschenrecht (was im Übrigen auch der Verfassungsgerichtshof entschieden hat). „Ich glaube nicht, dass die Menschen in Salzburg so gestört wurden, dass ein Menschenrecht beschränkt werden darf“, sagt er.

Schon seit längerem wird (nicht nur) in Österreich über eine so genannte „Bettelmafia“ diskutiert. Eva Winroither  hat in ihrem Artikel „Viele Bettler sehen sich nicht als Opfer“ dazu ausgeführt:

»Gerald Tatzgern, Leiter der Zentralstelle im Bundeskriminalamt zur Bekämpfung von Menschenhandel will das Wort Bettelmafia nicht verwenden. Er unterteilt Bettler in drei Kategorien: Es gibt jene, die aus Armut betteln und aus eigenem Willen damit wieder aufhören können (nicht strafbar), diejenigen, die sich zu einem gewissen Grad organisieren, etwa durch gemeinsame Anfahrt oder Unterkunft (maximal Verwaltungsstrafe), und jene, bei denen Menschen unter massiver Drohung zum Betteln gezwungen werden. Das sei die kleinste Kategorie, sagt Tatzgern. Dreimal wurden in diesem Zusammenhang Menschen in Österreich verurteilt … In den anderen beiden Kategorien würden sich die Fälle die Waage halten. Ein Beispiel für die organisierte Bettelszene seien Massenquartiere. Oft alte Häuser, wo Bettler (aber auch Prostituierte oder Obdachlose) auf engstem Raum zusammenwohnen. „100 bis 150 Euro“, würde eine Matratze pro Monat kosten, sagt Tatzgern. Erbetteltes Geld, das anderen zufließt. Rund 1000 der geschätzten 1500 Bettler in Wien würden so ein Haus in Anspruch nehmen.«

Auch in Deutschland gibt es diese Diskussion über Motive und Ausformungen der Bettelei, dazu beispielsweise die Gesprächssendung Warum betteln Menschen im Sozialstaat? Mitleid als Geschäftsmodell des SWR vom 24.04.2014 mit Stefan Gillich von der Evangelischen Obdachlosenhilfe Frankfurt, Hans-Jörg Longin vom Ordnungsamt der Stadt Stuttgart und Dr. Iulia-Karin Patrut, Kulturwissenschaftlerin, von der Universität Trier.

Aus Deutschland wird ein anderes Beispiel für die Ausdifferenzierung der Bettelei berichtet. Obdachlosenzeitung geht gegen aggressive Bettler vor, so Stefan Strauß: »Weil sich immer häufiger Verkäufer der Obdachlosenzeitung „Straßenfeger“ über Betteleien von Migranten beschweren, hat der Verein des Sozialprojektes jetzt neue Regeln für alle Verkäufer aufgestellt. Denn Betteln schade dem Ansehen der Verkäufer, so ihr Argument.«

Beispiel Obdachlosenzeitung Straßenfeger:  Ein Exemplar kostet 1,50 Euro. 90 Cent bekommen die Verkäufer, 60 Cent gehen an den Verein mob. e.V., der die Zeitung herausgibt. So funktioniert das Prinzip. Man habe die Regeln für den Verkauf verschärft, „um Schaden von allen ehrlichen Verkäufer/innen abzuhalten“, so wird der Chefredakteur der Zeitung Straßenfeger, Andreas Düllick, zitiert. Was ist der Hintergrund?

»In den vergangenen Monaten haben sich immer häufiger langjährige, meist deutsche Verkäufer über Migranten aus Osteuropa beschwert. Diese würden kaum oder gar kein Deutsch sprechen und auch keinen Verkaufsausweis haben. Häufig würden sie ein altes Exemplar der Zeitung in einer Hülle eingeschweißt bei sich tragen, die Zeitung aber nicht verkaufen, sondern um Spenden betteln. „Das ist ein klarer Verstoß gegen die Verkaufsregeln“, sagt Düllick.«

Erkennbar wird eine ganz eigene Hierarchie innerhalb derjenigen, die ganz unten sind – und zugleich Irritationen für ein ganz eigenes Geschäftsmodell:

»Meist seien es Migranten, die plötzlich an einem Verkaufsplatz mit nur einem Exemplar vom Straßenfeger auftauchen und betteln würden. Das schade dem Ansehen der Verkäufer, für die es klare Verhaltensregeln gebe. So berichtet ein langjähriger Verkäufer namens CaDe in der Straßenfeger-Ausgabe vom Januar 2015, ein guter Verkäufer müsse mindestens fünf Tage die Woche mit der Zeitung in der Hand an einem Platz stehen. „Er muss freundlich sein, höflich, und er sollte wissen, was in der Zeitung steht. Er sollte tunlichst auf Alkohol oder Drogen verzichten, und er sollte auch nicht betteln“, schreibt CaDe.«

Es gibt noch eine andere Obdachlosenzeitung, das „motz“ bzw. „motz-life“. Hierfür ist der Verein motz & Co verantwortlich. Die haben eine etwas andere Auffassung, wie Stefan Strauß in seinem Artikel berichtet:

Beim Obdachlosenmagazin Motz wollen die Herausgeber gelassener mit diesen Problemen umgehen. „Beschwerden über Verkäufer, die über die Stränge schlagen oder alkoholisiert verkaufen, wollen wir nicht hochkochen“, sagt Stefan Peter vom Vorstand. Motz-Verkäufer bräuchten keinen Ausweis mit ihrem Namen. „ Viele wollen anonym bleiben. Sie werden ständig verscheucht, erniedrigt und eingeschüchtert“, sagt Peter. „Es sind die Ärmsten der Armen. Da muss man tolerant sein.“

Auch hier geht es letztendlich um die Unterscheidung zwischen „guter“ und „schlechter“ Bettelei. Ein letztendlich unauflösbares Dilemma.

Foto: © Stefan Sell 

Diesseits und jenseits des „Muttertages“. Von glücklichen Müttern und armen Kindern

Seien wir ehrlich – viele Menschen werden versucht sein, den heutigen „Muttertag“ als ein Hochamt zugunsten der notleidenden Blumenhändler zu charakterisieren bzw. abzuwerten. Und es fehlt natürlich auch nicht an kritischen Einwürfen, die in ihrer Extremvariante auf eine Instrumentalisierung dieses „Feiertages“ im Nationalsozialismus meinen hinweisen zu müssen bzw. zumindest darauf aufmerksam machen, dass es scheinheilig sei, an einem Tag des Jahres die Mütter mit ihrem Tun vor allem im Bereich der unbezahlten Arbeit in den Familien zu würdigen und an den Verhältnissen ansonsten nichts zu ändern. Aber so einfach ist es eben nicht, wenn man einen kurzen Moment innehält und zurückblickt in die Entstehungsgeschichte dessen, was heute mehr oder weniger gelungen in vielen Familien inszeniert wird – zugleich wieder einmal ein Lehrbuchbeispiel, was im Laufe der Zeit aus einer ursprünglichen Absicht so werden kann.

Der Muttertag hat seinen Ursprung nicht in den Untiefen der nationalsozialistischen Mutterideologie und auch nicht in den Blumenläden auf der Suche nach neuen Absatzkanälen – sondern in der amerikanischen Frauenbewegung. Ann Maria Reeves Jarvis (1832-1905) versuchte im Jahr 1865, eine Mütterbewegung namens Mothers Friendships Day zu gründen und sie organisierte Mothers Day Meetings, wo sich die Frauen austauschen konnten. Als Begründerin des heutigen Muttertags gilt jedoch Anna Marie Jarvis (1864-1948), die Tochter von Ann Maria Reeves Jarvis. In ihrem 2008 veröffentlichten Beitrag Die Muttertagsmaschinerie schreibt Sandra Kegel zu dieser Frau (und ihrer Mutter):

»Begonnen hat alles mit dem Einsatz der unverheirateten und kinderlosen Lehrerin, die im Hause ihrer Eltern lebt, für die Rechte der Frauen, die ihrer Ansicht nach unterdrückt werden, etwa, weil sie nicht wählen dürfen. Unterstützt wird Anna Jarvis von ihrer Mutter Ann, die ebenfalls politisch aktiv ist und im Jahr 1858 die Vereinigung „Mother’s Work Days“ gründet, um gegen hohe Kindersterblichkeit und für bessere sanitäre Anlagen zu kämpfen. Während des amerikanischen Bürgerkriegs mobilisiert sie Geschlechtsgenossinnen und kümmert sich mit ihnen um die Verwundeten auf beiden Seiten sowie um die Annäherung der verfeindeten Lager.«

Frauen- und Friedensbewegung. Das sind also die Quellen dessen, was wir heute als „Muttertag“ besprechen. Und wichtig in diesem Entstehungskontext: »Was ihr vorschwebt, ist nicht die Würdigung eines Mutterbilds von edler Einfalt, stiller Größe und nimmermüder Opferbereitschaft. Der Tochter eines Methodistenpfarrers ist es um die soziale und politische Rolle von Frauen in der Gesellschaft zu tun«, so Kegel in ihrem Artikel. Aus diesem Impuls entwickelte sich eine Bewegung, die dazu geführt hat, dass 1914 der „Muttertag“ erstmals als offizieller Feiertag in den USA begangen werden konnte. Und jetzt passierte, was man in vielen anderen Beispielfällen auch immer wieder erleben muss – das kapitalistische System zeichnet sich aus durch eine unglaubliche Kapazität der „Landnahme“ solcher Dinge, die ursprünglich eine ganz andere Intention verfolgen wollten als denn die Steigerung der Absatzzahlen irgendwelcher „Merchandising“-Produkte in diesem Fall rund um einen Feiertag. Aber die Kommerzialisierung des „Muttertages“ war unaufhaltsam – und sie bzw. die kommerziellen Potenziale waren der Auslöser für die Übernahme in Deutschland.

Der eine oder die andere meint, das sei jetzt wieder eine dieser kritischen Übertreibungen? Also gut, schauen wir genauer hin, wie das in Deutschland gelaufen ist:

Sandra Kegel klärt uns auf: »In Deutschland ist es ein gewisser Rudolf Knauer, der 1922, als er aus Amerika von der Idee erfährt, begeistert mit Vortragsreisen durchs Land zieht und für eine solche Feier zu Ehren „der stillen Heldinnen unseres Volkes“ wirbt. Knauer aber handelt nicht als treusorgender Ehemann und Sohn, sondern als Beauftragter des Verbands Deutscher Blumengeschäftsinhaber, dessen Vorsitzender er 1923 wird – in jenem Jahr also, in dem die Inflation in Deutschland ihren Höhepunkt erreicht.« Da sind sie also schon, die Blumenhändler. Und die haben damals ein veritables Fallbeispiel für höchst modern daherkommende PR-Arbeit geliefert:

»Knauer wendet für seine Blumenoffensive geschickt eine PR-Strategie an, die man heute social marketing nennen würde: In der Verbandszeitung fordert er die Blumenhändler auf, „irgendeine gemeinnützige Gesellschaft“ als „neutrale Stelle“ zu finden, um den Muttertag aus Amerika zu importieren: „Ein zu starkes Hervortreten der Blumengeschäftsinhaber in Deutschland wäre einer baldigen Einführung nicht zum Vorteil“, warnt der Blumenlobbyist. Die „neutrale Stelle“ ist im Jahr 1925 gefunden: Die „Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung“ – ein Dachverband konservativ bis völkisch orientierter Vereine, in dem sich Alkoholgegner ebenso organisieren wie der Reichsbund der Kinderreichen, die kirchlichen Frauenverbände und Sittlichkeitsvereine „zur Bekämpfung von Schmutz und Schund“ – nimmt das Ansinnen Rudolf Knauers nur zu gern auf. Denn dieses Umfeld sieht die Mutterschaft als wahre Berufung der Frau und geißelt weibliche Berufstätigkeit, genauso wie die immer populärer werdende Emanzipationsbewegung.«

Man ahnt schon, was jetzt kommen muss: Bereits 1933 wurde der Muttertag von den Nationalsozialisten zum öffentlichen Feiertag erklärt und erstmals am 3. Maisonntag 1934 als „Gedenk- und Ehrentag der deutschen Mütter“ verankert. Anfang der fünfziger Jahre wird der Muttertag wiederbelebt, allerdings nur in der Bundesrepublik; die DDR, wo er als westlich-reaktionär verschrien ist, ersetzt ihn durch den „Internationalen Frauentag“ am 8. März. Und schon ist alles wohlbeordnet in den ideologischen Welten einsortiert.

Eine immer wieder vorgetragene Kritik am Muttertag bezieht sich auf die dadurch – ob bewusst oder unbewusst – transportierte Stabilisierung der unentgeltlichen Haushalts-, Erziehungs- und Pflegearbeit  im Sinne einer asymmetrischen Verteilung zwischen den Geschlechtern. Das wurde bereits im vergangenen Jahr in dem Blog-Beitrag Vom (eigentlich frauenbewegten) „Muttertag“ diesseits und jenseits des Blumenhandels bis hin zu einem (vergifteten) Lobgesang auf die unbezahlte Hausarbeit aufgegriffen und beleuchtet.

In diesem Jahr soll es um zwei etwas anders gelagerte Aspekte gehen, die anschlussfähig sind an den „Mutter“-Begriff: Zum einen die Frage, ob denn „die“ Mütter in Deutschland glücklich sind und zum anderen die Tatsache, dass bei allen Unterschieden Mütter eines gemeinsam haben: Sie haben Kinder. Und ein Teil ihrer Kinder wird sozialpolitisch hoch relevant in diesen Tagen erneut thematisiert unter dem Dach der „Kinderarmut“ und der ungleichen Chancen zwischen den Kindern in unserer Gesellschaft.

Aber fangen wir mit dem „Glück“ an. Wobei das zugegebenermaßen noch schwieriger daherkommt als die Bestimmung von „Armut“, über die bekanntlich gerade derzeit wieder einmal heftig gestritten wird.
Norwegen ist das beste Land für Mütter – Deutschland auf Platz acht. So eine der Überschriften von Artikeln, in denen über eine neue Studie berichtet wird. Das Ranking ist das Ergebnis der diesjährigen internationalen Vergleichsstudie, die die Kinderschutzorganisation Save the Children in New York veröffentlicht hat. Für ihren 16. jährlichen Mütter-Index untersuchte die Hilfsorganisation 179 Länder. Deutschland gehört demnach zu den Top Ten und belegt Platz acht. Also dürfen wir uns freuen. Bevor man jetzt aber eine Falsche aufmacht, werfen wir noch einen Blick auf die Kriterien, mit denen die Organisation versucht zu messen, was „glückliche Mütter“ ausmacht. Dafür verwendet Save the Children fünf Kriterien:

Müttersterblichkeit, die Sterblichkeit bei unter fünfjährigen Kindern, die durchschnittliche Dauer der Ausbildung, Pro-Kopf-Einkommen und die Beteiligung von Frauen an der Regierung.

Nicht nur der eine oder andere Leser wird an dieser Stelle skeptisch den Blick auf den Aussagegehalt solcher Kriterien für den Glückszustand der Mütter richten. Ohne das hier wirklich vertiefen zu können: Bereits eine Annäherung an den Glücksbegriff auf Wikipedia-Nievau muss zahlreiche Fragezeichen generieren:

»Das Wort „Glück“ kommt von mittelniederdeutsch gelucke/lucke (ab 12. Jahrhundert) bzw. mittelhochdeutsch gelücke/lücke. Es bedeutete „Art, wie etwas endet/gut ausgeht“. Glück war demnach der günstige Ausgang eines Ereignisses. Voraussetzung für den „Beglückten“ waren weder ein bestimmtes Talent noch auch nur eigenes Zutun. Dagegen behauptet der Volksmund eine mindestens anteilige Verantwortung des Einzelnen für die Erlangung von Lebensglück in dem Ausspruch: „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Die Fähigkeit zum Glücklichsein hängt in diesem Sinne außer von äußeren Umständen auch von individuellen Einstellungen und von der Selbstbejahung in einer gegebenen Situation ab.«

Wer es hier wissenschaftlich fundierter braucht, dem seien nur beispielhaft die Beiträge zur Glücksforschung des Ökonomen Karl-Heinz Ruckriegel empfohlen, der sich seit Jahren und intensiv damit beschäftigt.

Wie schwierig das mit „dem“ Glück „der“ Mütter ist, kann man an einer aktuellen und überaus kontroversen Debatte aufzeigen, die sich an einer neuen Studie entzündet hat. »Anfang April veröffentlichte die israelische Wissenschaftlerin Orna Donath eine Studie, in der 23 Mütter öffentlich ihren Kinderwunsch bereuten. Vor allem in Deutschland entwickelte sich eine hitzige Debatte. Zahlreiche Medien berichteten darüber, unter dem Hashtag „RegrettingMotherhood“ diskutierten Männer und Frauen in sozialen Netzwerken«, so der Einstieg in das informative Tageschau-Dossier Alles gut zum Muttertag? Mutterschaft im Wandel von Anna-Mareike Krause und Michael Stürzenhofecker.

»Eine junge israelische Wissenschaftlerin veröffentlicht eine Studie in einer amerikanischen Fachzeitschrift für Geschlechterwissenschaft – und das deutsche Internet explodiert. Wie kann das sein? Nun, es ging um Mütter«, so die lapidare und auf die besondere Überhöhung des Mütter-Begriffs gerade in Deutschland abstellende Zusammenfassung in dem Artikel Mütter, die wie Männer denken von Anna Sauerbrey. Sie verweist auf einen interessanten Punkt: »An Frauen, die wie Männer denken, fühlen und handeln, hat sich die Gesellschaft gewöhnt. An Mütter, die wie Männer denken, fühlen und handeln, nicht.« Das Thema hat seine medialen Kreise gezogen – neben vielen Zeitungsartikeln wurde es auch in Radiobeiträgen aufgegriffen. Vgl. hierfür nur stellvertretend die Sendung Ich bereue – Vom Glück und Elend der Mütter des Hessischen Rundfunks.
Warum wird das hier aufgerufen? Um an diesem einen Beispiel zu zeigen, dass man äußerst behutsam mit Begriffen wir „Glück“ umgehen sollte. Es eignet sich nicht wirklich für eine gesellschaftspolitische Thematisierung von so komplexen und zugleich normativ enorm aufgeladenen Tatbeständen wie dem Geschlechterverhältnis oder dem Selbstverständnis von dem, was als „Mutterrolle“ verstanden wird, wobei sich das bereits zwischen zwei benachbarten Gesellschaften wie Deutschland und Frankreich erheblich unterscheiden kann (vgl. dazu und mit Blick auf weitere Länder den Artikel mit der leider sehr euphemistischen Überschrift Glückliche Mütter – was andere Länder besser machen).

Also rufen wir den zweiten Aspekt auf und der kommt leider weitaus handfester und bedrängender daher als die Frage nach dem „Glück“ der Mütter. Es geht um die Kinder bzw. um einen Teil von ihnen. Also denjenigen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens gelandet sind, sondern auf der anderen Seite. Die in Armut leben (müssen).

Armutsgefährdete Kinder sind materiell unterversorgt und sozial benachteiligt – unter dieser erst einmal leider nicht wirklich überraschend daherkommenden Diagnose hat die Bertelsmann-Stiftung auf zwei neue Studien hingewiesen, die von ihr in Auftrag gegeben wurden: »Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als armutsgefährdet. Verzicht und ein Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe sind die Folgen. Doch die staatliche Unterstützung für Familien in prekären Lebenslagen orientiert sich zu wenig an den Bedarfen der Kinder. Zu diesen Ergebnissen kommen zwei Studien der Bertelsmann Stiftung.«

»In der Bundesrepublik wachsen 2,1 Millionen unter 15-Jährige in Familien auf, deren Einkommen unter der Armutsgefährdungsgrenze liegt. Eine repräsentative Befragung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) verdeutlicht, was Armut für den Alltag der Kinder bedeutet: Er ist geprägt von Verzicht und einem Mangel an Teilhabe. Für eine zweite Untersuchung haben Armutsforscherinnen der Universität Frankfurt vertiefende Interviews mit Eltern und Fachkräften geführt. Demnach kann das staatliche Unterstützungssystem Armut nur unzureichend auffangen.«

Die beiden Studien – die man nicht frei zugänglich abrufen kann, sondern als Buchpublikationen bestellen müsste – werden von der Stiftung so zusammengefasst:

»Das IAB hat den Lebensstandard von Kindern aus SGB-II-Haushalten untersucht und mit der Situation von Kindern in gesicherten Einkommensverhältnissen verglichen. Während im Bereich der elementaren Grundversorgung nur geringe Benachteiligungen vorliegen, zeigen sich in anderen Bereichen deutlichere Unterschiede: 20 Prozent der Kinder im Grundsicherungsbezug leben aus finanziellen Gründen in beengten Wohnverhältnissen – gegenüber 3,9 Prozent der Kinder, die in gesicherten Einkommensverhältnissen aufwachsen (Übrige). Drei von vier Kinder, deren Eltern SGB-II-Leistungen erhalten, können keinen Urlaub von mindestens einer Woche machen (Übrige: 21 Prozent), 14 Prozent leben in Haushalten ohne Internet (Übrige: 1 Prozent), 38 Prozent in Haushalten ohne Auto (Übrige: 1,6 Prozent) und knapp einem Drittel ist es aus finanziellen Gründen nicht möglich, wenigstens einmal im Monat Freunde zum Essen nach Hause einzuladen (Übrige: 3,3 Prozent). Bei jedem zehnten Kind mit SGB-II-Bezug besitzen nicht alle Haushaltsmitglieder ausreichende Winterkleidung (Übrige: 0,7 Prozent).

Das Aufwachsen von Kindern in armutsgefährdeten Familien ist vielfach geprägt von einem Bündel an Problemen. Das zeigen Familieninterviews der Armutsforscherinnen Sabine Andresen und Danijela Galic (Universität Frankfurt). Zur chronischen Geldnot kommen oftmals Krankheiten, Trennung der Eltern, beengte Wohnverhältnisse und unsichere Schulwege hinzu. Erziehung bedeutet für die Eltern häufig Erklärung von Nein-Sagen und Verzicht. Eine große Belastung, denn auch bei einkommensschwachen Eltern sind die Kinder der Lebensmittelpunkt: Sie wünschen sich für ihre Kinder vor allem gute Bildung und sind bereit, dafür eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Das Gefühl fehlender Selbstbestimmung führt bei einkommensschwachen Eltern oftmals zu Resignation und Erschöpfung. Auslöser ist auch Unzufriedenheit mit staatlicher Unterstützung. Eltern, die von der Grundsicherung leben, klagen über zu viele behördliche Anlaufstellen, wechselnde Ansprechpartner und bürokratische Hürden. Sie vermissen, als Familie mit spezifischen Problemlagen wahrgenommen zu werden. Die befragten Fachkräfte aus Verwaltung und Bildungseinrichtungen problematisieren ähnliche Themen und pflichten den Familien bei. Zeitmangel, bürokratische Hürden und verschiedene Zuständigkeitsbereiche erschweren passgenaue Unterstützung.«

Und was folgt daraus – zumindest für die Auftraggeberin, also die Bertelsmann-Stiftung?

»Bislang, so die Andresen/Galic-Studie, konzentriere sich die Familien- und Sozialpolitik zu stark auf die Integration von Eltern in den Arbeitsmarkt. Empfehlenswert sei die Einrichtung zentraler Anlaufstellen mit festen Ansprechpartnern, die die jeweilige Familiensituation kennen. Zugleich sollten strukturelle Veränderungen Fachkräften mehr Entscheidungsspielräume und eine passgenaue Unterstützung ermöglichen. Zudem setzt sich die Bertelsmann Stiftung dafür ein, das Existenzminimum für Kinder zu überprüfen und die staatliche Grundsicherung anzupassen.«

Übrigens – von „Glück“ wird im vorliegenden Fall nicht einmal gesprochen.