PISA prophylaktisch unter Feuer – das ist wirklich neu. Dabei gilt doch eigentlich: StEG, BiTe, BILWISS, LISA, Se- Mig, NEPS, ICILS: „Der Bedarf an Kennzahlen ist groß“

Am morgigen Dienstag werden die Ergebnisse der neuesten, fünften PISA-Studie veröffentlicht. Normalerweise läuft so ein zahlenhuberisches Großereignis nach dem Strickmuster ab, dass alle Medienvertreter gebannt auf die neuen Daten warten und dann ein beeindrucktes, vielstimmiges Raunen der Auf- und Erregung durch die elektronische bzw. Audio-TV-Welt und mit etwas Verspätung dann auch durch den Blätterwald rauscht, um kurze Zeit später wieder dem nächsten Ereignis den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie folgend Platz zu machen.

Doch diesmal ist etwas passiert, das nachdenklich stimmt – die neuen PISA-Daten sind noch gar nicht ex cathedra verkündet worden, da schwappt eine imposante Flut an Kritik, gar Ablehnung dessen, was sich hinter dem Kürzel PISA verbirgt, durch die Medien. Bereits in der vergangenen Woche konnte man in der Wochenzeitung DIE ZEIT in dem Artikel „Genauer hinschauen“ von Martin Spiewak lesen: »… die Leistungsvergleiche sagen wenig über gutes Lernen und Lehren aus. Ein Tadel.« In der heute veröffentlichten neuen Ausgabe des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL wird unter der Überschrift „Lernen nach Zahlen“ kritisch über den rasanten Aufstieg des Geschäftsmodells „empirische Bildungsforschung“ berichtet, die Süddeutsche Zeitung spricht von „Moderner Aberglaube“ und in der WirtschaftsWoche gibt es ein langes Interview mit dem Bildungsforscher Volker Ladenthin, das gar überschrieben ist mit dem Warnhinweis „PISA gefährdet unser Bildungssystem„. Das ist nun wirklich neu. Also stellt sich die Frage, ob man sich hier zu einer konzertierten Aktion verabredet hat, um einen deutschen Ausstieg aus der PISA-Testerei vorzubereiten – oder ob wir hier ein Überlaufen des Frustes über einen Imperialismus der zahlengetriebenen Sicht auf Schule erleben (dürfen).

Spiewak weist darauf hin, dass es unter der Oberfläche der inflationären Schulleistungstestverfahren mit ihren Schrankmeter füllenden, aber immergleichen Befunden eine brodelnde Unzufriedenheit breit gemacht hat: »Belegt ist mittlerweile, dass Jugendliche im Süden Deutschlands besser lesen als jene im Norden und dass im Osten der Republik besser gerechnet wird als im Westen. Man weiß auch, dass Schüler aus Zuwandererfamilien hohe Ambitionen haben, im Schnitt aber dennoch schlechter abschneiden als ihre Mitschüler. Und dass Neuntklässler in Bayern ihren Alterskameraden in Berlin um anderthalb Schuljahre voraus sind.« So weit, so bekannt. »Nur eines weiß man leider nicht: Warum ist das eigentlich so?« Man würde gerne wissen: Wer ist denn verantwortlich und mit welchem Anteil – die Lehrer, die Eltern, die sozialen Unterschiede, die Schulpolitik der Bundesländer? Manfred Prenzel, der derzeitige Pisa-Leiter, wird von Spiewak zitiert mit den Worten: „Über die Ursachen der regionalen Leistungsdifferenzen liegen keine empirisch gesicherten Erkenntnisse vor.“ Man könnte es auch so formulieren: „Empirische Wende“ erfolgreich geschafft, Deutungsdefizit stabilisiert. Der Umfang der Datensätze korreliert nicht mit dem Wissen über das Ursächliche. Für Spiewak sind die großen Vergleichsstudien wie „Satellitenbilder“, Schnappschüsse von oben – ein schönes, zutreffendes Bild. Und auch einen guten Rat hat er, leider wird dessen Umsetzung keine tollen Pressekonferenzen füllen: »Die empirische Bildungsforschung muss in Zukunft viel genauer hinschauen. Sie sollte untersuchen, wie Lehrer unterrichten und Kinder lernen; wie Eltern bei den Hausaufgaben helfen oder Rektoren ihre Schule verändern.«

Warum sind alle so auf die bekannteste aller Bildungsstudien fixiert? Schließlich ist nicht einmal gesichert, dass sie misst, was sie zu messen vorgibt, so die These von Thomas Steinfeld in seinem Artikel „Moderner Aberglaube„. Seine Zweifel beziehen sich auf die Tests, die den Studien zugrundeliegen: »Erfasst werden kann nur, was zuvor ausgewählt, standardisiert und zum Zweck der Prüfung aufbereitet wurde.« Und für jeden, der statistisch vergleichend arbeitet, ist das folgende Argument durchschlagend für Skepsis und Zweifel an den Ranking-Ergebnissen neben den inhaltlichen Fragezeichen: »Bekannt ist auch, dass die Voraussetzungen für die Teilnahme an den Tests in verschiedenen Ländern oft nicht vergleichbar sind – etwa dadurch, dass in vielen Staaten Fünfzehnjährige mit schlechter Ausbildung die Schule schon verlassen haben, während sie in Deutschland noch unterrichtet werden, weshalb der Durchschnitt dann zwangsläufig sinkt.«
Und es gibt eine ernstzunehmende Kritik daran, über die PISA-Philosophie das Verstehen konsequent durch Kompetenz zu ersetzen, Wissen durch abrufbare Fertigkeiten oder „skills“. Der vielleicht schwerwiegendste Vorwurf lautet: PISA & Co. haben sich längst von einem deskriptiven zu einem normativen Projekt gewandelt.

Wenn aber ausweislich der breiten Kritik an vielen Aspekten des Test(un)wesens die Ergebnisse der Tests so fragwürdig sind – warum gibt es sie dann noch? Gute Frage. Steinfeld resümiert dazu: »… weil im Zuge der radikalen Ökonomisierung aller Gesellschaften der Wettbewerb als solcher längst als etwas schlechthin Erstrebenswertes gilt, ganz unabhängig davon, was jeweils dabei herauskommt – weil also der verselbständigte Formalismus der Konkurrenz gar keinen anderen Gedanken mehr zulässt, als dass mehr Konkurrenz besser ist als weniger Konkurrenz. Das aber ist ein moderner Aberglaube.« Touché, Herr Steinfeld.

Schweres Geschütz fährt der Bildungsforscher Volker Ladenthin in einem Interview auf: „PISA gefährdet unser Bildungssystem„. Er kritisiert, dass PISA zum einen viele explizite Ziele in unserem Bildungssystem gar nicht misst, beispielsweise demokratische Gesinnung. Zum anderen hat PISA eigenmächtig fremde, nicht vorab demokratisch verabredete Kriterien für das, was gute Bildung sein soll, eingeführt – also PISA als „normatives Projekt“, wie wir es in diesem Beitrag schon lesen konnten. Letztendlich verdichtet sich seine Argumentation in einer Art feindlichen Übernahme des Bildungssystems durch Dritte und deren Interessen. Ladenthin beklagt, dass die Normsetzung durch internationale Organisationen wie die OECD, die hinter PISA steht, unser Bildungssystem zunehmend darauf reduziert, Menschen nur noch für kurzfristige und begrenzte Zwecke auszubilden:

»Schüler sollen nach PISA eben nicht lernen, nach dem Sinn des Lernens zu fragen, sondern sie sollen Aufgaben lösen, gleichgültig welche. Der von PISA als kompetent Geprüfte soll später einmal ebenso Babynahrung produzieren können wie Landminen. Angesichts der Kriterien von PISA und einer auf PISA ausgerichteten Schule sind beide Aufgaben gleich gültig. Und sie bedürfen der gleichen Kompetenzen.«

Bei der ersten PISA-Runde wurden die deutschen Schulen unvorbereitet getroffen. »Nach dem ersten wohlinszenierten PISA-Schock haben sich Schulverwaltungen und Schulen dann jedoch angestrengt, schnell das als Lehrstoff verbindlich zu machen, was PISA testet.«

Insofern dürfen wir uns auch nicht wundern, dass die ehrgeizigen Deutschen morgen sicher weitere tolle Fortschritte auf dem Weg nach PISA attestiert bekommen werden. Alles andere würde die konsequente Ausrichtungsstrategie in den Bundesländern schwer diskreditieren.
PISA ist für die Ausbildung der Massen da. Für die Massen-Schulen, in denen künftige Arbeitskräfte fit gemacht werden sollen. Es geht um Anpassung und Einübung. »Von der Qualifikation der Arbeitgeber ist erst gar nicht die Rede.« Da muss man ihm zustimmen. Das ist vergleichbar mit der ewigen Klage über eine angebliche oder tatsächliche mangelnde Ausbildungsreife der jungen Menschen. Die gibt es aber auch auf der anderen Seite, bei den Unternehmen. Das taucht aber kaum oder gar nicht auf in der öffentlichen Debatte. Höchstens, wenn es wieder einmal einen „bedauerlichen“ Einzelfall unhaltbarer Zustände gegeben hat, was dann aber so schnell wieder aus den Medien verschwunden ist wie die Berichte über irgendwelche unhaltbaren Zustände in Pflegeheimen.

Ladenthin stellt die These auf, dass über PISA nicht wirklich mehr „Bildungsgerechtigkeit“ angestrebt werden soll, sondern Vergleichbarkeit, Gleichförmigkeit und Standardisierung. Die Ziele von Bildung heißen inzwischen „Bildungsstandards“. Das Schlagwort „Bildungsgerechtigkeit“ dient dabei ausschließlich der „Akzeptanzbeschaffung“, so zitiert Ladenthin die Aussage eines Staatssekretärs.

Und dann weist er auf eine fundamentale Kritik hin, die hier besonders hervorgehoben zitiert werden soll: »Die Folge für das Bildungssystem ist der Verlust an Kultur, also der Verlust von bedeutsamen Inhalten: Philosophie, Politik, Kunst, Literatur, Natur oder humaner Lebenssinn werden zur Privatangelegenheit«.

Übrigens sind das alles Dinge, die bei PISA gar nicht getestet werden (können). Und was nicht gemessen werden kann, das gibt es dann irgendwann auch nicht mehr richtig. Also im falschen Leben. Dem der Datengläubigkeit. Von daher ist es gut, dass wir schon am Vorabend von PISA die Chance bekommen, unsere Zeit anders einzuteilen als nach dem üblichen Muster der Erregungsökonomie. Beispielsweise – wenn man denn die Zeit hat – mal wieder ein Buch lesen.

Wie das Osteuropäer-Bashing in Großbritannien mit Ein-Euro-Jobs in Duisburg und dem Kindergeld in Offenbach zusammenhängt

Es ist eine altbekannte, eigentlich abgedroschene Floskel, das alles mit allem zusammenhängt. Zuweilen aber hilft es, die Teilkomponenten dieser Zusammenhänge, die oftmals deswegen nicht gesehen werden, weil sie prima facie solitär daherkommen, aufzudecken und an ihnen zu lernen.
Hier geht es um die brodelnde Suppe eines zunehmenden Rückfalls in nationalstaatliche Egoismen, der angereichert wird mit zahlreichen gefährlichen Ingredienzien wie kulturellen und ethnischen Vor-Urteilen in Verbindung mit sozialen Polarisierungen innerhalb der Gesellschaft. Reden wir also beispielsweise über Großbritannien und dessen Premierminister David Cameron. Der hat ganz offensichtlich ein Europa- oder sagen wir korrekter ein EU-Problem, denn die ist auf seiner Insel in etwa so angesehen wie die Franzosen an sich. Also gar nicht. Das Problem für ihn ist: Das Vereinigte Königreich ist Mitglied der EU und als solches gebunden an die Grundrechte, die man sich innerhalb dieses institutionalisierten Teils der europäischen Völkerfamilie gegeben hat. Dazu zählt auch die Freizügigkeit der EU-Bürger innerhalb der EU. Dem Durchschnitts-Deutschen kommt das vor allem bei einer seiner Lieblings-Tätigkeiten zugute, also dem Urlaub machen in anderen Ländern, denn dann kann man einfach so über die imaginär gewordenen Grenzen reisen, wenn es sich um EU-Länder handelt. Das gilt aber auch für Arbeitskräfte auf der Suche nach ihrem ganz persönlichen Glück, das weniger was mit Sonne und badewannenwasserwarmen Mittelmeer zu tun hat, sondern mit Staaten, denen es ökonomisch besser geht als dem, aus dem diese Menschen weg gehen. 

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Anderthalb Schritte vor, ein Schritt zurück? Die Regelungen zum flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn im Koalitionsvertrag

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 18. Legislaturperiode trägt den Titel „Deutschlands Zukunft gestalten“. Besonders umstritten waren und sind Fragen den Arbeitsmarkt betreffend, denn bereits im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen wurde die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde seitens der SPD als conditio sine qua non für den erfolgreichen Abschluss eines Vertrages in den politischen Raum gestellt. Nunmehr liegt er also vor, der große Koalitionsvertrag und damit haben wir die Möglichkeit wie die Verpflichtung, einmal genauer hinzuschauen. Und neben dem Mindestlohn gibt es weitere arbeitsmarktliche Baustellen, vor allem bei der Leiharbeit und den Werkverträgen, die es in diesem Kontext zu analysieren und – soweit man das zum jetzigen Zeitpunkt angesichts der „Koalitionsvertragslyrik“ überhaupt leisten kann – auch zu bewerten gilt.

Beginnen wir mit dem Mindestlohn, konkreter in seiner von der SPD gleichsam als Vorbedingung für das gemeinsame Regieren geforderten Form als flächendeckender, gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde. Kommt er? Die Antwort nach einem Blick in den Koalitionsvertrag muss so ausfallen: Im Prinzip ja, aber. Diese Antwort-Kategorie mit ihrer Anlehnung an das Radio-Eriwan-Prinzip ist natürlich auf der einen Seite eine gemein daherkommende Überspitzung angesichts der Tatsache, dass man das Ergebnis durchaus als einen großen Durchbruch angesichts der bisherigen Widerständigkeit gegen einen gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn als solchen sowie den heftigen, aggressiven Angriffen aus Teilen der Wirtschaft wie auch aus dem Mainstream der deutschen Wirtschaftswissenschaften gegen die vorgesehene Höhe von 8,50 Euro pro Stunde bewerten kann. Auf der anderen Seite bildet die „Im Prinzip ja, aber“-Formel genau das ab, was wir dazu im vorliegenden Vertragstext finden:

»Zum 1. Januar 2015 wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet gesetzlich eingeführt. Von dieser Regelung unberührt bleiben nur Mindestlöhne nach dem AEntG.« (S. 68)

Erster Befund: Der Mindestlohn wird kommen und das auch in der geforderten Höhe von 8,50 Euro. Aber erst zum 01.01.2015. Damit hat man schon mal das gesamte kommende Jahr „gewonnen“ für eine „mindestlohnfreie“ Zeit. Das bedeutet im Ergebnis aber auch, dass es keine 8,50 Euro pro Stunde von heute sein werden, denn nominal 8,50 Euro 2015 werden real keine 8,50 Euro des Jahres 2013 sein können. Außerdem ergibt sich eine weitere Einschränkung aus der Formulierung im Vertrag, dass „nur Mindestlöhne nach dem AEntG“ unberührt bleiben von der Einführungsvorschrift. Damit sind die Branchenmindestlöhne gemeint. Hier lohnt allerdings ein genauerer Blick auf die dort fixierten Branchenmindestlöhne, die nach dem AEntG allgemein verbindlich erklärt worden sind. Denn es gibt hier einige Branchen-Mindestlöhne, die unter der angeblich „nicht-verhandelbaren“ Lohnschwelle von 8,50 Euro pro Stunde liegen – und die betreffen bis auf eine Ausnahme immer Ostdeutschland:

  • In der Gebäudereinigung liegt der Mindestlohn (LG1) derzeit bei 7,56 Euro, Ab dem 01.01.2014 werden es 7,96 Euro sein und eine weitere Anhebung auf 8,24 Euro ist für den 01.01.2015 vorgesehen.
  • In der Pflegebranche liegt der Mindestlohn in den ostdeutschen Bundesländern bei 8,00 Euro.
  • Bei den Sicherheitsdienstleistungen liegt der Mindestlohn derzeit bei 7,50 Euro, hier nicht nur in Ostdeutschland, sondern ebenfalls in zahlreichen westdeutschen Bundesländern (Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein usw.)
  • Und schlussendlich haben wir noch die Leiharbeit, wo erst vor kurzem die Gewerkschaften einen neuen Tarifvertrag abgeschlossen haben mit den Arbeitgebern der Branchen: Während für Westdeutschland ab dem kommenden Jahr ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gelten wird, sieht der Tarifvertrag für Ostdeutschland nach unten abweichende Regelungen vor:  Ab dem 01.01.2014 werden es dort 7,86 Euro sein, ab dem 01.04.2015 dann 8,20 Euro und die heute geforderten 8,50 Euro werden nach diesem Tarifwerk erst am 30.06.2016 erreicht sein.

Nun könnte man an dieser Stelle argumentieren, dass über diesen Weg eine auch von grundsätzlichen Befürwortern eines gesetzlichen Mindestlohns bei der Diskussion über die konkrete Einstiegshöhe von 8,50 Euro ins Spiel gebrachte abweichende Übergangsregelung für Ostdeutschland realisiert wird aufgrund der vielen Niedriglohnbranchen dort, um schockartige Anpassungsprozesse mit größeren Arbeitsplatzverlusten zu vermeiden oder abzumildern. Allerdings ist das keine zeitlich eng befristete regionale Differenzierung einer allgemeinen Lohnuntergrenze, sondern wir sind hier konfrontiert mit unterschiedlich niedrigeren Mindestlöhnen in einigen Branchen, die es in der Vergangenheit unter den Schutzschirm des Arbeitnehmerentsendegesetzes geschafft haben.

Aber die weiteren Formulierungen im Koalitionsvertrag verkomplizieren die Situation sogar noch, denn nach dem bereits zitierten Passus mit der grundsätzlichen Einführungsvorschrift zum 01.01.2015 unter Herausnahme der behandelten Branchenmindestlöhne nach AEntG werden weitere Ausnahmetatbestände aufgeführt – und die nun wieder nicht differenziert nach West und Ost:

»Tarifliche Abweichungen sind unter den folgenden Bedingungen möglich:
• Abweichungen für maximal zwei Jahre bis 31. Dezember 2016 durch Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Branchenebene
• Ab 1. Januar 2017 gilt das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau uneinge- schränkt.
• Zum Zeitpunkt des Abschlusses der Koalitionsverhandlungen geltende Tarifverträge, in denen spätestens bis zum 31. Dezember 2016 das dann geltende Mindestlohnniveau erreicht wird, gelten fort.
• Für Tarifverträge, bei denen bis 31. Dezember 2016 das Mindestlohnniveau nicht erreicht wird, gilt ab 1. Januar 2017 das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau.
• Um fortgeltende oder befristete neu abgeschlossene Tarifverträge, in denen das geltende Mindestlohniveau bis spätestens zum 1. Januar 2017 erreicht wird, eu- roparechtlich abzusichern, muss die Aufnahme in das Arbeitnehmerentsendegesetz (AentG) bis zum Abschluss der Laufzeit erfolgen.«

In der einfachen und zusammenfassenden Übersetzung bedeutet das: Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn in Höhe von (dann) 8,50 Euro pro Stunde kommt definitiv – am 01.01.2017. Dann uneingeschränkt. Bis dahin – also während der kommenden drei Jahre – können aber Tarifvertragspartner in bestimmten Branchen, wenn sie denn wollen, Abweichungen nach unten vornehmen.

Jetzt ist es aber genug mit den Ausnahmen – oder doch nicht? Nein, nicht ganz, denn ein weiterer, überaus flexibel gehaltener Passus findet sich zum Thema Mindestlohn im Koalitionsvertrag:

»Wir werden das Gesetz im Dialog mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern aller Bran- chen, in denen der Mindestlohn wirksam wird, erarbeiten und mögliche Probleme, z. B. bei der Saisonarbeit, bei der Umsetzung berücksichtigen.«

Das zielt nun eben nicht nur auf die Saisonarbeit, besonders relevant für die Landwirtschaft mit ihren zumeist osteuropäischen Saisonkräften, deren Herausnahme aus dem „flächendeckenden“ gesetzlichen Mindestlohn offensichtlich über diese Formulierung vorbereitet wird. Sondern die Saisonkräfte stehen dort nur als ein Beispiel für die grundsätzliche Bereitschaft, mit allen Branchen im Gesetzgebungsverfahren zum Mindestlohn über dann vorgetragene Probleme einer Mindestlohnimplementierung zu sprechen und deren Spezifika falls notwendig auch zu „berücksichtigen“, was immer das bedeutet.

Fazit: Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn kommt – in Höhe von (dann) 8,50 Euro definitiv zum 01.01.2017. Zwischenzeitlich gibt es Abweichungsspielräume nach unten und überhaupt wird man noch über vieles reden wollen müssen.

Eine harte Packung: Ungleichheit und soziale Polarisierung im Spiegel neuer Zahlen

Es gibt sie, diese Tage, an denen man förmlich bombardiert wird mit Zahlen und Aussagen, die auf fundamentale gesellschaftliche Entwicklungslinien verweisen. So ein Tag fängt beispielsweise an mit einer solchen Botschaft: Das Statistische Bundesamt bringt es in der für die Bundesstatistiker so typisch trockenen Art und Weise, aber zugleich absolut zutreffend schon in der Überschrift der Pressemitteilung über den neuen „Datenreport 2013“ auf den Punkt: „Mehr Jobs, aber auch mehr Armut„. Die Süddeutsche Zeitung titelt dazu: ”Reiches Deutschland, armes Deutschland“ und Spiegel Online gar: „Arme Deutsche sterben früher„. Eine Zusammenfassung einiger ausgewählter Aspekte aus dem neuen „Datenreport 2013“ kann man auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ nachlesen.

Aber damit noch nicht genug: „Deutschland vernachlässigt arme Rentner„, so berichtet Spiegel Online über eine neue OECD-Studie, die Online-Ausgabe der Welt überschreibt einen Artikel dazu mit: „Geringverdiener bekommen ein Rentenproblem„. Was ist hier los?

Die OECD hat eine neue Studie vorgestellt, aus der wir für Deutschland die folgende Perspektive entnehmen können: Nach derzeitigem Stand würden „die Rentenbezüge für Menschen mit verhältnismäßig kleinem Gehalt gegen Mitte dieses Jahrhunderts so niedrig sein wie in kaum einem anderen OECD-Land“, sagte die Leiterin der Abteilung für Sozialpolitik, Monika Queisser. Die Ökonomen der OECD analysieren die Lebensstandardänderung beim Eintritt in den Ruhestand. Die wird gemessen an den so genannten „Ersatzraten“:

»Sie zeigen an, wie hoch die Bezüge von Rentnern im Verhältnis zu ihrem früheren Einkommen in Zukunft liegen werden. Im Schnitt aller 34 Länder liegt die Rate bei 54 Prozent des Bruttoeinkommens. Wer in Deutschland 2012 zu arbeiten beginnt und sein Leben lang Rentenbeiträge zahlt, kann laut OECD später 42 Prozent seines durchschnittlichen Bruttoeinkommens erwarten. Das ist nicht einmal halb so viel wie beim Spitzenreiter Niederlande, der auf eine Ersatzrate von stolzen 89 Prozent kommt.«

Immerhin bekommt man in Deutschland mehr als in Großbritannien, wo Durchschnittverdiener nur knapp ein Drittel ihres früheren Einkommens erhalten.

Allerdings: Das sind die Durchschnittswerte. Und die Daten für die Geringverdiener zeigen für Deutschland ein weitaus schlechteres Bild:

»Deutlich schlechter sieht der Vergleich jedoch bei Geringverdienern aus, die nur über die Hälfte des durchschnittlichen Einkommens verfügen. Sie erhalten laut Studie in den meisten OECD-Ländern deutlich höhere Ersatzraten als Durchschnittsverdiener und werden somit vor Altersarmut geschützt. In Dänemark bekommen Niedrigverdiener 121 Prozent ihres früheren Einkommens, in Israel sind es 104 Prozent. Ganz anders in Deutschland: Hier erhalten Geringverdiener genauso wie der Durchschnitt nur 42 Prozent ihres Einkommens. Damit landet Deutschland noch hinter Polen (49 Prozent) auf dem letzten Platz.«

Nun wird an dieser Stelle immer wieder kritisch angemerkt, dass der Lebensstandard nicht nur von der Rente abhängig sei, sondern beispielsweise auch von Vermögenstatbeständen wie dem Besitz eines Hauses oder einer Eigentumswohnung. Doch auch da sieht es im internationalen Vergleich für einen Teil der in Deutschland lebenden Menschen nicht gut aus:

»So profitiert nur jeder zweite Deutsche im Ruhestand vom eigenen Haus oder der eigenen Wohnung. Im OECD-Schnitt sind es dagegen 76 Prozent.«

Und auf die immer wieder beschworenen Umverteilungseffekte staatlicher Leistungen kommen nicht berauschend daher:

»Staatliche Leistungen erhöhen das Einkommen der deutschen Rentnergeneration um durchschnittlich 30 Prozent, zehn Prozentpunkte unter dem OECD-Schnitt.«

Derzeit – gleichsam als Folgewirkung der „alten“ Erfolgsstory Rentenversicherung steht Deutschland nicht gut da beim Thema Altersarmut. Allerdings:

»Der (neue) Datenreport 2013 zeigt aber, dass die Armutsgefährdung gerade bei älteren Deutschen in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat.«

Die OECD weist darauf hin, dass viele Länder anders als Deutschland die Geringverdiener bei ihren Sparbeschlüssen verschont haben.

Was zu tun wäre? Ein relativ naheliegendes Konzept wäre die Besserstellung der Geringverdiener in der Rentenversicherung. Also eine stärkere Umverteilung innerhalb der Rentenversicherung. Wir hatten in der Vergangenheit solche Umverteilungselemente, die mittlerweile abgeschafft worden sind, beispielsweise die Rente nach Mindesteinkommen. Eine Mindestrente wäre die logische Antwort auf diese Entwicklungen. Beispielsweise.

Selbstverständlichkeiten, die erodieren: Die häusliche Pflege

Immer noch werden weit mehr als eine Million pflegebedürftige Menschen alleine zu Hause gepflegt –  von den Angehörigen und hierbei ganz überwiegend von den Frauen. Von den Ehefrauen, Lebenspartnerinnen, Töchtern, Schwiegertöchtern. Würden diese Frauen oder nur ein erklecklicher Teil von ihnen ihre Pflege- und Sorgearbeit einstellen, binnen Stunden würde das deutsche Pflegesystem kollabieren. Nun gibt es seit langem Hinweise darauf, dass das, was Soziologen etwas verquast „gesellschaftlichen Werte- und Strukturwandel“ nennen, auch Auswirkungen hat und haben wird auf die Pflegebereitschaft der Angehörigen.

Zum einen fordert die zunehmende Mobilität und die damit oftmals verbundene räumliche Entfremdung ihren Tribut, dann kann man gar nicht pflegen, auch wenn man wollte. Zum anderen sinkt aus unterschiedlichen Gründen auch die Bereitschaft, beispielsweise die eigene Berufstätigkeit zu unterbrechen oder gar ganz aufzugeben.

Der Beitrag „Ist häusliche Pflege noch zu retten?“ liefert einige Zahlen zu diesem sensiblen Thema. Die Daten kommen von der Deutschen Rentenversicherung, den der Staat unterstützt unter bestimmten Bedingungen die Pflege der Angehörigen durch eine Berücksichtigung bei der Rente der Pflegepersonen. Wieder einmal liegt die notwendige Betonung auf „unter bestimmten Bedingungen“, wobei das im vorliegenden Fall überschaubar daherkommt: Für die psychisch und körperlich sehr belastende Tätigkeit bekommen die „Pflegepersonen“ Pluspunkte in der Rentenversicherung gutgeschrieben. Einzige Voraussetzungen: Die Pflege nimmt mindestens 14 Stunden pro Woche in Anspruch, und die Pflegeperson übt neben der Pflege höchstens noch 30 Stunden wöchentlich eine andere Erwerbstätigkeit aus. Sie darf selbst noch keine Altersrente beziehen.

Die Daten der Rentenversicherung sollten uns nachdenklich stimmen:

»Aktuellen Angaben der Rentenversicherer zufolge sank die Zahl der Pflegenden, die sich mindestens 14 Stunden wöchentlich um pflegebedürftige Angehörige, Freunde oder Nachbarn kümmern, zwischen 1999 und 2011 von knapp 512.000 auf nur noch 385.000 – ein Rückgang um fast 25 Prozent. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass vor allem gut gebildete Beschäftigte besonders häufig einen Bogen um die psychisch und physisch sehr belastende Arbeit als Pflegeperson machen.«

Die Zahl der häuslich Pflegenden, deren spätere Rente sich aufgrund ihrer Pflege erhöht, sinkt seit Ende der 90er-Jahre kontinuierlich. Ein wesentlicher Grund dafür dürften nach Einschätzung von Experten neben der zunehmend geforderten beruflichen Mobilität der potenziell Pflegenden die relativ geringen Rentenansprüche sein, die aus der Pflege erwachsen.
Den letzten Punkt muss man einmal besonders herausstellen:

»So steigert ein Jahr Pflege eines Angehörigen, der vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen in Pflegestufe II eingruppiert wurde und mindestens 21 Stunden Pflege pro Woche benötigt, die Rente derzeit um monatlich gerade einmal 14,25 Euro in den alten und 12,94 Euro in den neuen Ländern.
In der Praxis steigert die aufopferungsvolle Arbeit für die Angehörigen die Rente sogar nur um die Hälfte. Denn mehr als 62 Prozent der häuslich Gepflegten in der sozialen Pflegeversicherung sind in Pflegestufe I eingruppiert und werden höchstens 20 Stunden wöchentlich gepflegt.«

Wie nennt man so etwas? Almosen.

Wer zu der gesamten Thematik mehr und genauere Informationen haben möchte, der sei hier auf die folgende Studie verwiesen, die im Forschungsnetzwerk Alterssicherung entstanden ist:

Rainer Unger / Heinz Rothgang: Auswirkungen einer informellen Pflegetätigkeit auf das Alterssicherungsniveau von Frauen (FNA-Journal Heft 4/2013).